4. Kapitel – Misstrauen

Gähnend stülpte James Butler Hickock seinen Hut über das vom Schlaf zerzauste Haar und trat auf die Veranda des Schlafhauses hinaus. Die gleißende Morgensonne ließ ihn blinzeln, während er sich verschlafen die Augen rieb. Nur widerwillig näherte er sich der Wasserpumpe. Für einen Augenblick beäugte er sie misstrauisch, dann beugte er sich seufzend darüber. Es half nichts, es war Morgen und er hatte Aufgaben zu erledigen, so sehr er diese auch gern geleugnet hätte. Der Schwengel der Pumpe quietschte kreischend, als Jimmy diesen knurrend hinunterdrückte. Im nächsten Augenblick schoss ein harter Strahl eiskalten Wassers über seine ausgestreckte Hand und er sprang fluchend zurück. Der eisige Strom benetzte seine Ärmel und den Saum seiner Jacke, aber wach machte es ihn nicht. Mürrisch fing er das kühle Nass mit den Händen auf und wusch sich das Gesicht. Die eisigen Perlen des klaren Quellwassers stachen wie winzige Nadeln auf seiner Haut, doch als er sich schließlich wieder aufrichtete, fühlte er sich endlich ein wenig wacher und ausgeruhter. Stirnrunzelnd schob er die feuchten, braunen Haarsträhnen aus der Stirn und blickte zum Schlafhaus hinüber. Aber von Cody war weit und breit noch nichts zu sehen. Wahrscheinlich schlief dieser bereits wieder tief und fest, dieser Faulpelz! Was stellte Cody sich vor? Das er die Ställe vielleicht ohne ihn ausmistete? Jimmy knurrte ärgerlich und wollte gerade zum Schlafhaus zurückkehren, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, die ihn stocken ließ. Er wandte sich um und kniff neugierig die Augen. Für einen Augenblick nahm er an, es wäre Emma, die an diesem Morgen bereits ihren kleinen Garten neben dem Wohnhaus jätete. Doch dann bemerkte er die langen blonden Haare, welche die schlanke Gestalt umwehten und den wogenden weißen Saum ihres langen Kleides, während sie sich gemächlichen Schrittes dem kleinen Zaum näherte, der Emmas Haus umschloss. Nein, das dort im Garten war nicht Emma! Neugierig legte Jimmy die Hand über die Augen, um gegen die helle Morgensonne, die sich soeben am blauen Spätsommerhimmel erhob, besser sehen zu können. Für einen Augenblick stand er regungslos und beobachtete, wie die fremde Frau die kleine Tür im Zaun öffnete und hindurch schritt. Sie bewegte sich unsicher und der lange Saum ihres Kleides schleifte über den staubigen Boden. Der kühle morgendliche Wind zerzauste ihr weizenblondes Haar, das ihr in langen, glatten Strähnen beinahe bis an die Hüfte reichte. Sie hatte sich eine lederne Jacke übergeworfen, deren Säume mit ledernen Fransen bestickt waren. Ein großer dunkelbrauner Blutfleck bedeckte die linke Schulter und die mit Perlen bestickte Schulterpartie des schmutzigen Kleidungsstücks und stand in eigenartigem Kontrast zu dem blütenweißen Kleid, dass sie darunter trug. Jimmy runzelte die Stirn. Er wusste, wen er da vor sich hatte und die Neugier packte ihn. Vorsichtig blickte er sich um. Aber weder Emma noch Cody ließen sich blicken. Jimmy zögerte. Er hatte im Stall zu tun, das stand fest. Aber andererseits wollte er sich die lästige Arbeit dort mit Cody teilen, und solange dieser noch nicht einmal aufgestanden war... Genau genommen sprach überhaupt nichts dagegen, dass er für einen Augenblick zu dem Mädchen hinüber ging. Eigentlich wäre alles andere sogar grob unhöflich gewesen! Nicht dass ihm das etwas ausgemacht hätte, aber nun ja... Er musste die Dinge eben so nehmen, wie sie nun einmal waren. Jimmy grinste zufrieden und schlenderte auf die junge Frau zu, die soeben die kleine Tür in Emmas Zaun wieder verschloss und ihm dabei den Rücken zuwandte. Nur wenige Schritte entfernt blieb er stehen und wartete geduldig darauf, dass sie sich wieder aufrichtete, denn er wollte sie durch sein plötzliches Erscheinen nicht erschrecken. Als sie sich zu ihm umwandte, räusperte er sich vernehmlich. Wenn er angenommen hatte, das sie erschrocken zusammenfahren würde, hatte er sich allerdings geirrt. Stattdessen richtete sie sich zu ihrer ganzen Größe auf und musterte ihn abschätzend. Staunend bemerkte Jimmy das leuchtende Grau ihrer glänzenden Augen.

„Versuchen sie immer sich von hinten anzuschleichen, Mister?", fragte sie mit schneidender Stimme ohne ihn auch nur einen Augenblick lang aus den Augen zu lassen.

„Ich habe mich nicht...", fuhr Jimmy auf, doch ebenso schnell fasste er sich wieder. „Verzeihung, ich wollte sie nicht erschrecken, Miss."

Sie maß ihn mit einem abschätzenden Blick aus ihren grauen Augen, „Sie haben mich nicht erschreckt. Ich habe sie längst kommen hören."

Jimmy runzelte die Stirn.

„Ach ja?", entfuhr es ihm.

Er hatte sie nur einmal gesehen, ganz kurz, an dem Tag als Kid sie gefunden und er selbst sie ins Haus und in Emmas kleines Schlafzimmer getragen hatte. Aber an diesem Tag war sie schmutzig und ihr Gesicht mit Blut verschmiert gewesen. Sie hatte anders ausgesehen, als jetzt, da sie vor ihm stand und ihn verärgert anfunkelte. Überrascht stellte Jimmy fest, wie hübsch sie war. Im Stillen fragte er sich, ob Buck das auch bemerkt hatte.

