1. Kapitel - Ein seltsamer Fund Die eiserne Nähnadel glitt durch Bucks Finger hindurch. Ihre winzige Spitze stach schmerzhaft in seinen Handrücken und ritze die sonnengebräunte Haut, bevor die Nadel auf seinem ledernen Hosenbein landete und mit einem leisen Klirren unter die Treppenstufen fiel. Buck bückte sich eilig, um das kleine Handwerkzeug im letzten Augenblick doch noch zu fassen zu bekommen, doch es glitt durch einen schmalen Spalt zwischen den groben Brettern und verschwand. Buck fluchte leise, als sich zu allem Überfluss ein langer Holzsplitter in seinen Zeigefinger bohrte. Während er schimpfend seine Hand zurückzog, rutschte auch noch der schwere Sattel von seinen Knien und fiel polternd die Treppenstufen hinunter. Buck presste ärgerlich die Lippen zusammen, um einen neuerlichen Fluch zu unterdrücken. Es war eigentlich nicht seine Art laut zu schimpfen und seine aufgewühlten Gefühle auf für andere so leicht durchschaubare Weise auszudrücken. In seinem Volk war ein solches Benehmen nicht üblich und wurde darum nicht geduldet. In meinem Volk... Buck lachte bitter, während er vorsichtig den langen Holzsplitter aus seinem pochenden Finger zog. Die Kiowa hatten ihn aufgezogen, das war wahr, doch sie hatten ihn nie wirklich als einen der ihren behandelt. Ein roter Blutstropfen quoll aus der winzigen Wunde. Buck runzelte die Stirn und sah zu, wie die dunkle Flüssigkeit in den Sand zu seinen Füßen tropfte. 'Blut ist dicker als Wasser', sagte man beim Volk seines Vaters und meinte damit, dass verwandtschaftliche Bande weit über allen anderen standen. Die Kiowa beurteilten diese Dinge anders. In ihrem Volk musste ein Mann seinen "Wert" beweisen und sich seine Rechte innerhalb der Gemeinschaft der Krieger erkämpfen. Es gab nichts, was einem Menschen hier von Geburt an gehörte, nichts auf das er seiner Abstammung wegen Anspruch erheben durfte, wenn er diesen nicht auch vor seinen Stammesbrüdern rechtfertigen konnte. Lange Jahre hatte Buck darauf gewartet, dass endlich der Tag kommen würde, an dem auch er sich seinen Platz in der Gesellschaft der Krieger erfolgreich würde erkämpfen können. Doch sein geduldiges Warten war vergeblich gewesen., und der Tag, den er sich so sehnlichst herbeigewünscht hatte, war nicht gekommen. Er war ein Außenseiter geblieben und würde es für immer sein. Nachdem er das endlich erkannt hatte, hatte Buck dem Volk seines Bruders und seiner Mutter den Rücken gekehrt und sich der Welt der Weißen zugewandt. Er hatte voller Verzweifelung nach einem Weg gesucht, um wenigstens in dem Volk, dem auch sein Vater, den er nie kennen gelernt hatte, entstammte, ein Mann zu sein - jener Mann, denn die Kiowa sich anzuerkennen geweigert hatten! Auf seinem Weg durch die Welt der Weißen hatte Buck Freunde gefunden, nein, mehr als das! Vor nicht allzu langer Zeit hatte er gar so etwas wie eine neue, zweite Familie gefunden, Menschen, die sich auf ihn verließen und denen auch er sein Vertrauen schenken konnte. Doch Buck wusste ebenso gut, dass die Männer und Frauen, deren gefährliches Leben er seit einigen Wochen teilte, eine Ausnahme unter den vielen Amerikanern weißer und roter Hautfarbe waren. Sie gehörten zu den wenigen Menschen in diesem Land, die es akzeptieren wollten, dass ein Halbblut gleichberechtigt in ihrer Mitte lebte. Die übrigen Menschen jedoch... Da gab es Tompkins, einen alten verbitterten Mann, dem der General Store von Sweetwater gehörte und der es sich anscheinend zu seiner Aufgabe gemacht hatte, Buck sein Leben so unangenehm wie nur irgend möglich zu machen. Tompkins beschimpfte und schikanierte ihn, wo er nur konnte, und darum hatte Buck schon bald begonnen, die Proviantfahrten nach Sweetwater zu hassen. Aber niemals hätte er sich die Blöße gegeben, Emma darum zu bitten an seiner Stelle einen anderen Postreiter in die kleine Stadt zu schicken. So sehr Buck Tompkins und seine Beleidigungen auch verabscheute, verbot es ihm doch sein brennender Stolz klein beizugeben und einem anderen den Platz neben Emma auf dem Kutschbock und damit die ungeliebte Aufgabe zu überlassen. Wann immer Emma oder Teaspoon Hunter ihre Pony-Express- Reiter nach Sweetwater begleiteten, nahm sich der bärbeißige Ladenbesitzer zusammen. Doch Buck spürte stets den bösartigen Blick des älteren Mannes in seinem Rücken, wann immer er den kleinen Laden betrat, und ahnte, dass es nichts gab, was dessen Hass mildern konnte. Wann immer die anderen Reiter Zeuge von Tompkins Pöbeleien wurden, ergriffen sie Partei für ihren Freund und verteidigten Buck gegen die Anfeindungen des Ladenbesitzers und die der übrigen Stadtbewohner. Gerade erst, in der vergangenen Woche, hatten sich Cody, Lou und Jimmy mit Tompkins Kumpanen geprügelt, nachdem die beiden Männer ein paar rüde Bemerkungen über die "unerwünschte Gesellschaft des dreckigen Halbbluts" gemacht hatten. Im Zuge der darauf folgenden Auseinandersetzung war leider auch ein Teil des Ladens verwüstet worden. Und so hatte der erste Weg des erbosten Besitzers in das Büro des Marshals geführt. Zwar mochte auch Sam Cain den alten, griesgrämigen Mann nicht besonders leiden, doch sein Amt als U.S. Marshall in Sweetwater hatte ihn dennoch dazu gezwungen, zur Pony- Express-Station hinauszureiten und einem halb empörten und halb amüsierten Teaspoon Hunter Bericht über die Verfehlung seiner drei jungen Reiter zu erstatten. Der Einsatz für ihren Freund hatte Lou, Jimmy und Cody einen unangenehmen Strafauftrag, die längst fällige, aber durchaus lästige Reparatur des Scheunendachs, eingebracht. Trotzdem war es keinem von ihnen entgangen, dass sich Teaspoon während Sams Bericht nur mühsam ein zufriedenes Grinsen hatte verkneifen können. Aber als Leiter der Poststation war der ehemalige Texas-Ranger nicht nur seinen Reitern, sondern auch den Bewohnern von Sweetwater verpflichtet, die das Treiben der jungen Männer auf der Station ohnehin schon mit gewissem Argwohn betrachteten, und so konnte er die Verfehlung seiner Männer nicht ungestraft lassen. Zähneknirschend hatten Cody, Lou und Jimmy den verhassten Auftrag entgegengenommen und Tompkins war mit grimmigem Gesicht und an der Seite des Marshals in die Stadt zurückgeritten.

