5. Kapitel – Der Überfall

Die leichte morgendliche Brise wehte den Geruch von gebratenem Speck und frischem Brot herbei. Der rotblonde Reiter reckte sich im Sattel und hielt seine Nase in den Wind. Die verlockenden Gerüche ließen das Wasser in seinem Mund zusammenlaufen und erinnerten ihn gleichzeitig nachdrücklich daran, warum er an diesem hereinbrechenden Morgen im Sattel seiner Stute saß, anstatt in Lotties Saloon neben einer ihrer jungen Huren in den weichen Laken aufzuwachen. Er hatte den Auftrag verpatzt, und der Boss war wütend. Der rotblonde Reiter ritt lange genug an der Seite dieses Mannes, um zu wissen, was sein Versagen bedeutete: dies hier war seine letzte Chance, um wieder gut zu machen, was er wenige Tage zuvor verdorben hatte. Würde das Mädchen ihm jedoch diesmal erneut entkommen, konnte er sich ebenso gut gleich selbst eine Kugel in den Kopf jagen. Denn der Boss machte keine Umstände, wenn es darum ging, einen säumigen Geschäftsmann oder eine dreckige Rothaut abzuknallen, wann immer er es für richtig hielt! Und mit seinen Männern verfuhr er ebenso. Doch an der Seite dieses unberechenbaren Mannes hatte der rotblonde Reiter in wenigen Monaten gute Beute gemacht. Schutzgelderpressung und gelegentliche Banküberfälle waren ein einträgliches Geschäft und versprachen jedem Mann, der sich diesem Risiko stellte, ein einträgliches Einkommen und hin und wieder ein Leben in Saus und Braus. Wer an der Seite des Bosses ritt, hatte nie über Armut und Hunger, über Langeweile und Eintönigkeit zu klagen. Das Risiko, das mit diesem schillernden Leben verbunden war, nahmen die Männer willig in Kauf. Der Verlust des eigenen Lebens war keine Sorge, die sie plagte und ihnen den Schlaf raubte, und so sorgte sich auch der rothaarige Reiter für gewöhnlich nicht darum. Nun jedoch, da ihm das Mädchen, das er längst tot geglaubt hatte, entkommen war, stellte er sich diesem Gedanken zum ersten Mal in seinem Leben, widerwillig und voller Abneigung. Es war ein wahrhaft schwarzer Tag für ihn gewesen, als Stanford in Lager geritten war und berichtet hatte, was er in Sweetwater von dem großspurigen Pony-Express-Reiter auf der Straße erlauscht hatte. Sein Triumph war auf der Stelle vorbei gewesen, denn die verdammte kleine Schlampe lebte noch! Wie durch ein Wunder war es ihr gelungen seinen Kugeln zu entkommen – dabei hatte er sie vom Pferd stürzen sehen - und sich zur Pony-Express-Station zu retten! Gedankenverloren rieb der rothaarige Reiter die schmerzhafte Schwellung an seinem unrasierten Kinn. Der Fausthieb des Bosses hatte ihn unerwartet und wohlgezielt getroffen, und ihn zwei Zähne gekostet. Dennoch konnte er von Glück sagen, dass er überhaupt noch am Leben war und den Verlust seiner Zähne beklagen konnte. Der Boss war unberechenbar und so hatte der Rothaarige sein Leben allein dem Zufall und den Launen des Schicksals zu verdanken. Ohne Zweifel hätte die Sache auch ganz anders für ihn enden können. Aber er hatte noch einmal eine Chance erhalten, um seinen Fehler wieder gut zu machen. Und diese Gelegenheit würde er nutzen! Noch einmal würde ihm das verdammte Mädchen nicht entkommen! Diesmal würde sie für die Schmach die er erlitten hatte bezahlen!

Zähneknirschend lenkte der rothaarige Reiter seine Stute auf das Haus zu, das einladend inmitten der Scheune und Ställe aufragte. Aber es war noch früh am morgen und kein Mensch war zu sehen. Allein die verlockenden Düfte, die aus dem steinernen Schornstein aufstiegen, verrieten, dass an diesem einladenden Menschen lebten und arbeiteten. Der Rothaarige presste entschlossen die schmalen Lippen aufeinander. Erst würde er sich das Mädchen holen und dann würde er an ein anständiges Frühstück denken. Und es sah aus, als würde er hier bei der Pony-Express-Station, bei Emma Shannons Farm, wie man ihm in der Stadt gesagt hatte, beides bekommen.

Der Reiter lachte rau und trieb sein Pferd an. Die drei bärtigen Männer mit den verschlagenen Gesichtern folgten ihm wortlos, als er seine Stute zielstrebig an der hölzernen Scheune vorbei und auf den freien Platz vor dem Haus lenkte. Auf ein Handzeichen ihres Anführers hin zügelten sie ihre Tiere vor dem kleinen, weiß gestrichenen Gartenzaun, der das Wohnhaus umschloss.

