Kapitel 30 - Hoher Besuch
Die Müdigkeit musste mich schließlich übermannt haben, denn ich schlief auf dem Sofa ein. Seltsame Träume vermischten sich mit Erinnerungsfetzen aus meiner Kindheit...
Am Morgen nachdem der Graf mir den Auftrag gegeben hatte, Boris Valerious ausfindig zu machen, wurde ich von einer Kutsche nach Hause gebracht. Meine Brüder waren furchtbar aufgeregt. Sie hatten mich die ganze Nacht lang gesucht und sich große Sorgen gemacht. Als auch noch die Leiche von Barak entdeckt wurde, hatten sie befürchtet, mir wäre etwas Ähnliches zugestoßen. Die erwarteten Schelte von Andrei blieben aus. Er war viel zu erleichtert, dass ich wieder aufgetaucht war.
Leider hatten sie die Kutsche nicht gesehen, aus der ich ausgestiegen war und so glaubten sie mir zuerst natürlich kein Wort von dem was ich erzählte. Wobei ich allerdings den Teil mit Barak ausließ. Es widerstrebte mir, die Erinnerung an dieses Ereignis noch einmal heraufzubeschwören. Und außer meinem Meister sollte es auch nie jemand erfahren. Es war das erste Geheimnis, das ich vor meinen Brüdern hatte.
Allerdings hatte ich weitere überzeugende Beweise. Um auf unserer Suche aus allen Quellen schöpfen zu können, hatte der Meister mir einen großzügigen Vorschuss auf unsere Belohnung mitgegeben, den Andrei, Laszlo und Fredek mit großen Augen bestaunten. Fredek lachte erst und meinte, das hätte ich wohl "irgend nem reichen Opa gestohlen", aber Andrei brachte ihn zum Schweigen. Er hatte den Ernst in meinen Augen gesehen und glaubte mir schließlich.
Es wurde fast einstimmig beschlossen, von dem Geld erst einmal ganz viel Kuchen zu kaufen. Fast einstimmig, weil ich bereits im Schloss gefrühstückt hatte und pappsatt war. Marishka hatte in Ermangelung der Kenntnisse was ein Kind so zum Frühstück braucht und aus Angst sie könnte den Grafen verärgern anscheinend eine halbe Bäckerei ausgeraubt. Zumindest kam es mir so vor.
Nachdem meine Brüder sich also mit Kuchen versorgt hatten und nun fleißig am Futtern waren, überlegte ich bereits, wo man einen Fremden auf der Durchreise wohl am ehesten finden mochte. Der Graf hatte mir eine recht genaue Beschreibung gegeben anhand derer ich mir durchaus zutraute Boris Valerious zu erkennen. Zuerst einmal waren da natürlich alle Orte, wo man Unterkunft finden konnte. Aber der Meister hatte Valerious auch als "König der Zigeuner" bezeichnet. Wenn er wirklich ein König oder ein ähnlich hochrangiger Mann war, würde dass die Wahl seiner Unterkunft sicher beeinflussen. Außerdem gab es noch die Stadttore. Allerdings war es keine gute Idee, sich dort allzu lange aufzuhalten. Viele der Wachen kannten unsere Gesichter und wir würden ihnen mit Sicherheit auffallen.
Blieb noch die ergiebigste aller Quellen: Tratsch. Es war sicher keine schlechte Idee sich bei den Waschfrauen umzuhören, die immer über die tagesaktuellen Ereignisse schwatzten und meist recht gut informiert waren wer wann die Stadt besuchte, sofern es um bekannte Persönlichkeiten ging. Ich war recht zuversichtlich, bald einen Anhaltspunkt zu haben. Diese neugewonnenen Erkenntnisse teilte ich auch mit meinen Brüdern die mir zustimmten und, bestochen durch den Kuchen und die Aussicht auf mehr, sofort bereit waren mitzusuchen. Andrei hatte noch ein paar Ideen wo er etwas würde erfahren können. Es gab eine Kneipe in der sich die Droschkenfahrer am Ende des Arbeitstages trafen und über ihre Gäste plauderten. Auch dort waren eventuell Spuren zu entdecken.
So begannen wir unseren Auftrag nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen. Jeder tat sein Möglichstes, aber es war schwerer als wir erwartet hatten. Dadurch, dass wir nicht wussten WANN Valerious in die Stadt kommen würde und auch sonst offenbar noch niemand davon gehört hatte fehlte uns ein wichtiger Anhaltspunkt. An einem Abend, an dem wir wieder einmal erfolglos von unserer Suche heimkehrten, konnten wir durch die Fenster unseres Zuhauses Kerzenlicht schimmern sehen. Beklommen blickten wir einander an. Es war schon häufiger vorgekommen, dass ältere Kinder oder gar Erwachsene versucht hatten sich unsere Bleibe anzueignen. Es war zwar wirklich kein Ort an dem man freiwillig aufwachsen wollte... aber es hatte immerhin ein Dach und Türen, die einen halbwegs vor der Kälte schützten. Und das hatte nicht jeder.
Bis jetzt hatte Andrei sie jedoch immer wieder vertreiben können, in dem er sich laut schreiend wie ein Wahnsinniger mit einem Messer auf die Eindringlinge stürzte. Vermutlich hätten sie ihn ohne große Schwierigkeiten überwältigen können, aber der wilde Ausdruck in seinen Augen und sein Geschrei hatten sie glauben lassen, er wäre vom Teufel oder sonst einem Dämon besessen und so hatte bis jetzt noch jeder das Weite gesucht.