Nun, da Buck das Hämmern und Klopfen seiner Freunde aus der Ferne hören konnte, plagte ihn doch sein schlechtes Gewissen. Wenn er seinen Hals reckte, konnte er Cody sehen, der mit nacktem Oberkörper auf dem Giebel des Scheunendachs hockte. Buck ahnte, wie heiß es dort oben sein musste, denn selbst hier unten, im Schatten des Vordachs, rann ihm der Schweiß in Strömen den Rücken hinunter. Stirnrunzelnd strich sich Buck mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Nachdem Kampf in Tompkins Laden hatte er Jimmy vorgeworfen, er habe nur gekämpft, weil die beiden Cowboys ihn einen "Indianerliebhaber" genannt hatten. Damals hatte Buck sich verletzt gefühlt, und der Ärger über die Demütigung im Angesicht seiner Freunde hatte ihn zu diesen harten Worten getrieben. Noch immer fand er daran etwas Wahres... Doch nun, nachdem sich sein erster Ärger über diesen unglückseligen Vorfall gelegt hatte, musste er sich eingestehen, dass er Jimmy mit seinen Worten trotz allem Unrecht getan hatte. Der junge Reiter mochte heißblütig, impulsiv und alles andere als ein Indianerfreund sein. Dennoch stand Jimmy für seine Freunde ein, und dafür war ihm kein Preis zu hoch, das wusste Buck genau. Und tief in seinem Herzen war er stolz darauf, dass James Butler Hickock ihn zu seinen Freunden zählte. Wahrscheinlich hatte er Jimmy tatsächlich Unrecht getan...

Doch das war es nicht allein, was Buck quälte. Seit dem Vorfall in Tompkins kleinem Laden stellte er sich tagein und tagaus nur eine einzige Frage. Gehöre ich wahrhaftig hierher? Seine Zweifel, die ihn in den dunklen Nächten plagten, wenn die anderen schliefen, waren vor wenigen Wochen weiter geschürt worden durch eine denkwürdige Begegnung mit seinem Bruder Red Bear, einem Kriegshäuptling der Kiowa. In seinem Volk hatte Red Bear damit eine Position inne, von der Buck sein Leben lang nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Es war erst wenige Wochen her, dass der Bruder ihn aufgesucht und ihm angeboten hatte, wonach er sich so viele Jahre vergebens gesehnt hatte, die akzeptierte und glorreiche Stellung eines Kriegers im Volk ihrer gemeinsamen Mutter. Doch zuletzt hatte Buck das Angebot seines Bruders zurückgewiesen, schweren Herzens, aber seine entschlossene Antwort war endgültig gewesen. Die tiefen Brandnarben an seinen Fußsohlen schmerzten noch immer und legten so Zeugnis ab über das, was hätte sein können, wenn er es nur zugelassen hätte. Für eine Weile hatte Buck sich vergeblich davon zu überzeugen versucht, dass er die schweren Prüfungen im Kiowa- Lager allein auf sich genommen hatte, um Ikes Leben zu retten. Aber das war nicht wahr! Er hatte es getan, weil er dazugehören wollte, weil er sich nach einer Heimat sehnte. Für einen kurzen Augenblick hatte er beinahe geglaubt all das bei Red Bear und seinem Volk finden zu können. Doch dann, nachdem er die Prüfungen erfolgreich abgelegt und sich die Euphorie über ihr unerwartetes Gelingen in seinem aufgewühlten Herzen verklungen war, hatte er bereitwillig Red Bears selbstloses Angebot akzeptiert und war in die Welt der Weißen zurückgekehrt. Seine Freunde vom Pony-Express hatten ihn zum zweiten Mal herzlich bei sich aufgenommen. Aber seit diesem Tag, da er Red Bear und dem Lager seines Stammes den Rücken gekehrt hatte, fragte sich Buck immer wieder, ob er wahrhaftig die richtige Entscheidung getroffen hatte. Gehörte er wirklich hierher? Wer war er? Wer wollte er sein? Und wem gehörte sein Herz?

Zuerst waren die brennenden Fragen nur in den dunklen, schlaflosen Nächten gekommen, wenn die übrigen Reiter schliefen und Codys sonores Schnarchen das kleine Schlafhaus erfüllte. Doch nun verfolgten sie ihn schon am helllichten Tag! Ärgerlich versetzte Buck dem am Boden liegenden Sattel einen Tritt mit der Stiefelspitze. Ich benehme mich schon wie Hickock! Verwirrt zog er die Augenbrauen hoch. Vielleicht bin ich einfach schon zu lange hier? Vielleicht ist es an der Zeit für mich um weiterzuziehen... Bucks Blick glitt zu den schmalen Ritzen zwischen den Holzbalken, dahin wo die winzige Nähnadel zwischen den Treppenstufen verschwunden war. Wie sollte er nun die letzten Reparaturen an seinem beschädigten Sattel vornehmen? Und was sollte er Emma sagen? Sie würde ihn umbringen, wenn sie erst erfuhr, dass die letzte ihrer wertvollen Nähnadeln, die sie ihm nur widerwillig als Leihgabe überlassen hatte, verloren hatte.