Als Emma den Hufschlag vor dem Haus hörte, hob sie erstaunt den Kopf. Sie wusste, dass Teaspoon mit seinen Reitern zur Südweide hinausgeritten war, um dort die Zäune zu reparieren, die ein Gewittersturm vor wenigen Wochen zerstört hatte. Es war kaum eine Stunde lang her, dass die Männer aufgebrochen waren, und wenn sie nun bereits zurückkehrten, hatte das nichts Gutes zu bedeuten. Mit sorgenvoller Miene legte Emma den dampfenden Brotlaib, den sie soeben aus dem Ofen geholt hatte, auf ein hölzerne Platte, wo er abkühlen konnte, und wischte die mehlbestaubten Hände an ihrer Schürze ab. Es gab noch so viel zu tun. Der Apfelkuchen für das Mittagessen musste noch gebacken werden, und die beiden Hühner für das Abendessen ausgenommen werden, um von dem Frühstück für sie selbst und Leah gar nicht zu reden. Emma seufzte, während sie sich hastig eine Strähne ihres roten Haares, das sich aus dem strengen Knoten in ihrem Nacken gelöst hatte, hinter das Ohr schob. Sie konnte eine Störung nun wirklich nicht gebrauchen! Doch schon im nächsten Augenblick meldete sich die Sorge darüber, was der Anlass für die verfrühte Rückkehr der Männer sein konnte. War gar einer von ihnen verletzt? Erschrocken presste Emma die Lippen aufeinander und eilte zur Tür.

Sie hatte die Stufen der Veranda beinahe erreicht, bevor sie in ihrer Eile bemerkte, dass die vier Männer, die soeben durch das kleine Tor im Zaun traten, keine Pony-Express-Reiter waren. Emma stützte. Unsicher blieb sie stehen und beobachtete missbilligend, der letzte der vier fremden Männer das Tor hinter sich weit offen stehen ließ. Wer waren diese Männer? Ein gedrungener rotblonder Mann mit einem stoppeligen Bart ging ihnen voran. Seine Nase war krumm und seine hellen Augen stechend. Die Männer hinter ihm sahen wenig vertrauenserweckend aus. Ihre Kleider waren mit dem hellen Staub der Plains bedeckt. Emma runzelte die Stirn. Sie kannte keinen von ihnen. Mit gerunzelter Stirn dachte sie daran, dass sich außer ihr niemand anders als Leah im Haus befand. Dieser Gedanke jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Doch tapfer beschloss sie, sich durch das unerwartete Auftauchen der Fremden nicht beirren zu lassen. Vermutlich waren es harmlose Reisende, die auf ihrem Weg durch die Prärien einfach nicht die Zeit für ein wenig Körperpflege gefunden hatten. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass Reisende nach Sweetwater verschmutzt und müde an ihrer Tür nach dem Weg fragten und um einen Schluck Wasser baten. Entschlossen streckte Emma ihren Rücken durch und wartete, bis die Männer den Fuß der Verandatreppe erreicht hatten.

Der Rothaarige legte grüßend die Hand an die Krempe seines staubigen Hutes. Stirnrunzelnd beobachtete Emma, wie sich die drei anderen Männer hinter ihm aufreihten.

„Ma'am."

Emma nickte zur Antwort leicht mit dem Kopf. Dabei ließ sie die Fremden nicht aus den Augen.

„Ist das hier die Shannon-Farm?", fragte der Rothaarige, während sein unsteter Blick an Emma vorbei und an den Fenstern des Hauses entlang glitt.

Der trübe Glanz seiner hellen Augen ließ Emma nach Luft schnappen.

„Ich bin Emma Shannon", antwortete sie dennoch tapfer.

„Ist ihr Mann zuhause, Ma'am?" Die Stimme des Mannes war rau vom Whiskey.

Emma richtete sich zu ihrer vollen Größe auf.

„Was auch immer sie für eine Auskunft haben wollen, Mister, ich kann sie ihnen ebenso gut geben."

Die schmalen Lippen des Rothaarigen verzogen sich zu einem zufriedenen Grinsen. Deutlich konnte Emma die breite Lücken zwischen den Zähnen seines Unterkiefers erkennen. Der Fremde stieß ein schnalzendes Geräusch aus, bevor er antwortete.

„Wir wollen keine Auskunft, Mrs. Shannon."

„Was wollen sie dann?"

„Wir möchten ihren Gast sehen."

Emma hob erstaunt den Kopf.

„Wie bitte?"

„Sie haben mich schon verstanden, Mrs. Shannon."

„Ich fürchte nicht, Mister."