„Sie sind Jimmy."

Der klare Klang ihrer Stimme ließ ihn zusammenfahren.

„Woher wissen sie das?", fragte er stirnrunzelnd.

Sie hob ihre rechte Schulter an, und Jimmy erinnerte sich augenblicklich an die unschöne Schusswunde in ihrer linken.

„Sie tragen ihren Revolver ziemlich tief."

Jimmy verzog das Gesicht.

„Das stimmt. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass auch mein Name darauf steht."

Ein leichtes Lächeln breitete sich über ihre ebenmäßigen Züge aus. Die Zornesfalte zwischen ihren Augen verschwand.

„Buck hat mir von ihnen erzählt, Jimmy."

„Oh! Was hat er gesagt?"

Sie lachte leise.

„Was ist so komisch?"

„Nichts."Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. „Ich bin Leah Stewart."

Jimmy erwiderte ihren Händedruck beinahe automatisch.

„James Butler Hickock. Freut mich, Miss Stewart."

Er wunderte sich, wie fest ihr Händedruck war. Beinahe wie der eines Mannes. Und dabei hatte sie so gar nichts männliches an sich, im Gegenteil...

„Leah ist völlig ausreichend. Oder möchten sie, dass ich sie mit Mr. Hickock anrede?"

„Nein, natürlich nicht!"Diese Vorstellung kam ihm völlig absurd vor, ohne das er sagen könnte, warum. „Was tun sie hier draußen, Leah? Sie sollten im Haus sein und sich ausruhen."

„Ich habe es satt, wie eine Tote im Bett zu liegen." Sie runzelte die Stirn und warf einen kurzen Blick zu dem kleinen Fenster im Obergeschoss hinauf, hinter dessen ordentlichen weißen Vorhängen sich Emmas Schlafzimmer und damit augenblicklich ihr eigenes Krankenbett befanden. „Ich habe es da drinnen einfach nicht mehr ausgehalten. Ich habe die Pferde gehört und wollte nach ihnen schauen."

„Sie wollten in den Stall?"Überrascht riss Jimmy die Augen weit auf. „In ihrem Zustand?"

„Ich bin weder todkrank noch verrückt", entgegnete Leah brüsk.

„Nein, natürlich nicht!"Langsam konnte er sich vorstellen, warum Buck so überstürzt fortgeritten war.

„Wenn sie das also begriffen haben, würden sie dann bitte zur Seite treten und mich vorbei lassen?"

Jimmy zögerte.

„Emma würde das gar nicht gefallen..."

„Dann haben sie also Angst vor Miss Shannon?"

„Nein!"

„Meinen sie, Jimmy, dass es ihr besser gefallen würde, wenn sie mich zum Stall begleiten?"

„Nein, das denke ich nicht."Aber er hatte das schelmenhafte Blitzen in ihren Augen bemerkt. „Aber ich werde trotzdem mit ihnen gehen."

„Um mir zu beweisen, dass sie keine Angst haben?"

Jimmy stöhnte. Diese Frau raubte ihm den letzten Nerv! Doch er ahnte, dass, was immer er auch entgegnen würde, sie doch einen Weg finden würde, um sich über ihn lustig zu machen. Darum schwieg er verärgert, auch wenn es ihm schwer fiel. Mürrisch machte er den Weg frei.

„Danke."

Der vertraute Geruch von Leder mischte sich mit dem Duft wilder Blumen, als Leah sich an ihm vorbeischob. Sie riecht beinahe wie Emma, dachte Jimmy beklommen. Der vertraute Geruch weckte mit einem Mal schmerzhafte Erinnerungen an eine kühle Nacht in einem Armeeposten namens Fort Reunion, in der er gelernt hatte, dass nicht alles, was er sich im Leben wünschte, für ihn erreichbar war... Mit einem Ruck zwang Jimmy sich in die Wirklichkeit zurück. Der vertraute Geruch war mehr als selbstverständlich, denn schließlich trug das Mädchen eines von Emmas Kleidern... nein... eines von Emmas Nachthemden! Ihm stockte der Atem, als er plötzlich bemerkte, wie fein der weiße Stoff war, der unter dem weiten Rock die schlanken Umrisse ihrer Schenkel verriet! Wie kam diese Frau dazu... Unter dem weichen Saum des Nachtgewandes lugte ein nackter Fuß hervor, während Leah ihren Weg zum Stall fortsetzte. Jimmy schüttelte ungläubig den Kopf.

„Was ist nun mit ihnen, Jimmy?", Leah wandte den Kopf und lächelte amüsiert. „Kommen sie mit mir? Oder haben sie plötzlich doch Angst bekommen?"

„Sie tragen ein Nachthemd", stammelte er verwirrt und verwünschte sich schon im nächsten Augenblick für diese unüberlegte Bemerkung.

„Es war nichts anderes da. Jemand hat meine Kleidung fortgenommen. Nur meine Jacke habe ich gefunden."

Jimmy starrte sie an.

„Was ist?"Leah runzelte die Stirn. „Sie schauen mich an, als wäre ich nackt."

„Sie haben keine Schuhe an", stieß er atemlos hervor.

„Das stimmt. Sie sind ein aufmerksamer Beobachter." Grinsend streckte sie einen Fuß unter dem Saum ihres Kleides hervor und betrachtete ihn.

Jimmys Blick glitt über den sonnengebräunten schmalen Spann bis hin zu den geraden, schlanken Zehen. Verlegen räusperte er sich.

„Sie sollten wenigstens Schuhe tragen. Hier gibt es Schlangen."

„Ich weiß."Leah lachte fröhlich. „Aber ich habe meine Schuhe ebenfalls nicht gefunden."