Für einen kurzen Moment spielte Buck mit dem Gedanken unter den Treppenabsatz zu kriechen und nach der Nadel zu suchen. Da riss ihn Codys gellender Ruf aus seinen düsteren Gedanken.

"Reiter kommt!"

Neugierig hob Buck seinen Kopf. Die Ankunft eines Postreiters war für ihn längst etwas Alltägliches worden. Dennoch hatte dieses Ereignis seine Faszination noch immer nicht verloren. Auf dem Giebel der Scheune konnte Buck Cody sehen, der mit ausgestrecktem Arm nach Westen wies.

"Es ist Kid!", hörte er ihn rufen.

Und wahrhaftig, selbst mit bloßem Auge erkannte Buck die auffälligen braunen Flecken auf dem weißen Fell von Kids Stute Katie. Doch dann nahm etwas anderes seine Aufmerksamkeit gefangen. Er kniff erstaunt die Augen zusammen.

"Was zur Hölle...?", stieß Cody oben auf dem Dach aus und verstummte plötzlich.

Buck war aufgesprungen. Er schützte seine Augen mit dem Handrücken vor der gleißenden Sonne und beobachtete regungslos die gefleckte Stute, die sich in gestrecktem Galopp der Station näherte. Die hohe Geschwindigkeit, zu der Kid sein Pferd antrieb, beunruhigte Buck nicht weiter, denn ein sich in halsbrecherischem Tempo nähernder Reiter war für ihn etwas Alltägliches geworden. Aber etwas anderes zog seine Wachsamkeit auf sich. Denn was Kid da in den Armen hielt, war ganz sicher keine Posttasche! Aber was war es dann?

Buck schnellte die Stufen herunter und eilte dem herannahenden Reiter entgegen. Während er lief, hörte er, wie hinter der Scheune Lou erregt nach Teaspoon rief.

(

"Verdammt, Kid!" Jimmy war Buck auf den Fersen gefolgt und griff entschlossen nach Katies Zügeln, um den rasenden Lauf der Stute zu bremsen. "Was ist geschehen?"

Nur mit Mühe brachte Jimmy das scheuende Pferd zum Stehen. Die Stute warf ihren Kopf hin und her. Weißer Schaum quoll aus ihren Nüstern.

"Du hast das Pferd ja beinahe zu Tode geritten, Kid! Was soll das?"

Das sah seinem Freund überhaupt nicht ähnlich. Kid liebte die braun- weiß gefleckte Stute mehr als alles andere auf dieser Welt, nein - Jimmy runzelte die Stirn, als er Lou aus der Ferne hinzueilen sah - Kid liebte dieses Pferd wie kaum etwas anderes auf der Welt. Er würde niemals etwas tun, was der Stute schaden würde. Und doch hatte er das Pferd an diesem Tag an den Rand der Erschöpfung getrieben...

"Wer ist das, Kid?" Buck kam hinzu und betrachtete Kid prüfend.

Neugierig spähte Jimmy an Katies geflecktem Hals vorbei. Und da begriff er, dass es nicht Kid war, den der indianische Reiter ansah, sondern die schwere Last, die sein staubbedeckter Freund in seinen Armen hielt.

"Eine Frau?"

Ungläubig starrte Jimmy auf die langen Haarsträhnen, die sich mit den Lederfransen an Kids Ärmel mischten. Das helle Haar hatte die Farbe von reifem Weizen. Auch wenn Grashalme darin steckten und eine Staubschicht es bedeckte, spürte Jimmy doch instinktiv, dass dies kein Mann, nein, nicht einmal ein Junge sein konnte, den Kid da in seinen Armen hielt. Das Gesicht der Fremden lag von den Haarsträhnen verborgen, die sich aus einem langen Zopf gelöst hatten, und Jimmy konnte es von seinem Platz neben Katie nicht erkennen. Doch der schlanke, in helles Leder gehüllte Körper lies dennoch keine Zweifel übrig.

Das schien auch Cody zu denken, der eine ganze Weile gebraucht hatte, um vom Scheunendach hinunter zu klettern, nun aber zu seinen Freunden aufschloss.

"Ho, Kid! Was hast du denn mit der gemacht? Es gibt auch noch andere Wege, um eine Frau zu erobern, als ihr eins überzuziehen..."

"Halt die Klappe, Cody!", knurrte Jimmy ohne sich zu dem blonden Reiter umzuwenden.

"Die Frau ist verletzt." Bucks Worte waren keine Frage, sondern eine Feststellung.

Kid nickte erschöpft. "In ihrem Rücken steckt eine Kugel." Sein Gesicht war grau vor Anstrengung und seine Stimme kaum mehr als ein leises Krächzen. "Ich habe sie draußen bei Eagle Plains gefunden."

"Sie hat eine Kugel im Rücken?" Ungläubig riss Cody die Augen auf. "Aber wer in aller Welt schießt denn auf eine Frau?"

"Ich weiß es nicht. Ich hörte zwei Schüsse, aber als ich sie fand, war sie allein. Hört zu, sie ist wirklich schwer verletzt!" Kids Stimme drohte ihren Dienst zu versagen und er hustete. "Ich habe die Wunde versorgt, so gut ich konnte. Aber die Kugel steckt noch darin und die Wunde hört einfach nicht auf zu bluten. Sie braucht dringend einen Arzt!"

