"Es hat aufgehört zu bluten."
Als Jack diese Worte hörte, konnte er endlich seinen Blick von Anas Gesicht lösen, und er sah nun den Sprecher dieser Worte an. Er war der Einzige der Crew, der zumindest ansatzweise etwas von Medizin und Wunden verstand, und dessen Hilfe sie immer mal wieder benötigten. Doch bisher noch nie bei Ana, und nicht in diesem Ausmaß, und es war für beide eine seltsame Situation.
Der Pirat hatte schwer geschluckt, als er Anas Hemd aufknöpfen musste, und hatte peinlichst darauf geachtet, nicht zuviel zu enthüllen. Mit Bills Hilfe hatte er Ana aufgesetzt und ihr einen Verband angelegt. Dabei hatten sie alle gesehen, dass die Kugel in ihre rechte Schulter eingedrungen war und sie auch wieder verlassen hatte. Sie wussten, dass dies besser war, als wenn die Kugel stecken geblieben wäre, auch wenn sie eine solche Zerstörung angerichtet hatte, dass Jack kaum hinsehen konnte. Doch dann hatten sie Ana auf den Rücken gelegt, Bill hatte die Kajüte verlassen, um nach Will zu sehen, und Jacks Blick war von ihrem Gesicht eingefangen worden.
Jack hatte ihr Gesicht noch nie so fahl und eingefallen gesehen. Es erinnerte ihn an das Zeichen auf der schwarzen Piratenflagge und rief ein Gefühl in seinem Inneren hervor, das er noch nie gespürt hatte und ihn zu Tode erschreckte.
"Heißt das, sie wird es überstehen?" Der Pirat hatte gerade wieder einmal ihren Verband kontrolliert, und erwiderte nun Jacks Blick. Seine Hände und sein Hemd waren voller Blut, was nicht ungewöhnlich für einen Piraten war, aber der Gedanke, dass dies Anas Blut war, jagte Jack einen Schauer über den Rücken. Verdammt, was war denn nur los mit ihm?
"Das heißt nur, dass sie nicht sofort sterben wird." Seine Ehrlichkeit war verblüffend und spiegelte sich in seinen Augen wider, die dann einen traurigen Blick auf seine blutverschmiereten Hände warfen. "Sie wird kein Blut mehr verlieren, aber ich weiß nicht, ob sie schon zuviel verloren hat, oder ob sich die Wunde entzünden wird. Aber ich bin mir sicher, dass sie es schaffen wird, wenn sie die Nacht übersteht."
Der rationale Teil von Jack erkannte nun, dass es wirklich nicht gut aussah, während der Rest tatsächlich hoffte, dass ihm hier Seemannsgarn erzählt worden war, oder der Pirat einfach nur wie jeder Andere übertrieb. Sein Blick huschte wieder hinüber zu Anas Gesicht und blieb dort hängen, obwohl nun jemand hereinkam und den anderen Piraten mit sich nahm.
Erst Sekunden später realisierte Jack, dass die Worte "Welpe" und "verletzt" gefallen waren, und er sah kurz zur Tür, die jetzt wieder geschlossen war und die restliche Welt auszuschließen schien. Das war ihm im Moment nur recht, und er setzte sich auf den nun freien Stuhl und beobachtete Ana weiter.
Kaum merklich und viel zu selten hob sich ihr Brustkorb, ihre Augen lagen in tiefen Höhlen, und ihr Hals war voller Blut. Das Einzige, was er für sie tun konnte, war, dieses Blut abzuwaschen, und so nahm er eins von den vielen Stoffetzen, die hier verstreut herumlagen, tauchte es in das ebenfalls schon rote Wasser der Waschschüssel und versuchte so, das Blut an ihrem Hals zu entfernen. Er scheiterte kläglich, aber bewirkte etwas ganz anderes.
Plötzlich nahm Ana eine tiefen Atemzug, öffnete die Augen und gab die Luft hustend wieder frei. Dabei bäumte sie sich auf, aber Jack drückte ihre gesunde Schulter zurück auf das Kissen, denn jede Bewegung würde ihr nur noch mehr Schmerzen bereiten.
Der Husten quälte sie noch eine Weile, und Jack ließ sie nicht los, bis der Husten vorbei war und sich ihr Atem wieder beruhigt hatte. Während der ganzen Zeit hatte er nie den Blick von ihren Augen genommen, auch nicht, als sie nun den Blick erwiderte. Ihnen fehlte jetzt das Feuer, das sie öfter dazu getrieben hatte, ihm eine Ohrfeige zu geben, als er zählen konnte, und das er jetzt schmerzlich vermisste.