Jimmy seufzte. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, dass sie alles, was er zu sagen wusste, gegen ihn verwenden würde.

„Kommen sie, Leah. Ich zeige ihnen den Stall. Und dann bringe ich sie schleunigst ins Haus zurück."

„Bevor mich jemand so sieht? In meinem Nachthemd und ohne Schuhe?"

„Kommen sie endlich!"

Es hätte nicht viel gefehlt und Jimmy hätte sie am Arm gepackt und mit sich gezogen. Als sie jedoch ihren Weg von allein fortsetzte, beschränkte er sich auf ein mürrisches Knurren und darauf seinen Hut tiefer in die Stirn zu ziehen. Er sandte ein Stoßgebet zum Himmel, das Emma wenigstens heute, wenigstens jetzt, einmal länger schlafen würde.

Oh, mit einem Mal verstand er nur zu gut, warum Buck Hals über Kopf fortgeritten war!

Buck trieb sein Pferd voran. In weniger als einer Stunde würde er Sweetwater erreicht haben, und nur wenige Meilen weiter lag die Shannon-Farm und Station des Pony Express. Nicht zum ersten Mal in den vergangenen zwei Tagen verfluchte er sich selbst dafür, dass er überhaupt von dort weggeritten war. Gut, Leah hatte ihn verletzt, aber schon zwei Stunden gestreckten Galopps entlang des steinigen, staubigen Trail hatten genügt, um seinen Kopf wieder klar werden zu lassen. Vielleicht hatte sie ihn verletzt, nein nicht vielleicht, ganz sicher sogar hatte sie das getan. Aber schlimmer noch war etwas ganz anderes: er hatte sie enttäuscht und im Stich gelassen, als sie ihn gebraucht hatte. Er hatte an ihr gezweifelt, ohne das es wirklich eines Anlasses dazu bedurft hatte und auf diese Weise ihr Vertrauen in ihn missbraucht. Sobald er das begriffen hatte, hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als auf der Stelle umzukehren und die schrecklichen Dinge, die er gesagt hatte ungeschehen zu machen, vielmehr noch, endlich die Dinge zu tun, die er schon längst in Emmas Schlafzimmer hätte tun sollen. Zum Teufel mit Sam Cain, seinem Misstrauen und seinen Vermutungen!

Dennoch war er nicht umgekehrt, sondern hatte seinen Ritt fortgesetzt und die Posttasche an ihr Ziel gebracht, bevor er sich auch nur gestattet hatte, einen weiteren Gedanken an sein Problem zu verschwenden. Doch in der Nacht, die er nur wenige Meilen entfernt von Three Crossing auf dem harten Felsboden verbracht hatte, waren die bohrenden Zweifel wie eine Flutwelle über ihn hereingestürzt und hatten ihn nicht mehr losgelassen. Bei Anbruch des Morgengrauens, als die Sonne ihre ersten silbernen Strahlen über den nebelverhangenen Horizont geworfen hatte, hatte er sich wieder in den Sattel geschwungen und war losgeritten. Seitdem hatte er seiner Stute nur eine kurze, notdürftige Pause gestattet, und sich selbst nicht einmal genug Zeit, um die trockenen Reste des Zwiebacks zu verzehren, der seinen Reiseproviant darstellte. Die quälenden Gedanken ließen ihn einfach nicht los und so fand er keine Ruhe, selbst dort nicht, wo er bislang stets Frieden gefunden hatte – auf dem Rücken seines Pferdes. Der warme Spätsommerwind, der sonst wie ein treuer Freund seinen Rücken gestreift hatte, trieb ihn nun unablässig zur Eile an, und auch die gleißende Sonne, die hoch am wolkenlosen Himmel stand, schien zu sagen: Beeile dich, du Narr!

Buck grub seine Finger tief in die schwarze Mähne seines Pferdes, während er daran dachte, was er getan hatte. Durch seinen Starrsinn und seine fehlende Entschlussfreudigkeit dachte Leah nun, dass er sie für eine Lügnerin, ja für eine Betrügerin hielt... Und das war ein Gedanke, den er nicht länger ertrug!

Wenn er nur endlich die Station erreichte...

„Jungs,"Teaspoon sah seine Reiter, die sich um den großen Tisch gescharrt hatten und hungrig auf ihr Essen warteten, scharf an, „wir haben heute einen Gast. Ich möchte, dass ihr euch zusammenreißt."

„Einen Gast?"Neugierig hob Cody den Kopf und verlor für einen Augenblick sogar die dampfenden Brötchen in ihrem Korb in der Mitte des Tisches aus den Augen.

Teaspoon runzelte die Stirn, während Jimmy die Gelegenheit nutzte und schnell nach einem Brötchen griff.

„Ja, einen Gast. Und ihr werdet euch vorbildlich betragen. Jimmy, leg das Brötchen zurück!"

Der junge Reiter grinste schuldbewusst und warf das dampfende Gebäckstück hastig in den Korb zurück.

„He!"Cody versetzte ihm einen Stoß in die Rippen. „Was soll das?"

„Du wirst schon noch genug abbekommen, Cody."Jimmy lehnte sich zurück und schob sich eine vorwitzige Haarsträhne hinter das Ohr.

„Anständiges Benehmen, sage ich!"Teaspoon musterte die beiden Reiter streng. „Keine Beleidigungen und keine Revolver bei Tisch, Jimmy, und niemand wirft mit Essen! Hast du mich verstanden, Cody?"

Der blonde Reiter riss überrascht seine Augen auf.

„Ich, Teaspoon?", rief er voll gespielter Unschuld.

Lou kicherte.

„Ja, du!"Teaspoon kniff die Augen zusammen, doch in seinen Mundwinkeln zuckte es verräterisch. „Wir haben heute nämlich, wie soll ich sagen... Damenbesuch."