"Cody!" Teaspoon Hunter hatte Kids Worte gehört, doch auch ein kurzer Blick hätte ihm genügt, um die heikle Situation zu erfassen. "Sattle ein Pferd und reite nach Sweetwater. Sofort! Schick Doktor Mathers hier heraus, sag ihm, es sei dringend! Und dann holst du den Marshall!"

Cody lief los, noch bevor Teaspoon neben den jungen Männern und der verletzten Frau auf dem Pferd stehen geblieben war.

"Jimmy, du nimmst die Verletzte. Ja, Kid, lass sich vorsichtig herunter... ja, so ist es gut."

Als Kid die Frau in Jimmys ausgestreckte Arme gleiten ließ, fiel ihr Kopf zurück. Das lange Haar glitt zur Seite und entblößte ein schmales, ebenmäßiges Gesicht. Die Haut mochte einmal sonnengebräunt gewesen sein, aber nun hatte sie eine bedrohlich graue Färbung angenommen. Braunes, getrocknetes Blut bedeckte ihre rechte Gesichtshälfte von der Stirn bis zur Halsbeuge.

"Oh, mein Gott!" Lou schlug erschrocken die Hand vor den Mund, während sie atemlos hinter Teaspoon zum Stehen kam.

"Jimmy, bring die Frau sofort ins Haus zu Emma! Lou, du gehst mit ihm. Sieh nach, ob Emma Hilfe braucht!", ordnete Teaspoon mit einem kurzen Blick auf seinen jüngsten Reiter an.

Doch Lou schien ihn nicht gehört zu haben. Mit vor Erschrecken weit aufgerissenen Augen blickte sie zu Kid auf.

"Du blutest auch!", stieß sie keuchend hervor.

"Lou, mit mir ist alles in Ordnung."

Kid war zu müde, um seinen Kopf zu schütteln. Gedankenverloren berührte er eine rostbraunen Blutfleck, der das Leder seiner Jacke vom Kragen bis weit auf die Brust bedeckte.

"Es ist nichts", setzte er krächzend hinzu. "Das hier ist ihr Blut."

Seine blutunterlaufenen Augen folgten Jimmy, der die verletzte Frau davontrug. Mit großen Schritten eilte er mit seiner Last auf den Armen auf das Haus zu.

"Geh mit Jimmy, Lou." Teaspoon legte seinem jüngsten Reiter freundlich seine schwielige, sonnenverbrannte Hand auf die schmale Schulter. "Emma braucht ganz bestimmt deine Hilfe. Lauf und geh ihr zur Hand."

Lou nickte stumm. Sie warf Kid einen schnellen Blick zu und eilte dann hinter Jimmy her.

"Versorge das Pferd, Buck." Teaspoon strich Katie über das schweißbedeckte Fell. "Und du, Sohn, gibt's mir auf der Stelle die Posttasche. Und dann gehst Du zum Schlafhaus hinüber. Trink etwas und ruhe dich aus. Siehst ja aus, als wärst du direkt durch die Hölle geritten. War ein anstrengender Ritt, wie?"

Kid nickte stumm.

Teaspoon nahm die staubbedeckte Posttasche von ihm entgegen. "Wäre das hier nicht Stevens Ritt?" Er runzelte seine sonnenverbrannte Stirn. "Wo steckt der Junge bloß? Und du," er warf Kid einen gestrengen Blick zu, der keinen Platz für Missverständnisse ließ, "du marschierst auf der Stelle zum Schlafhaus! Buck wird dir etwas zu Essen bringen, wenn du noch wach bist, wenn er dein Pferd versorgt hat. Und ich, ja, ich werde nachsehen, wo dieser nutzlose Steven steckt! Und wenn ich ihn finde, werde ich dem Jungen Beine machen, jawohl! Mit dieser Nachlässigkeit wird er seinen Job hier bei uns nicht lange behalten!" Teaspoon warf sich die staubige Posttasche über die Schulter, zog seinen verbeulten Hut in die Stirn und stapfte davon.

Kid und Buck blickten ihm nach.

"Ich hoffe, der Doc kommt bald", krächzte Kid.

"Ist sie sehr schlimm verletzt?"

"Ich habe keine Ahnung, Buck."

Gemeinsam sahen die beiden jungen Männer zum Haus hinüber. Jimmy hatte, die Verletzte auf seinen Armen tragend, die Veranda beinahe erreicht, als Emma mit besorgtem Gesicht auf der Treppe erschien. Mit wehenden Röcken eilte sie auf ihn zu.

Buck wandte sich um. Ernst blickte er zu seinem Freund auf. "Was ist da draußen vorgefallen, Kid?"

Kid runzelte die Stirn. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er, wie Jimmy die verletzte Fremde ins Haus trug. Lou und Emma folgten ihm eilig. "Ich wollte, ich wüsste es, Buck..."

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"Cody sagte mir, Kid hat bei Eagle Plains eine angeschossene Frau gefunden."

Marshall Sam Cain hielt sich nicht mit überflüssigen Höflichkeiten auf, sondern betrat das Haus ohne auch nur anzuklopfen. Seine hellen Augen suchten nach Emma Shannon. Als er sie in dem kleinen, jedoch äußerst wohnlich eingerichteten Raum nicht entdecken konnte, kehrte sein Blick zu dem viereckigen Tisch zurück, der in der Mitte des Zimmer neben einer kleinen Kommode aufgestellt war.

"Hat aber eine ganze Weile gedauert, bis sie den Weg bis nach hier draußen gefunden haben." James Butler Hickock lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schob dabei gemächlich das Streichholz zwischen seinen Lippen hin und her. "Gab's Ärger in der Stadt, Marshall?"

Geistesabwesend strichen Sams Finger über die Schwellung an seinem unrasierten Kinn, die sich langsam purpurn verfärbte.

"Nicht mehr Ärger als gewöhnlich, Hickock." Brummte Sam und warf seinen staubigen Stetson auf die Tischplatte. "Zwei von Wagners Cowboys haben einen über den Durst getrunken und dann wegen eines Mädchens eine Schlägerein angefangen."