Nur langsam lockerte er seinen Griff um ihrer Schulter. Er wollte seine Hand zurückziehen, aber sie machte sich selbständig, fuhr ihren Arm entlang und stoppte dann bei ihrer Hand, um sie sanft zu drücken. Ana sah kurz zu ihrer Hand, die seine genauso drückte. Ihr Blick war dann voller Fragen, als er seinen wieder traf.
"Du wirst diese Nacht überstehen, savvy?" Dies war eigentlich als Befehl gemeint, aber diese Worte verließen seinen Mund auch mit einem Hauch von Besorgnis, dem Versuch einer Aufmunterung und einem Versprechen, dass alles wieder gut werden würde. Doch wo kam das her, verdammt noch mal?
"Aye, Captain." Anas Antwort kam sofort und war kaum mehr als ein Flüstern. Sie wusste selbst nicht, woher sie die Kraft dafür nahm, aber sie wusste, dass Jacks Anwesenheit zumindest etwas dazu beitrug. Er brachte immer Gefühle in ihr hervor, ob es nun gute oder schlechte Gefühle waren, aber es waren Gefühle, die ihr zeigten, dass sie noch lebte.
"Psst, streng dich nicht an!" Jack legte ihr einen Finger auf den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen, aber er lag immer noch dort, als sie schon längst nichts mehr sagte. Er musste blinzeln und nahm ihn schnell wieder weg, doch das leichte Grinsen in ihren Augen entging ihm nicht. Also warf er das feuchte Tuch zurück in die Schüssel und hoffte, dass Ana ihn nicht darauf ansprechen würde.
"Was ist mit den anderen?" Ana nutzte die Gelegenheit, um eine neues Thema anzusprechen, und dass sein Finger nicht mehr auf ihrem Mund lag, half ihr dabei auch. Auch wenn ihr das irgendwie gefallen hatte. Und auch erschrocken. Genau wie sein Blick, mit dem er sie betrachtet hatte. Er war voller Sorgen um sie, aber auch viel milder als sonst. Es stand wohl nicht gut um sie.
"Sie sind alle an Bord. Und es geht ihnen gut." Immer noch hing sein Blick an dem Tuch, das jetzt in der Schüssel schwamm, denn er wagte es nicht, sie anzusehen, während er sie anlog. Denn er hatte überhaupt keine Ahnung, was mit den Anderen war. Er konnte sich nur schwach erinnern, dass Ana fast als Letzte, und die Anderen mit eigener Kraft an Bord gekommen waren. Nun gut, dann ging es ihnen wohl doch gut. Seine Gedanken hingen viel zu sehr an ihr fest, als dass er sie mit der Sorge um seine Crew verschwenden würde.
Ana hingegen hatte sehr wohl erkannt, dass dies die typische Sorg-dich-jetzt-nicht-um-Andere-Antwort war, und wahrscheinlich auch eine Lüge, aber das war ihr auch egal. Sie fühlte sich unglaublich schwach, viel schwächer als jemals zuvor, und ahnte, dass ihr Lebensfaden verdammt dünn war. Warum sollte sie sich dann um Andere sorgen? Die Crew, das Schiff und der Rest der Welt war ihr total egal, aber irgendwie schaffte es der Mann vor ihr, dass sie sich Sorgen um ihn machte. Sie sah ihm an, dass ihr Zustand auch ihm Schmerzen bereitete, und das war das Letzte, das sie wollte.
So nahm sie jetzt seine Hand, um ihn zu beruhigen. Oder weil sie es im Moment selbst brauchte? Auch egal, das würde jetzt auch keinen Unterschied mehr machen. Denn die Folge davon wäre immer die selbe gewesen. Jack sah sie nämlich nun überrascht an, doch er ließ sie auch nicht wieder los. Also gefiel es ihm auch, was nun auch das Lächeln auf seinem Gesicht sagte. Würde sie es jetzt wirklich zum letzten Mal sehen? Nein, sie würde dagegen ankämpfen...Aber was war, wenn sie diesen Kampf verlieren würde?
Plötzlich wurde ihr klar, dass es noch viele Dinge gab, die sie unbedingt noch tun musste, und eines davon war, dass sie ihre Hand nun zu seinem Gesicht hob und es sanft streichelte. Normalerweise hätte Jack das nie zugelassen und eine Ohrfeige erwartet, doch hier und jetzt bedeckte er ihre Hand mit seiner, damit er ihre Berührung so lange wie möglich spüren konnte.
Er hielt ihren Blick weiter fest, aber als ihre Lider anfingen zu flattern, wusste er, dass sie den Kampf gegen die Müdigkeit verlieren würde. Dies war wohl seine letzte Chance, die er unbedingt nutzen wollte, und so beugte er sich zu ihr hinunter. Seine Lippen waren nur noch Millimeter von ihren entfernt, als ihr Kopf zur Seite wegkippte, und sie eingschlafen war.