„Damenbesuch!"Fröhlich schlug Cody mit der flachen Hand auf den Tisch. „Na, das ist doch mal was!"

Lou sandte ihm einen bösen Blick zu.

„Wer kommt denn?"

„Emmas junge Patientin wird uns heute beim Abendessen Gesellschaft leisten."Zufrieden schob Teaspoon die Daumen hinter seine Hosenträger.

„Leah?", entfuhr es Jimmy.

Teaspoon betrachtete seinen jungen Reiter mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Miss Stewart, ja. Ich wusste nicht, dass ihr euch bereits kennt, Jimmy."

„Äh... Nicht wirklich, ich meine, nicht richtig. Ich..."

„Und das lässt Emma zu? Das Mädchen ist doch verletzt!", rief Lou.

Bei dem Gedanken an ihr letztes Zusammentreffen mit Leah zog sie die Nase kraus.

„Es geht ihr anscheinend gut genug, dass sie aufstehen kann. Anscheinend langweilt sie sich. Emma meinte, dann könne sie ebenso gut mit uns allen zu Abend essen."

„Eine wunderbare Idee!"Cody grinste breit. „Es geht doch nichts über einen Gast bei Tisch."

Teaspoon runzelte die Stirn, während er von einem zum anderen blickte. Er grübelte darüber nach, was Emma dazu veranlasst haben mochte, das verletzte Mädchen mit diesem Haufen junger Männer zusammen zu stecken, doch er kam zu keinem Ergebnis. Knurrend gab er schließlich auf.

„Jimmy!"

Wieder war die Hand des jungen Reiters nicht schnell genug gewesen.

„He!"Cody griff empört nach dem Brötchen, das sein Freund in der Hand hielt. „Gib her!"

Jimmy beugte sich zurück und Codys Hand griff ins Leere. Der blonde Reiter verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem lauten Krachen von der Sitzbank.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Jimmy war nicht der Einzige, der sich neugierig umwandte.

„Wie es scheint, hat Cody dir bereits seinen Platz frei gemacht, Leah."Emma stand in der geöffneten Tür und stemmte die Fäuste in die Hüften, während sie streng auf den am Boden sitzenden Reiter blickte.

Codys Wangen verfärbten sich dunkel, während er sich hastig aufrappelte.

„Ähem, Emma, ich...", murmelte er verlegen.

„Komm herein, Leah."Emma schob die junge Frau durch die Tür und neben den Tisch. „Die Jungs werden sich von jetzt an benehmen."

Sie warf einen strengen Blick in Richtung der Reiter, bevor ihre braunen Augen auf Teaspoon hängen blieben, der hinter vorgehaltener Hand leise vor sich hinkicherte. Emma runzelte streng die Stirn und das fröhliche Lachen verebbte augenblicklich. Lediglich das Funkeln in den Augen des älteren Mannes verriet noch, wie sehr er sich amüsierte.

„Jungs", Emma legte der jungen Frau an ihrer Seite die Hand auf den Arm und lächelte freundlich, „das hier ist Leah Stewart. Sie ist unser Gast und ich möchte, dass ihr sie auch als solchen behandelt."

„Miss Stewart."Kid erhob sich hastig von seinem Platz und streckte ihr seine Hand entgegen. „Sehr erfreut sie kennen zu lernen. Man nennt mich Kid."

Neben ihm runzelte Lou finster die Stirn.

„Kid."Leah schüttelte seine Hand. „Hallo, Lou."sagte sie dann und lächelte freundlich. „Schön dich wieder zu sehen."

Lou nickte stumm.

„William F. Cody, zu ihren Diensten, Ma'am!"

Cody verbeugte sich. Dann griff er nach ihrer Hand und küsste sie. Leah runzelte erstaunt die Stirn. Der junge Reiter schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln.

„Es ist mir eine außerordentliche Freude sie kennen zu lernen, Ma'am."

„Cody, das reicht."Teaspoon schob seinen Reiter zur Seite und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, bevor er Leah grinsend seine Hand entgegenstreckte. „Teaspoon Hunter, Miss Stewart."

"Mister Hunter", die junge Frau lächelte, als sie seine Hand ergriff, "ich habe schon viel von ihnen gehört."

„Oh."Zufrieden blickte Teaspoon sich um.

In diesem Augenblick wurde Leahs Aufmerksamkeit auf den jungen Mann gelenkt, der sich von seinem Platz erhoben hatte und lächelnd ein paar schnelle Handzeichen machte.

„Ike sagt, dass...", begann Lou mürrisch zu erklären.

Aber Leah schüttelte den Kopf.

„Ist schon gut, Lou."Sie lächelte dem glatzköpfigen Reiter lächelnd zu. „Sie sind Ike."

Dann streckte sie ihre rechte Hand aus und schlug selbst eine Anzahl Zeichen in die Luft.

„Tut mir Leid", sagte sie lächelnd, als Ike mit noch schnelleren Handzeichen darauf antwortete, „ich bin ein wenig aus der Übung."

Ike wiederholte die Bewegungen noch einmal langsamer. Dabei lächelte er breit.

„Oh...", Leah runzelte die Stirn.

Emma bemerkte, dass sie mit einem Mal weniger unbefangen war, als noch einen Augenblick zuvor. Auch wenn Leah im nächsten Moment bereits wieder ihr strahlendes Lächeln aufsetzte, hätte Emma doch zu gern gewusst, was Ike ihr gesagt hatte. Nachdenklich beobachtete sie, wie die junge Frau sich Jimmy zuwandte, der als Einziger auf seinem Platz sitzen geblieben war.

„Jimmy."

„Leah."Der junge Reiter machte sich nicht einmal die Mühe zu lächeln.