"Das war dann schon das zweite Mal in dieser Woche, dass jemand Styles' Saloon auseinandergenommen hat", Jimmy grinste breit. "Passen sie nur auf, Marshall, sonst sind sie dort bald Stammgast."

Sam warf dem jungen Postreiter einen mürrischen Blick zu. Er mochte Jimmy Hickock, ein wenig, weil er sich durch den wilden, impulsiven Burschen an seine eigene Jugend erinnert fühlte, und besonders, weil Emma ihn so sehr in ihr Herz geschlossen hatte. Aber Sam erinnerte sich ebenso daran, dass Jimmy an dem ersten Vorfall im Saloon in dieser Woche maßgeblichen Anteil gehabt hatte... Doch darum war er heute nicht hier draußen, schallt sich der Marshall nachdrücklich.

"Ich bin draußen vor dem Haus Buck begegnet. Er sagte mir, der Doc sei noch bei der verletzten Frau, die Kid gefunden hat."

Jimmy nickte ernst. "Der Doc versucht die Kugel herauszuholen, die ihr irgendein Feigling in den Rücken geschossen hat."

"In den Rücken?" Sam runzelte erstaunt die sonnengebräunte Stirn.

"Der Doc ist schon seit einer ganzen Weile dort oben, zusammen mit Emma und Lou."

"Wo ist Teaspoon?"

"Im Stall, denke ich... Nein, warten sie einen Augenblick, Marshall!" Der junge Reiter warf einen schnellen Blick aus dem kleinen Fenster neben seinem Stuhl. "Da kommt er gerade. Er muss ihr Pferd gehört haben."

Sam wandte den Kopf, als der ältere Mann das Zimmer betrat. "Teaspoon."

"Marshall." Der Vorsteher der Pony-Express-Station von Sweetwater bleckte zwei Reihen gelber Zähne, als er den Gesetzeshüter erkannte.

"Ist der Doc noch oben?", wandte er sich dann an den jungen Reiter, der noch immer gelassen sein Streichholz aus dem einen Mundwinkel in den anderen schob.

Jimmy nickte wortlos.

"In Ordnung. Solange der Doktor noch bei seiner Arbeit ist, gibt es für uns hier ohnehin nichts zu tun. Sattle dein Pferd, Jimmy, und warte draußen auf mich."

Der Reiter spuckte sein Streichholz auf den Fußboden und sprang von seinem Stuhl hoch.

"Aufheben!" Teaspoon warf ihm einen strengen Blick zu, der keinen Raum für Widersprüche ließ. "Wir reiten raus nach Eagle Plains", fuhr er fort, während Jimmy mürrisch das zerkaute Streichholz vom Boden aufhob. "Buck wird uns dorthin begleiten, er sattelt bereits sein Pferd."

"Augenblick mal, Teaspoon", Sam Cain legte dem älteren Mann die Hand auf den Arm. "Was wollt ihr draußen bei Eagle Plains?"

"Dort hat Kid die verletzte Frau gefunden."

Teaspoon warf dem jungen Reiter einen finsteren Blick zu. "Verschwinde endlich und sattle dein Pferd, Jimmy! Und überlass das hier getrost mir."

Hickock grinste, schob das zerkaute Streichholz erneut zwischen seine Lippen und verschwand ohne ein weiteres Wort aus dem kleinen Zimmer. Wenige Augenblicke später konnten die beiden Männer durch die Fensterscheibe beobachten, wie er über den Hof auf den Stall zuging.

"Manchmal, wenn ich diesen Jungen ansehe, muss ich unweigerlich an ein prall gefülltes Pulverfass denken," brummte Teaspoon verdrießlich, "und zwar an eines mit einer verdammt kurzen Lunte dran."

"Was wollt ihr also dort draußen bei Eagle Plains, Teaspoon?"

"Bevor Kid die Frau gefunden hat, hat er zwei Schüsse gehört. Doch als er die Verletzte erreichte, hielt sich niemand mehr in ihrer Nähe auf."

"Hat er nach dem Schützen gesucht?"

"Das hätte er wohl getan, wenn diese Frau nicht gewesen wäre. Also hat er zuerst ihre Verletzung versorgen wollen. Und als es ihm dann nicht gelang die Blutung der Wunde zu stillen, hat er sie auf sein Pferd geladen und schnellstens hierher gebracht. Sam, der Junge sagt, die Verletzung der Frau hat ihm keine Zeit für eine Suche nach dem Schützen gelassen."

Der Marshall runzelte die Stirn. "Und nun wollt ihr raus nach Eagle Plains, um nach dem Täter zu suchen?"

Teaspoon nickte entschlossen. "Wenn er dort Spuren hinterlassen hat, wird Buck sie ganz sicher finden. Der Junge ist ein hervorragender Fährtenleser."

"Ja, das ist er", bestätigte Sam wohlwollend. "Wisst ihr schon, wer die Verletzte ist und woher sie kommt?"

"Nein." Teaspoon schüttelte ratlos den Kopf. "Aber aus dieser Gegend hier stammt sie ganz gewiss nicht, denn sonst müsste ich sie kennen. Sie trägt indianische Kleidung, Sam."

"Dann ist sie eine Indianerin?"

"Nein, sie ist eine Weiße. Und da ist noch etwas." Teaspoon strich sich nachdenklich über das unrasierte Kinn, während er den Marshall ansah. "Kid sagte auch, dass dort draußen noch immer ihr totes Pferd liegt."

"Dann finden wird dort vielleicht einen Hinweis auf ihren Namen oder ihre Herkunft."

"Wir?"

Sam grinste breit. "Hast Du etwa geglaubt, ich ließe euch allein reiten? Nein, natürlich begleite ich euch nach Eagle Plains!"