Er seufzte und gab ihr so nur einen Kuss auf die Wange, bevor er sich wieder erhob und sie zudeckte. Dies würde eine lange Nacht werden, und er würde sie in dem Stuhl an ihrer Seite verbringen. Was auch immer geschehen möge.
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"Da ist sie! Ich habe sie!"
Will war sich nicht sicher, was ihn geweckt hatte, diese Worte oder der Schmerz, der von seiner Hüfte ausging. Auf jeden Fall machten ihn beides klar, dass er wohl ohnmächtig gewesen sein musste. Verdammter Mist!
"Gib sie mir!" hörte er nun eine andere Stimme, die seinem Vater gehörte.
"Gut, gib mir aber dafür das da, ich muss ihn verbinden", antwortete die erste Stimme, und im nächsten Moment spürte er, wie er angehoben und in eine sitzende Haltung gebracht wurde. Noch hatte er es nicht geschafft, die Augen zu öffnen, und er hielt es auch für viel zu anstrengend im Moment. Er begnügte sich damit, einfach nur zu spüren, wie zwei Hände seine Schultern festhielten, während zwei Andere einen festen Verband anlegten.
"Er hat verdammtes Glück gehabt", meldete sich die erste Stimme wieder zu Wort. "Wenn man bedenkt, was die Anderen mir erzählt haben."
"Was haben sie denn erzählt?"
Will wunderte sich etwas über den Klang der Stimme seines Vaters. Sie klang äußerst angespannt, als ob er sofort losrennen würde, um denjenigen zu bestrafen, der auf ihn geschossen hatte. So eine Stimme hatte er schon lange nicht mehr gehört.
"Was genau passiert ist, wussten sie auch nicht, aber nachdem sie die Zellen verlassen hatten, haben sie zwei Wächter auf dem Boden liegen sehen", wurde ihm geantwortet, während Will endlich wieder auf seinen Rücken gelegt wurde. "Einer von ihnen war tot. Erschossen. Aber sie hatten nur einen großen Knall gehört. Wahrscheinlich hatten er und Will gleichzeitig geschossen."
"Das war verdammt leichtsinnig!" Will hörte, wie sich sein Vater etwas entfernte, und öffnete nun seine Augen, um ihn dann am Fenster stehen zu sehen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und bemühte sich offenbar, sich irgendwie zu beruhigen.
"Na, wen haben wir denn da?" sagte da der andere Pirat, der immer noch an seinem Bett saß und seine Utensilien verstaute. Er grinste Will kurz an, nickte Bill zu und verschwand dann leise, aber nicht, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
Will schloss seine Augen kurz wieder, da der Raum irgendwie angefangen hatte zu wanken. Er konzentrierte sich erneut auf das, was er spürte, als er den Verband abtastete. Die Hüfte schmerzte immer noch sehr, und seine Hand ertastete eine Flüssigkeit auf dem Verband.
"Hat es immer noch nicht aufgehört zu bluten?" Erst beim Erklingen dieser Stimme bemerkte Will, dass sein Vater wieder zu ihm gekommen war und auf dem Bett saß. Er öffnete die Augen und sah in sein besorgtes Gesicht, das auf dem Verband ruhte. Genau wie seine Hand, die vorsichtig alles abtastete. Dann sah er ihm in die Augen und lächelte. "Es ist nicht mehr so stark und wird bald aufhören."
Will konnte darauf nichts antworten und sah ihn einfach nur an. Wieder schwirrten diese Fragen durch seinen Kopf, und obwohl es jetzt wohl ein guter Augenblick war, um sie zu stellen, konnte er es einfach nicht. Er schob es darauf, dass er sich im Moment zu schwach dafür fühlte. Auch Bill schien nicht zu wissen, was er jetzt tun sollte, und sah hinüber zum Fenster.
"Weißt du, ich hatte eigentlich vorgehabt aufzuhören." Bills Worte waren leise. So leise, dass Will sie in seinem Halbschlaf beinahe nicht gehört hätte. Auch sah Bill ihn immer noch nicht an, aber wenigstens war er sitzen geblieben. "Ich hatte nur noch darauf gewartet, dass dieses Schiff fertig wird, das jetzt hinter uns her segelt. Aber dann mussten wir unbedingt diesen verfluchten Schatz holen."
"Aufhören? Womit aufhören?" Wills Stimme war noch leiser als die von Bill, aber dieser drehte sich zu ihm um, da er sie sehr gut verstanden hatte.