„Schauen sie mal."Grinsend streckte sie ihren Fuß unter dem hellblauen Kleid hervor, welches Emma ihr geliehen hatte. „Um ihnen zu gefallen, habe ich diesmal sogar Schuhe angezogen."

Jimmy warf einen gereizten Blick auf die Spitzen der ledernen Stiefel. Als er sie ansah, blitzten seine Augen vor Wut.

„Jimmy!", Emma kannte diesen Blick und schob sich erschrocken zwischen den jungen Mann und das Mädchen.

„Miss Stewart,"kam Teaspoon ihr im rechten Augenblick zur Hilfe, „setzen sie sich doch zu uns. Jimmy, äh... nein, Ike und Kid, rückt doch mal ein wenig zur Seite. So, kommen sie, Miss Stewart."

Er führte die junge Frau an das Ende des Tisches und platzierte sie zufrieden an seiner Seite. Augenblicklich sprang Kid auf, um ihr einen Becher Milch einzuschenken.

„Danke."

Emma warf einen letzte Blick auf Jimmy, dessen Augen noch immer bedrohlich funkelten. Dann trat sie an den Herd und griff nach dem dampfenden Topf, der darauf stand. Aber sie hatte auch die tiefe Falte auf Lous Stirn bemerkt und fragte sich plötzlich, ob es tatsächlich eine gute Idee gewesen war, Leah zu einer gemeinsamen Mahlzeit mit den Reitern einzuladen. Wie war es möglich, dass das Mädchen bereits wenige Minuten nach ihrem Erscheinen für so große Spannung zwischen den Männern sorgte? Sie nahm sich vor, die junge Frau sorgfältig im Auge zu behalten.

Über dem Pfad, den er ursprünglich entlang des Devil's Head hatte nehmen wollen, war eine Steinlawine niedergegangen und so war ihm keine andere Wahl geblieben, als das verschüttete Gebiet zu umreiten und den felsigen Weg über den Berg selbst zu nehmen. Dieser Umweg hatte ihn mehr als drei Stunden zurückgeworfen und so war es schon dunkel, als er endlich die hellen Lichter der Station in der Ferne leuchten sah. Für gewöhnlich verspürte Buck beim Anblick ihres warmen Glanzes ein Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit. In dieser Nacht jedoch verspürte er nichts als bohrende Unruhe. Seine Fäuste kneteten gedankenverloren die Zügel seines Pferdes, während er das erschöpfte Tier zielstrebig auf die Station zulenkte. Als er seine Stute an den dunklen Wänden der Scheune entlang lenkte, glitt sein Blick hinüber zur Veranda des Haupthauses, die im Dunkeln lag, und von dort hinauf zu dem kleinen Fenster darüber. Doch kein einladender Lichtschein drang daraus hervor. Buck kniff erstaunt die Augen zusammen.

Doch dann lenkte er sein Pferd entschlossen auf den Stall zu. Vor dem großen Tor sprang er aus dem Sattel. Erst als er sich vorbeugte, um den schweren Riegel zur Seite zu schieben, bemerkte er die schlanke, schattenhafte Gestalt, die sich ihm lautlos näherte. Augenblicklich glitten seine Finger an Gürtel und umfassten den Tomahawk, der dort steckte. Der lederumwundene Griff der Waffe fühlte sich vertraut an und gab ihm Kraft. Doch schon im nächsten Augenblick ließ er das Beil sinken.

„Ike!"Erleichtert atmete Buck auf.

Der junge Reiter drängte sich neben ihn und nahm die Zügel seines Pferdes. Er grinste breit und seine weißen Zähne blitzten im Dunkel der Nacht.

„Nein, ich bin nicht nervös!", antwortete Buck unwirsch auf die Handzeichen seines stummen Gefährten. „Aber wenn du dich weiter auf diese Weise an mich heranschleichst, mein Freund, werde ich dir eines Tages noch den Schädel spalten."

Ike lachte lautlos und wies mit der ausgestreckten Hand zum Haus hinüber.

„Die anderen sind beim Abendessen? Dann komme ich ja gerade rechtzeitig."

Buck wollte sein Pferd in den Stall führen, doch Ike war schneller. Leichtfüßig schlüpfte er an seinem indianischen Freund vorbei und öffnete die Stalltür.

„Ich kann mein Pferd allein versorgen, du musst mir nicht... Oh!"Erstaunt blieb Buck stehen und verfolgte mit großen Augen Ikes Handzeichen. „Einen Gast? Wer... Aber Leah ist doch verletzt, sie sollte nicht... Nein, ich klinge nicht wie Emma!", schloss Buck ärgerlich.

Ike zwinkerte ihm zu, bevor er grinsend die Stute in den Stall führte. Buck blieb allein in der Dunkelheit zurück und fragte sich, ob er denn wirklich so leicht zu durchschauen war, dass er sogar nach zwei Tagen der Abwesenheit seinem besten Freund nicht einen Augenblick lang etwas vormachen konnte.

Erst sein knurrender Magen riss ihn aus seinen Gedanken. Buck seufzte und machte sich stirnrunzelnd auf den Weg zum Haus. Ebenso gut konnte er auch gleich tun, was ohnehin getan werden musste. Obwohl es ihm lieber gewesen wäre, wenn er allein gewesen wäre, um Leah zu begrüßen und seine Entschuldigung vorzubringen....

Als die Tür erneut geöffnet wurde, drehte Emma erwartungsvoll ihren Kopf. Als sie Buck erkannte, der wortlos seinen Hut an einen Haken neben der Tür hängte, lächelte sie erleichtert. Denn auch wenn der Ritt das täglich Brot dieser jungen Männer war, war sie doch jedes Mal froh, wenn einer von ihnen unbeschadet zur Station zurückkehrte. Als Buck seine staubbedeckte Jacke neben seinen Hut hängte, bemerkte Emma erstaunt die Anspannung in seinen Schultern. Der junge Kiowa hielt sich stets gerade, doch in diesem Augenblick wirkte er so steif als habe er einen Stock verschluckt.