"Wirst du nicht in Styles' Saloon gebraucht?", in Teaspoons kleinen Äuglein blitzte der Schalk auf. "Cody sagte mir, du seiest diese Woche so häufig dort, dass du dir eigentlich gleich dort ein Zimmer mieten könntest."

Sam knurrte etwas Unverständliches und griff nach seinem Hut. "Nun, was ist, Teaspoon?", entgegnete er dann schmunzelnd. "Kann es losgehen? Oder bist du vielleicht schon zu müde für den langen Ritt nach Eagle Plains, alter Mann?"

"Alter Mann?! Ich bin schon durch halb Texas geritten, als du noch in der Wiege gelegen hast, Sam Cain!" Teaspoon warf sich stolz gegen die breite Brust. "Und wenn du nicht gut Acht gibst, wirst du heute nichts weiter als den Staub meines Pferdes schlucken!"

Sam lachte lauthals. Manch einer in Sweetwater hielt Teaspoon Hunter für einen bärbeißigen oder gar seltsamen Menschen. Doch Sam Cain teilte diese Meinung nicht. Statt dessen genoss er die gutgemeinten Wortgefechte mit dem älteren Mann, wohl wissend, dass er sich in allen Lebenslagen felsenfest auf diesen verlassen konnte. Ganz ohne Zweifel hätte Sam Cain Teaspoon und seine Reiter auch allein nach Eagle Plains reiten lassen können, denn auch in diesem Fall hätte er schon bald alles erfahren, was er wissen musste. Doch hier auf der Station gab es für den Marshall nichts weiter zu tun, solange der Doktor noch seine Arbeit tat. Und in der Stadt... Mit Schaudern erinnerte sich Sam an den zerschlagenen Tresen in Styles' Saloon und beschloss hastig dieses Problem doch lieber seinem Deputy zu überlassen. Ganz bestimmt war es die richtige Entscheidung mit Teaspoon und seinen Jungs zu reiten. Die verletzte Frau würde nach der schweren Operation erst einmal Ruhe brauchen, wenn sie überhaupt überlebte. Mit ihr konnte Sam auch in zwei oder drei Tagen noch sprechen. Und wenn sich seine düstere Ahnung bestätige und tatsächlich jemand versucht hatte, einen Mord an der Fremden zu verüben - und auf nichts anderes deutete die Kugel in ihrem Rücken hin! - würde er ohnehin zum Tatort hinausreiten müssen, denn dann fiel dieses Verbrechen in den Zuständigkeitsbereich des US- Marshalls von Sweetwater und damit an ihn.

Entschlossen folgte Sam Cain Teaspoon über die Verandatreppe nach draußen.

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"Was glaubst Du, Emma? Wird sie es überstehen?"

"Der Doktor sagt, dass sie es schaffen könnte." Emma wusch ihre blutverschmierten Hände über der Waschschüssel. "Die Kugel hat ihre Lunge nur gestreift und ist in einem Muskel steckengeblieben. Auch die gebrochenen Rippen werden sie nicht umbringen, ebenso wenig die Wunde an ihrem Kopf. Was mir Sorge bereitet, ist das viele Blut das sie verloren hat."

Emma trocknete ihre Hände ab und wandte sich zu Lou um, die im Türrahmen lehnte. "Du warst mir eine große Hilfe dort oben."

Hastig verschränkte Lou ihre Arme und starrte zu Boden. Emmas Lob war ihr unangenehm. "Ich habe nur getan, was jeder von uns getan hätte." murmelte sie verlegen.

"Ja, das weiß ich." Emma lächelte. "Und du hast es gut gemacht." "Brauchst du meine Hilfe noch?" Mit einem Mal hatte es Lou sehr eilig, aus der kleinen Küche zu entkommen.

"Den Rest werde ich schon allein schaffen. Es gibt ja ohnehin nicht mehr zu tun, als zu warten, ob unsere Patientin die Nacht übersteht. Vielleicht solltest Du gehen und nach Kid sehen, Lou. Er sah sehr erschöpft aus, als er zurückgekommen ist."

Lou stülpte den Hut auf ihren Kopf und eilte zur Tür. Doch noch bevor sie die Terrasse erreicht hatte, hörte sie Emmas Stimme hinter sich rufen: "Und sag Kid, dass es bald Abendessen geben wird!"

"Ja, das mache ich." Lou sprang die Stufen herunter und eilte auf das Schlafhaus zu.

Emma sah ihr durch das kleine Fenster nach. Sie beobachtete, wie Lou durch die kleine Tür in die Hütte schlüpfte und wandte sich lächelnd ab. Sie selbst war also nicht die einzige, die ein kleines Geheimnis umgab... Nachdenklich nahm Emma die Waschschüssel auf und trug sie zur Tür. Das hellrote, mit Blut verdünnte Wasser schwappte von einem Rand zum andern, während sie die Verandatreppen hinunter ging. Die trübe Flüssigkeit erinnerte sie schmerzhaft an die vergangenen Stunden und an das viele Blut, dass während der Operation aus einem reglosen Körper geflossen war. Emma tat das fremde Mädchen leid und sie fragte sich, ob Teaspoon und seine Männer draußen bei Eagle Plains wohl eine Spur der Menschen finden würden, die diese arme Frau so übel zugerichtet hatten. Auch Sam Cain war dort draußen... Beim Gedanken an ihn glitt ein sanftes Lächeln über Emmas Züge. Doch schon während sie die Waschschüssel ausleerte, rief sie sich selbst streng zur Ordnung. Emma Shannon, du benimmst dich schon wieder einmal wie ein verliebter Backfisch! Aber du bist eine erwachsene Frau - und eine verheiratete noch dazu (obwohl du Evan am liebsten die Pest an den Hals wünschen würdest!) - also benimm dich gefälligst auch so!

Energisch warf sie den Kopf in den Nacken und marschierte, die leere Waschschüssel auf der Hüfte balancierend, auf das Haus zu.

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"Ein indianischer Sattel."