"Ihr bleibt hier und versteckt euch. Und seid leise." Andrei schlich an die Tür heran, riss sie auf und stürzte sich mit dem uns wohlbekannten Schreien in das Zimmer. Allerdings erstarb sein Schrei fast augenblicklich wieder und wir begannen zu zittern. Dieser Eindringling hatte sich wohl nicht abschrecken lassen. Wir waren uns einig, dass wir Andrei nicht im Stich lassen würden und so stürmten wir hinterher.
"Sieh mal einer an... da kommt deine Rettung."
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Das Bild, das sich mir bot war so unwirklich. Andrei stand wie in der Bewegung erstarrt mitten im Zimmer, die Augen weit aufgerissen. Sein Mund war ebenfalls geöffnet, aber man hörte keinen Ton. Das Messer steckte vor seinen Füssen im Boden. Dahinter stand der Graf der uns amüsiert anlächelte. In diesem Augenblick lies Andrei die Arme sinken und stolperte verwirrt rückwärts auf uns zu.
"Tut mir Leid Junge, aber ich schätze es nicht, wenn man versucht meine Kleidung zu durchlöchern."
Andrei schenkte ihm einen giftigen Blick, erwiderte jedoch nichts. Dann wandte der Graf sich an Laszlo. "Wie geht es deinem Hals?" Das amüsierte Lächeln wich nicht von seinen Lippen. Laszlo fuhr sich unangenehm berührt mit der Hand über die Kehle als könne er den Druck dort plötzlich wieder spüren. Schließlich fiel sein Blick auf mich. "Paliki." Er winkte mich zu sich und ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden als meine Brüder mich anstarrten. Langsam trat ich auf ihn zu. Der Graf setzte sich auf einen der zusammengeflickten Stühle die um unseren Tisch standen und bedeutete mir, mich ebenfalls zu setzen. Meine Brüder blieben in der Nähe der Tür stehen. Immer flucht- oder angriffsbereit. Je nachdem was erforderlich wäre.
"Nun Paliki, was kannst du mir berichten?"
"Leider nicht viel, Herr."
"Und was ist 'nicht viel'?"
"Naja... so... mehr oder weniger... gar nichts." Ich lies den Kopf hängen und meine Stimme war sehr leise geworden, trotzdem zweifelte ich nicht daran, dass er mich verstand. Er zog eine Augenbraue hoch.
"Gar nichts? Das ist in der Tat nicht viel."
Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und ich wartete auf ein Donnerwetter. Ich erinnerte mich noch sehr gut an seine Worte: Ich bin kein Mann von großer Geduld. Plötzlich mischte Andrei sich ein.
"Es ist nicht ihre Schuld. Wir haben alle gesucht, an allen Orten die uns nur eingefallen sind, wir haben wirklich alles getan was..."
"Schweig!" Die Stimme des Grafen zerschnitt eisig die Luft und ich zuckte zusammen. Andrei war ebenfalls erschrocken und sofort verstummt. Sein Blick aber zeugte von der Wut die in ihm brodelte. Als er weitersprach war der Graf wieder zu seiner üblichen ruhigen Tonlage zurückgekehrt.
"Ich zweifle nicht an euren Bemühungen." Jetzt blickte er mich wieder direkt an. "Aber ich messe nun mal nicht an Bemühung, sondern an Erfolg. Das ist dir doch klar?"
Ich nickte.
"Also gut. Es werden nur noch wenige Tage vergehen bis er hier in der Stadt eintrifft. Und er wird nicht lange bleiben. Ich muss wissen wo er übernachtet. Das ist sehr wichtig. Ich möchte nur ungern feststellen müssen, dass ich mich in deinen Fähigkeiten getäuscht habe."
"Ich finde ihn ganz bestimmt für euch Herr, versprochen! Und wenn ich durch die ganze Kanalisation von Budapest kriechen muss!"
Dieser spontane Ausbruch kindlichen Eifers meinerseits brachte ihn zum Lachen. Er fuhr mir mit einer Hand durchs Haar. "Davon bin ich überzeugt."
Schließlich erhob er sich. "Wenn du etwas erfährst, lässt du mir augenblicklich eine Nachricht zukommen." Mit diesen Worten drückte er mir noch mehr Geld in die Hand. Dann zögerte er plötzlich. "Kann überhaupt jemand von euch schreiben?" Wir schüttelten etwas verdrießlich die Köpfe. Er atmete tief durch. "Na schön... schick einfach nur einen Boten zu mir, der mir ausrichtet wo du bist. Dann komme ich bei Einbruch der Dunkelheit zu dir."
"Ja Herr. Bestimmt werden wir bald etwas herausfinden."
"Leb wohl Paliki."
Ohne meine Brüder, die vor ihm zurückwichen, eines weiteren Wortes zu würdigen, verlies der Graf uns. Als er aus der Tür war, atmeten sie hörbar erleichtert auf.
"Mein Gott... wer ist das?" fragte Andrei tonlos.
"Ich hab euch doch erzählt wer er ist." antwortete ich verständnislos.
"Du hast uns zwar erzählt WER er ist... aber nicht WAS er ist."
Authors Note:
Tjaja, erst hat's ewig gedauert und nu hab ich wieder nen Lauf. #g# Ich glaube das hier ist das bisher längste Kapitel dieser Geschichte. Und ich widme es meiner lieben Illustratorin Luise die auf einen weiteren Rückblick bestanden hat um noch mehr Klein-Paliki / Dracula-Bildchen zeichnen zu können. An diesem und dem folgenden Kapitel wird sie sich austoben können. #smile#