„Guten Abend, Buck."brummte Teaspoon, während er zufrieden ein großen Stück von Emmas dampfenden Maisbrei in seinen Mund schob.

Der junge Indianer nickte stumm und glitt wortlos zwischen Jimmy und Lou auf die Bank.

„Du siehst müde aus, Buck", sagte Emma freundlich, als sie einen Teller und Besteck vor ihn auf den Tisch legte.

„Es war ein langer Ritt."

„Aber du bist heil und unbeschadet zurückgekommen", stellte Kid zufrieden fest.

„Ja."

Buck hob den Kopf, um Kid anzusehen. Doch stattdessen glitten seine Augen zu der jungen Frau, die neben dem jungen Reiter auf der Bank saß und schweigend ihre Mahlzeit zu sich nahm. Sie hielt ihren Blick gesenkt und blickte beharrlich auf ihren beinahe geleerten Teller. Emma stutzte, denn sie erinnerte sich gut daran, dass Leah nur wenige Augenblicke zuvor ein angeregtes Gespräch mit Cody über das Lesen von Büchern – Emma selbst war über diese Themenwahl erstaunt gewesen – geführt, dass nun, mit Bucks Ankunft, mit einem Mal verebbt war. Buck jedoch starrte das Mädchen an, als ob sein Leben davon abhinge. Seine dunklen Augen bohrten sich tief in ihr scheinbar so gleichgültiges Gesicht. Aber Emma konnte sie damit nicht täuschen, denn diese sah von ihrem Platz auch das paar zitternder Hände, die unter der Tischplatte die Servierte so fest umklammerten, dass die Fingerknöchel weiß unter der sonnengebräunten Haut hervortraten.

„Hier, Buck."Kid schob seinem Freund die Schüssel mit dem Maisbrei zu und wandte sich dann lächelnd an Leah. „Was glauben sie, gäbe es vielleicht in Thompkins Laden in Sweetwater ein Buch, das sie gerne lesen würden?"

Das Mädchen hob den Kopf und sah ihn an, als hätte sie kein einziges seiner Worte verstanden.

„Entschuldigung, ich war mit meinen Gedanken woanders, Kid", antwortete sie verlegen. „Was haben sie gesagt?"

„Ich dachte mir nur, dass wir in zwei oder drei Tagen wieder nach Sweetwater fahren. Dann könnten sie doch mitkommen und sich in Thompkins Laden umsehen. Vielleicht finden sie dort ein Buch, das sie gern lesen würden."

„Ganz bestimmt werden sie da etwas finden", Cody grinste breit, als Kid das Gesicht verzog, nachdem Lou ihm unter dem Tisch einen warnenden Tritt verpasst hatte. „Ich finde dort jedes Mal etwas."

„Ja, aber was?"Jimmy lachte rau. „Diesen Unsinn willst du doch nicht wirklich einem anderen Menschen anbieten, oder?

„He", Cody schob beleidigt die Unterlippe vor. „Einmal hat auch etwas über dich in meinen Büchern gestanden!"

„Erinnere mich nicht daran!"Gelangweilt winkte Jimmy ab. „Kaum etwas von dem, was dieser Schmierfink über mich geschrieben hat, ist wahr gewesen."

„Über sie ist geschrieben worden, Jimmy?", fragte Leah neugierig und die Erstarrung fiel mit einem Mal von ihr ab.

„Nun ja..."

„Erzählen sie mir davon", bat sie und schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln.

Jimmy verzog das Gesicht.

„Es ist nicht halb so aufregend, wie es sich im ersten Moment anhört", gestand er. „Aber wenn sie es trotzdem hören wollen, nun gut..."

Gedankenverloren lauschte Emmas Jimmys Erzählung. Sie hatte der warmen, rauen Stimme des jungen Reiters schon immer gern gelauscht. Doch in diesem Augenblick war sie nicht bei der Sache. Kopfschüttelnd fragte sie sich stattdessen, warum Buck seinen noch immer halb vollen Teller zur Seite schob und Jimmy einen funkelnden Blick aus seinen dunklen Augen zusandte. Dann stand er auf, griff nach seinem Hut und seiner Jacke und verschwand ohne ein Wort zu sagen, in die dunkle Nacht. Als Emma aufspringen und ihm nacheilen wollte, legte Teaspoon ihr beruhigend die Hand auf den Arm und bedeutete ihr, den jungen Indianer gehen zu lassen. Widerwillig ließ Emma sich wieder auf der harten Bank nieder. Stirnrunzelnd beobachtete sie, wie Leahs Blick für einen Moment auf der grobbehauenen Holztür liegen blieb, die Buck hinter sich ins Schloss fallen lassen hatte. Als sie bemerkte, dass Emma ihr zusah, wandte sie sich hastig wieder Jimmy zu.

Aber Emma hatte genug gesehen.

„Das Essen war hervorragend. Vielen Dank, Emma."

Leah lächelte, als sie der älteren Frau auf die Holzbohlen der Veranda vor dem Haus folgte. In den Händen hielt sie einen Becher mit dampfendem Tee, während sie sich neben Emma auf den weichen Polstern niederließ. Die Schaukel knarrte leise, als sie unter dem Gewicht der beiden Frauen sanft zu schwingen begann.

„Es freut mich, das es dir geschmeckt hat", Emma nahm einen Schluck von ihrem Tee. „Und wie ich gesehen habe, hast du dich auch angeregt unterhalten."

„Cody ist ein lustiger Mensch. Es ist kaum möglich nicht über ihn zu lachen."

Emma lächelte.