Buck nickte stumm, während er auf den Pferdekadaver zu seinen Füssen starrte.

"Was ist in den Taschen, Jimmy?", wandte sich Sam Cain an seinen zweiten Reiter, der an Boden kniete und den Sattel der toten Stute untersuchte.

"Ein indianisch gezäumtes Pferd mit Satteltaschen...", murmelte der junge Reiter gedankenverloren, während die Riemen der beutelartigen Ledertaschen öffnete und sein rechte Hand hineingleiten ließ.

Teaspoon, der Marshall und die beiden jungen Männer hatten nach mehr als dreistündigem Ritt die Ebene von Eagle Plains erreicht und dank Kids hervorragender Beschreibung hatten sie die Stelle, an der er die verletzte Frau gefunden hatte, schon bald gefunden. Doch auch ohne Kids Beschreibung wäre der Platz nicht zu verfehlen gewesen, denn der Kadaver des getöteten Pferdes lag noch immer so da, wie Kid ihn verlassen hatte. Lediglich eine Coyotenfamilie hatte begonnen sich daran gütig zu tun, war jedoch mit eingezogenen Schwänzen im hohen Gras verschwunden, als sich die drei Reiter genähert hatten. Es roch nach Blut und totem Fleisch, das zu lange in der prallen Sonne gelegen hatte. Jimmy rümpfte angewidert die Nase.

"Hier haben wir zuerst einmal ein Paar Mokassins", sagte er und zog das perlenbestickte Paar Schuhe aus den Satteltaschen hervor. "Und einen Beutel mit... Pemmikan, wie es aussieht. Ein Buch!" Erstaunt nahm Sam Cain das zerlesene Druckstück entgegen und hielt es in die Höhe. "'Jane Eyre' geschrieben von Currer Bell[1]. Na sieh mal einer an! Wer reitet denn mit einem so dicken Buch in der Tasche durch die Gegend? Was hast Du da noch, Jimmy?" Ungeduldig schaute Teaspoon dem jungen Reiter über die Schulter. "Was ist das?"

"Ein Brief. Nein, eine Zeichnung. Sie ist aus dem Buch gefallen. Seht mal!"

Neugierig beugten sich Buck und Teaspoon über das vergilbte Stück Papier und betrachteten eine junge Frau, gekleidet in ein helles, bis zum Hals geschlossenes Kleid, die in der Hand einen geblümten Schirm hielt und strahlend lächelte. Ihr helles Haar hatte sie zu einem großen Knoten aufgesteckt, auf dem ein kleiner, mit Bändern geschmückter Hut thronte.

"Susanah Elisabeth Stewart." entzifferte Teaspoon die geschwungene Schrift auf dem unteren Ende der Zeichnung. "San Antonio, Texas, im Oktober 1839."

"Ein hübsches Mädchen.", nickte Jimmy.

"Und eine ziemlich alte Zeichnung. Was kann unsere unbekannte Frau damit nur gewollt haben?" Sam schob das Papier zurück zwischen die Buchseiten. "Hast Du sonst noch etwas gefunden, Jimmy?"

"Nicht besonderes. Verbandsmaterial. Einen Feuerstein. Einen ledernen Mantel. Nichts, was von besonderem Wert wäre. Im Sattel steckt außerdem noch ein Gewehr mit Munition, gut gepflegt, aber schon lange nicht mehr das neuste Modell. Dann sind da noch ein Wasserschlauch und eine Decke."

"Kannst mit irgend etwas davon etwas anfangen, Buck?"

Der junge Reiter beugte sich vor und betastete prüfend den Mantel. Doch dann schüttelte er den Kopf. Sein aufmerksamer Blick glitt zu den Mokkasins und er stockte. "Cheyenne", murmelte er überrascht.

Teaspoon zog die Augenbrauen hoch. "Bist du dir sicher, Buck?"

"Ja, ich erkenne es an der Anordnung der Perlenstickerei. Dieses Symbol hier benutzen allein die Cheyenne."

"Aber dieser Stamm lebt mehrere Tagesreisen von hier entfernt."

Buck schwieg.

"Was ist mit dem Sattel. Sagt der die etwas?"

Der junge Reiter schüttelte wortlos seinen Kopf.

"Dann gibt es hier für uns nur noch eines zu tun. Wir müssen herausfinden, wer auf die Frau geschossen hat!" Stirnrunzelnd blickte Sam Cain zum Himmel hinauf. "Und wir sollten uns beeilen, denn bald wird es zu dunkel sein, um im Gras noch etwas zu erkennen."

Das ließ sich Buck nicht ein zweites Mal sagen. Augenblicklich ging er neben dem Pferdekadaver in die Knie. Seine dunklen Augen glitten prüfend über den Boden, doch er kann zu keinem anderen Schluss als zuvor.

"Hier gibt es nur die Fußspuren eines einzigen Mannes", erklärte er.

"Kid."

Buck nickte.

"Dann müssen wir die Gegend absuchen, bis wir eine Spur von dem Schützen finden." Sam Cain war kein Mann von langen Vorreden. "Und wir werden auf der Stelle damit anfangen, denn in weniger als zwei Stunden wird es dunkel werden!"

Teaspoon und die beiden jungen Männer nickten entschlossen.

"Wahrscheinlich hat er dort oben auf dem Hang auf sie gewartet", mutmaßte Jimmy und schob seinen Hut in den Nacken, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. " Von dort aus kann ein Mann auf einem Pferd beinahe die gesamte Ebene einsehen."

Der Marshall nickte.

"Das denke ich auch. Teaspoon und Jimmy, ihr sucht auf der westlichen Hügelkuppe. Buck und ich nehmen uns den östlichen Hang vor. In zwei Stunden treffen wir uns wieder hier."

Die Männer nickten und schwangen sich ohne ein weiteres Wort in die Sättel. Am Fuße des Hügelkamms trennten sich ihre Wege. Teaspoon und Jimmy trieben ihre Pferde den westlichen Hang hinauf, während Sam und Buck in östlicher Richtung davon ritten.