"Ich wollte kein Pirat mehr sein, Will", antwortete er und hielt dabei Wills Blick stand. "Ich wollte ein eigenes Schiff, eine eigene Crew, und mein Geld wie jeder Andere verdienen. Und wenn ich mir einen Namen als stinknormaler Captain, der ein stinknormales Handelsschiff hat, gemacht hätte, dann, aber wirklich erst dann..." Er war in einen regelrechten Redefluss gefallen, doch jetzt stoppte er plötzlich, doch Will wusste trotzdem, was er sagen wollte.
"Dann wärst du zurück nach England gekommen?" Er war mehr als nur überrascht über seine Worte. Bill hätte wirklich sein Leben ändern wollen, hätte wirklich seinen Piratenhut an den Nagel gehängt und wäre wirklich ein ganz normaler Seemann geworden, wie seine Mutter es ihm gesagt hatte? Aber...
"Warum?"
Bill lachte kurz auf. "Eigentlich wegen deiner Mutter. Obwohl sie auch der Grund war, warum ich nie wieder zurückgekommen bin." Er sah den fragenden Blick seines Sohnes und atmete tief durch. "Es ist nur ein Satz von ihr gewesen, der aber meine ganzes Leben seit dem verändert hat. Sie hatte ihn gesagt, nachdem sie mir an den Kopf geworfen hatte, dass sie herausgefunden hatte, wie ich wirklich das Geld verdient habe. Ich wollte sie fragen, wie sie darauf gekommen war, als sie nur das sagte: Sei ein Pirat oder ein Ehemann und Vater, aber du kannst nicht beides sein! Danach schlug sie mir die Tür vor der Nase zu, und ich habe noch eine Weile dort gestanden, bevor ich dann aber doch gegangen bin. Damals ist es wirklich mein Leben gewesen, ein Pirat zu sein."
Er sah nun Will etwas entschuldigend an, der ihn aber nur anstarrte. In seinem Gesicht war nicht zu lesen, was ihm alles durch den Kopf ging, und so erzählte Bill einfach weiter.
"Ich dachte, ich könnte damit leben, weiterhin ein Pirat zu sein. Und ich dachte, dass es besser für euch ohne mich wäre. Denn irgendwann hätten auch alle Anderen herausgefunden, was nun deine Mutter wusste. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass mich jede Nacht der immer wieder selbe Traum heimsuchen würde." Da musste er plötzlich lächeln, denn es war kein Alptraum, von dem er da sprach. "Ich habe jede Nacht von dem schönsten Moment in meinem Leben geträumt. Dieser eine kleine Moment, als der Arzt mir diese kleine Bündel in den Am gelegt hatte, und mich zwei kleine Augen anschauten."
Er hob seine Arme an, als würde dies jetzt wieder passieren. Dann sah er wieder zu Will, dessen Augenbrauen ganz nach oben gezogen waren. Auch sahen ihn seine Augen nun auf eine ganz andere Art und Weise an, sodass er wieder grinsen musste.
"Ja, genau du!" Wieder musste er lachen, doch sah jetzt zurück zum Fenster. "Es dauerte eine Weile, aber irgendwann hatte ich mich zu der Entscheidung durchgerungen, dass ich dich und deine Muter wiedersehen wollte. Der Wunsch wurde immer größer, bis er sogar noch größer als der Wunsch nach dem Piratensein war. Ich wusste, dass ich mein Leben umkrempeln musste, dass ich die Pearl verlassen und ein gesetzestreues Leben beginnen musste. Denn sonst hätte mich deine Mutter nie wieder in ihr Haus gelassen, doch da wollte ich unbedingt wieder hin. Schnell hatte ich mir einen Plan zurecht gelegt, den Bau des Schiffes in Auftrag gegeben... Aber dann fand ich mich am Grunde des Ozeans wieder, und das Einzige, was mich am meisten daran störte, war die Tatsache, dass ich euch wohl nie wieder sehen würde."
Er verstummte nun, denn er hatte sich alles von der Seele geredet, als Will unbedingt wissen musste. Dabei spürte er ganz genau, dass Will ihn immer noch ansah, doch in diesem Moment konnte er seinen Blick nicht erwidern, zu sehr waren seine Gedanken in der Vergangenheit gefangen. Sie drifteten immer weiter zurück, bis zu dem Moment, als er Wills Mutter zum ersten Mal gesehen hatte, und er fragte sich, wo sie jetzt wohl war, und wie es ihr ging.
"Mutter ist vor neun Jahren gestorben", sagte da Will plötzlich, als hätte er seine Gedanken erraten. Bill sah ihn daraufhin entsetzt an, und er fuhr fort. "Sie hat mir aber nie gesagt, wer du wirklich bist."
Bill sah ihn immer noch auf die selbe Art an, und was er in seinen Augen sah, brachten auch die letzten Barrieren in ihm zu Fall.
"Willst du wissen, wie sie es geschafft hat, diesen äußerst sturen und abenteuerlustigen Burschen aufzuziehen?"