„Ja, das ist wahr. Ihm gelingt es sogar auf das traurigste Gesicht noch ein Lächeln zu zaubern."

Leah zog fragend die Augenbrauen hoch, denn der seltsame Unterton in Emmas Stimme war ihr nicht entgangen.

„Es geht mich nichts an, Leah, aber ich denke, du solltest noch einmal mit Sam sprechen."

Die junge Frau zuckte mit den Achseln und trank gleichmütig von ihrem Tee.

„Was dort draußen bei Eagle Plains geschehen ist, muss dir doch Sorge bereiten!", Emma schüttelte erregt den Kopf. „Jemand hätte dich beinahe umgebracht und du versuchst noch immer, so zu tun als wäre nichts geschehen. Leah,"Emma fasste den Arm der jüngeren Frau. „Ich will dir doch nur helfen! Sprich noch einmal mit Sam darüber."

„Es gibt nichts, was ich dem Marshall zu sagen hätte."

„Leah... Oh, Buck!"

Als Emma den dunklen Schatten bemerkte, der geräuschlos durch die kleine Tür im Zaun trat, erhob sie sich überrascht von ihrem Platz.

„Emma."Buck nickte ihr zu, während er am Fuß der Treppe zur Veranda stehen blieb. „Ich möchte mit Leah sprechen."

Emma nahm das leise Rascheln der Kleider wahr, als Leah sich ebenfalls erhob. Sie hörte, wie die junge Frau neben ihr den Atem anhielt und neben sie trat.

„Ist es dafür heute Abend nicht ein bisschen zu spät, Buck?", fragte Emma leichthin, denn sie spürte das Unbehagen der jungen Frau an ihrer Seite sehr wohl, und wollte ihr Zeit verschaffen, damit sie sich sammeln und ihre Entscheidung treffen konnte.

„Es ist wichtig."Der Schatten des Verandadachs verbarg Bucks Gesicht. „Sonst wäre ich nicht hergekommen, Emma."

Emma nickte. Sie runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts mehr. Wenn dieses Gespräch für Buck so wichtig war, dann konnte sie ohnehin nichts daran ändern. Nun lag es an Leah, zu entscheiden, was sie tun wollte. Emma spürte, wie sie eine Welle der Erleichterung überkam, als die junge wortlos nickte und an den Fuß der Treppe trat. Doch dann wandte sie sich noch einmal um und sah Emma an.

„Es tut mir Leid, Emma", sagte sie leise. „Warte nicht auf mich."

Als Emma den verzweifelten Blick in den grauen Augen des Mädchens sah, schnürte es ihr vor Mitgefühl die Kehle zu. Sie nickte stumm und nahm die halb volle Teetasse entgegen, die Leah ihr entgegenstreckte. Sie sah ihr und Buck nach, wie sie Seite an Seite in der Dunkelheit verschwanden und fragte sich dabei, was das Mädchen so quälen mochte, dass sie es nicht einmal wagte, davon zu sprechen. Die beiden Teetassen schlugen klirrend aneinander. Wenn sie nur Buck nicht auch noch da hinein zog!

Am Zaun der Pferdekoppel blieb Buck stehen. Auch ohne sich nach ihr umzusehen, wusste er, dass Leah ihm durch die Nacht bis hierher gefolgt war. Er legte die Arme auf den mittleren Holm und wartete bis sie neben ihm stand. Es war ihm bereits schwer gefallen sie in Emmas Gegenwart zu einem Gespräch aufzufordern, doch was er nun zu tun beabsichtigte, war noch bedeutend schwerer. Er holte tief Luft und nahm all seinen Mut zusammen. Dann wandte er sich entschlossen zu ihr um.

„Leah."Seine Stimme klang rau und krächzend, und er räusperte sich verlegen.

Der Mond schien ihr in das ebenmäßige Gesicht verlieh ihren Augen einen silbernen Glanz, während sie in schweigend ansah. Sie hielt ihre Arme vor der Brust verschränkt und wartete geduldig.

„Was passiert ist, tut mir Leid!"Er wusste, dass er nichts gewinnen konnte, wenn er noch länger zögerte. „Ich möchte mich entschuldigen."

Sie sah ihn an. Über ihrer Nase bildete sich eine kleine steile Falte.

„Es ist nichts geschehen", murmelte sie, während sie hastig den Blick senkte.

„Oh doch, dass ist es."Er wünschte sich sehnlichst, es wäre weniger schwer die richtigen Worte zu finden. „Hör zu, was auch immer Sam gesagt hat... ich glaube kein Wort davon!"

„Glaub, was du willst, Buck."

Er stutzte.

„Was...?"

„Du hast mich verstanden."Sie hob den Kopf und starrte ihn an. „Du weißt nichts über mich, gar nichts, und darum kannst du glauben, was immer du willst. Denn es ist ohne Belang für mich!"

„Leah..."

„Nein!"Sie hob abwehrend die Hände, als er einen Schritt auf sie zu tat. „Es ist so, wie ich sage. Und das ist gut so. Denn in wenigen Tagen werde ich diese Station ohnehin verlassen. Es gibt also keinen Anlass dazu, dass du dir meinetwegen deinen Kopf zerbrichst!"

„Ich..."

„Gute Nacht, Buck."

Ohne auch nur auf seine Entgegnung zu warten, wandte sie sich ab und verschwand mit wehenden Röcken in der Dunkelheit.