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"Wann glaubst du, kommen Teaspoon und die anderen zurück?"

Kid schob sich hungrig das dritte von Emmas köstlichen frischen Brötchen in den Mund, während er Lou ansah. Er gefiel ihm sehr mit ihr allein zu sein. Und an diesem Abend bot sich eine der seltenen Gelegenheiten dazu. Aber zuerst musste er etwas essen! Er hatte den ganzen Nachmittag über geschlafen, so erschöpft war er nach dem anstrengenden Ritt gewesen und nun knurrte sein Magen so laut, dass man es weithin hören konnte.

"Keine Ahnung." Gierig schluckte Kid den köstlichen Backteig hinunter und griff nach dem Wasserkrug. "Es ist schon sehr spät. Sie werden wohl bei Eagle Plains übernachten."

"Ja, das werden sie." Lou reichte Kid die Schüssel mit den gebackenen Bohnen und stützte dann ihr Kinn auf ihre Hände. "Der Weg von Eagle Plains hierher ist trügerisch, denn der Boden ist locker und uneben. Leicht könnten die Pferde im Dunkeln stürzen."

Kid nickte, während er sich eine dritte Portion Bohnen auf den geleerten Teller schöpfte. "Sie werden schon heil und gesund zurückkommen."

"Aber was, wenn sie den Mann finden, der auf die Frau geschossen hat?"

"Was soll dann sein? Sie sind zu viert und werden leicht mit diesem Kerl fertig werden." Doch Kid sah ein, dass er Lou noch nicht überzeugt hatte. "Ich war ganz allein dort draußen und er hat mir nichts getan. Ich glaube nicht, dass wir uns um unsere Freunde sorgen machen müssen." Lou war bei Kids Worten bleich geworden.

"Er hätte dich auch aus dem Hinterhalt erschießen können!", stieß sie hervor.

Kid hob den Kopf. Schnell langte er über den Tisch hinweg und fasste Lous schmale Hand. "Das hat er aber nicht."

Lou schluckte. Aber sie ließ zu, dass Kid ihre Hand hielt und entzog sich ihm nicht, wie sie es sonst oftmals tat. Für einen Moment vergaß Kid sogar die dampfenden Bohnen auf seinem Teller, während er Lous zierliche Finger in seiner Hand fühlte und den weichen Glanz in ihren braunen Augen bemerkte.

"He, da seit ihr ja!"

Die Tür schwang auf und schlug krachend gegen die Wand. Der Wasserkrug auf dem kleinen Regal daneben klirrte laut, während sich Codys blonder Haarschopf durch den Türrahmen schob. Erschrocken fuhr Kid hoch. Lou entzog ihm hastig ihre Hand und senkte den Kopf. Doch Cody hatte ihre Bewegung gesehen und grinste breit. Nur ein warnender Blick von Kid sorgte dafür, dass er seine Meinung darüber zurückhielt.

"Lou, du sollst auf der Stelle zu Emma kommen", sagte er statt dessen und beäugte hungrig die verbliebenen Brötchen auf dem halbleeren Teller. "Sofort!"

Lou sprang von ihrem Platz am Tisch auf und griff nach ihrem Hut. "Ist etwas passiert?"

"Dem Mädchen, das Kid heute gefunden hat, geht es schlecht. Sie hat Fieber bekommen." Cody warf seinen Hut auf den Tisch und schwang seine langen Beine über den freigewordenen Stuhl. "Emma braucht deine Hilfe."

Ohne noch ein Wort zu verlieren verschwand Lou durch die offenstehende Tür in die Dunkelheit. Nicht einmal einen Blick hatte sie zum Abschied für Kid übrig. Ärgerlich runzelte er die Stirn.

"Willst du deine Bohnen nicht mehr, Kid?" Gierig schielte Cody auf den dampfenden Teller. "Du siehst nicht gerade aus, als hättest du noch großen Appetit." Kid warf dem anderen Reiter einen vorwurfsvollen Blick zu.

"Wie kannst Du nur ans Essen denken, wenn es der Frau so schlecht geht, dass Emma sogar Lou rufen lässt!"

"Warum denn nicht? Außerdem muss das alles doch gar nicht viel bedeuten. Ein bisschen Fieber, na und? Der Doc hat eine Kugel aus dieser Frau herausgeholt, da ist ein wenig erhöhte Temperatur doch nichts ungewöhnliches, Kid. Sie wird schon wieder werden. Was ist, kann ich die Bohnen haben?"

Kid verspürte mit einem Mal tatsächlich keinen Appetit mehr. Er brummte etwa Unverständliches und schob seinen Teller zur Seite. Er nahm seinen Hut, stülpte ihn auf seinen Kopf und marschierte zur Tür, während Cody sich hungrig über die Bohnen hermachte.

Auf der Veranda blieb Kid für einen Augenblick stehen. Er sah sich um. In der einiger Entfernung konnte er die Umrisse des Haupthauses erkennen, doch von Lou war nichts mehr zu sehen. Oben im ersten Stock war ein kleines Fenster hell erleuchtet. Von seinem Platz auf der Veranda aus konnte Kid zwei dunkle Schatten sehen, die geschäftig hin und her eilten. Er seufzte. Dies würde also wieder ein ganz gewöhnlicher Abend werden, der doch so hoffnungsvoll begonnen hatte...

Unglücklich zog er die Schultern hoch und machte sich auf den Weg zum Stall. Er verspürte mit einem Mal das dringende Bedürfnis nach einer guten Zuhörerin und er wusste, dass er diese in seiner Stute Katie finden würde.

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----------------------- [1] Currer Bell ist das Pseudonym der englischen Schriftstellerin Charlotte Brontë (1816 - 1855), unter welchem sie ihr Werk "Jane Eyre" im Oktober 1847 zum ersten Mal veröffentlichte.