Buck jedoch blieb neben der Koppel stehen und sah ihr nach. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand auf den Kopf geschlagen, und es dauerte einige Augenblicke, bis ihm langsam die Bedeutung ihrer Worte zu dämmern begann. Die Station verlassen? Aber... Sie wird fortgehen! Der Gedanke jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Er wollte ihr folgen, doch seine Füße schienen im Boden neben der Koppel verwurzelt zu sein. Sie würde fortgehen... Und das ist meine Schuld! Wütend versetzte er dem Zaun einen Tritt. Es ist meine Schuld, dass sie gehen wird! Er war ein Narr, da er überhaupt fortgeritten war. Wenn er stattdessen geblieben wäre, dann hätten die Dinge ganz sicher einen anderen Verlauf genommen... Die Holzholmen vibrierten noch immer von der Wucht des Trittes, als Buck seine Arme darauf legte und stöhnend die Stirn in seinen Händen vergrub.

„Sie ist ein hübsches Mädchen."Cody verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und lehnte sich zufrieden zurück.

„So hübsch ist sie nun auch wieder nicht!" Mürrisch warf Lou ihre Jacke über den Bettpfosten. „Was ihr nur wieder habt!"

„Auf jeden Fall ist sie stur wie ein Esel."Kid lachte. „Sie hat dich ganz schön in Wut versetzt, Jimmy! Ich habe noch nie gesehen, dass du dich wegen eines Paar Schuhe so aufgeregt hast."

„Halt die Klappe, Kid!"

„Ja, er ist wohl heute ein wenig empfindlich." Entgegnete Cody grinsend auf Ikes Handzeichen hin. „Was wohl daran liegen mag, dass sie mich angelächelt hat und nicht ihn. Unser Hickock spielt eben ungern die zweite Geige."

„Die zweite Geige, das ich nicht lache!"

„Aber so ist es", Cody lachte zufrieden.

„Blödsinn!"

„Ja, du hast Recht, Ike, so sehe ich das auch", wandte Kid grinsend ein. „Sie hat uns alle angelächelt. He, Lou, wo willst du hin? Warte!"

Ike schüttelte den Kopf, während er beobachtete, wie sein Freund der wutschnaubenden Lou durch die Tür in die dunkle Nacht folgte.

„Ja, ja, die Liebe", sinnierte Cody gedankenverloren. „Der eine hat sie, der andere nicht..."

„Bist du da nicht ein wenig vorschnell? Was ist mit Allison Moyer, Cody?"

„Allison? Wer ist Allison?"Träumerisch schloss Cody die Augen. „Ab heute gibt es nur noch eine Frau für mich. Nur noch eine einzige."

„An deiner Stelle wäre ich ein wenig vorsichtiger", brummte Jimmy. „Diese Frau ist ein Pulverfass!"

Cody kicherte.

„Vorhin hatte ich eher den Eindruck, als wärest du das Pulverfass, an dem Leah die Lunte entzündet hat."

Jimmy knurrte wütend.

„Ich warne dich, Cody, lass dich nicht mit ihr ein!"

„Weil du sie für dich selbst willst?"Codys blaue Augen blitzten herausfordernd, als er sich in seinem Bett aufsetzte. „Ist es das, was dich ärgert?"

„Ich will sie nicht, ganz bestimmt nicht! Wach auf, Mann! Sie ist eine Squaw! Das hat Teaspoon selbst gesagt! Wer weiß denn schon, wie viele Rothäute sie bereits gehabt haben? Willst du eine Frau, die die Wilden bereits beschmutzt und missbraucht haben, Cody?"

„Hickock..."

„Glaub doch, was du willst, Cody! Aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt! Sie ist eine Indianerhure und das ist etwas, das du niemals vergessen solltest!"

„Ist das so?"

Jimmy fuhr herum. Erschrocken starrte er Buck an, der lautlos durch die Tür in das Schlafhaus getreten war. Sein eisiger Blick verriet Jimmy, dass der Kiowa seine letzten Worte gehört hatte.

„Wer hat dich zu ihrem Richter berufen, Jimmy?" Bucks Stimme war schneidend und sandte den übrigen Reitern einen kalten Schauer über den Rücken. „Wer hat dich dazu berufen, ein Urteil über diese Frau zu fällen?"

„Buck, hör zu..."

„Nein!"

Ike trat hinzu und legte seinem Freund beruhigend die Hand auf den Arm.

Doch Buck schüttelte ihn ab, ohne sich umzuwenden.

„Was immer Leah widerfahren ist, Hickock, ist nichts, worüber du zu richten hast! Du hast keine Ahnung, was mit ihr geschehen ist!"

„Das ist richtig. Aber wenigstens war es nicht mein Volk, dass über sie hergefallen ist!"

„Hoo, Jungs! Langsam!"

Blitzschnell war Cody von seinem Lager geglitten und schob sich zwischen die beiden aufgebrachten Reiter. Nur mit Ikes Hilfe gelang es ihm, de wutschnaubenden Buck daran zu hindern, sich auf Jimmy zu stürzen.

„Wie ich sehe, seit ihr nicht ausgelastet, Jungs."

Die vier Reiter fuhren herum und entdeckten Teaspoon, der mit gerunzelter Stirn im Türrahmen lehnte.

„Äh, Teaspoon..."

Verlegen ließ Cody Bucks Arm fahren und starrte zu Boden. Der junge Kiowa machte sich mit einem Ruck aus Ikes Griff los und stürmte zur Tür. Teaspoon sah ihm schweigend nach, wie er in der dunklen Nacht verschwand. Dann wandte er sich den zurückgebliebenen Männern zu.

„Morgen Früh reiten wir raus zur Südweide", verkündete er mit unheilvoll zusammengezogenen Augenbrauen. „Dort wartet eine halbe Meile Zaun darauf geflickt zu werden. Das sollte eure Gemüter ein wenig abkühlen, Jungs."

„Teaspoon..."

„Ich will nichts hören, Cody. Morgen Früh bei Sonnenaufgang brechen wir auf! Ach, und Jimmy", Teaspoon bohrte seinen Blick in das Gesicht des Reiters, „mäßige dich in deiner Wortwahl. Sonst wird es dir eines Tages noch Leid tun!"