„Wir suchen die junge Lady, die sie unter ihrem Dach beherbergen, Mrs. Shannon. Nein, sagen sie das nicht!" Seine hellen Augen nahmen ein bedrohliches Glitzern an, als Emma den Mund zu einer Entgegnung öffnen wollte. „Wir wissen, dass das Mädchen hier ist. Erzählen sie uns nichts anderes!"

Niemals zuvor hatte Emma sich sehnlicher gewünscht, dass Teaspoon und seine Reiter in der Nähe wären, als in diesem Augenblick. Ihre Hände begannen zu zittern.

„Wer sind sie?", fragte sie leise.

„Das möchten sie nicht wissen, Mrs. Shannon. Wir wollen zu ihrem Gast. Tun sie uns also diesen Gefallen."

Die Hand des Rothaarigen legte sich drohend auf den silberbeschlagenen Knauf seines Revolvers.

Die Empörung über das, was Jimmy am vergangenen Abend gesagt hatte, brannte noch immer tief in Bucks Seele. Allein, wenn er daran zurückdachte, wallte der Ärger in seinen Adern auf, wie die Flammen eines Präriebrandes. Doch das war es nicht allein, was ihm an diesem Morgen quälte, während er, Seite an Seite mit Kid, die schwere Rolle des spitzen Stacheldrahtes hielt, den Ike mit geübten Fingern ausrollte. Er dachte auch an Leah und die kalte Ablehnung, mit der sie auf seine – zugegeben nicht besonders geschickt vorgebrachte – Entschuldigung geantwortet hatte. Sie würde fortgehen. Allein der Gedanke daran versetzte Buck eines schmerzhaften Stich. Gleichzeitig schallt er sich einen dummen Narren. Natürlich würde sie gehen, denn was sollte sie sonst tun? Ihre Familie lebte im Süden, es gab also keinen Grund für sie zu bleiben! Tief in seinem Herzen wünschte Buck sich, es wäre anders gewesen...

Mit einem Schmerzensschrei ließ Cody den Hammer fallen.

„Verfluchter Mist!", stieß er unter zusammengebissenen Zähnen hervor, während er seinen Daumen anklagend betrachtete.

Teaspoon runzelte die Stirn.

„Du solltest dich ein wenig mehr konzentrieren auf deine Arbeit konzentrieren, Sohn", brummte er missbilligend.

„Ach was, die Arbeit! Es gibt auch noch andere Dinge im Leben!" Ärgerlich versetzte Cody dem Hammer einen Tritt.

„Verdammt, Cody, schlag sie dir doch endlich aus dem Kopf!", knurrte Jimmy. „Sie ist nichts für dich!"

Codys blaue Augen funkelten, doch bevor er zu einer Entgegnung ansetzen konnte, kam ihm Lou zur Hilfe.

„Das kannst du gar nicht wissen, Jimmy. Du kennst sie ja nicht einmal. Und wenn Cody nun etwas für sie empfindet, dann..."

„Was ich über sie weiß, ist genug!"

„Ach ja?"

Buck schnellte nach vor und verstellte dem anderen Reiter anklagend den Weg. Kid fluchte unterdrückt, als ihm die Stacheldrahtrolle aus den Händen glitt und zu Boden fiel.

„Ja, Buck. Ich weiß genug." Jimmy kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme vor der nackten Brust. „Möchtest du es vielleicht noch einmal von mir hören?"

„Jungs!" Entschlossen trat Teaspoon zwischen die beiden Reiter. „Das reicht!"

„Du weißt gar nichts, Jimmy!", zischte Buck über die Schulter des älteren Mannes zurück. „Gar nichts!"

„Buck..."

„Und du weißt mehr als ich, ja? Hat sie dir also etwas erzählt? Das wundert mich nicht, denn Gleich und Gleich gesellt sich ja nur zu gern!"

Bucks Ansturm erfolgte so plötzlich, dass Teaspoon unter dem Aufprall stolpert und zur Seite taumelte. Dieser kurze Moment genügte dem jungen Kiowa sich auf Jimmy zu stürzen und ihm einen kräftigen Fausthieb gegen das Kinn zu verpassen. Der Reiter taumelte und ging keuchend zu Boden, als Buck sich mit einem wütenden Schrei ein zweites Mal auf ihn warf. Eng umschlungen rollten die beiden Männer durch das trockene Gras.

Mit gerunzelter Stirn half Cody Teaspoon vom Boden hoch.

"Was mag nur in die beiden gefahren sein?", murmelte er dabei.

„Ich will es lieber gar nicht wissen!" Entschlossen schob Teaspoon die helfenden Hände des jungen Reiters zur Seite und trat vor. „Das ist hier ist jedenfalls genug! Kid! Ike!"

Der Stahl des Revolverlaufs fühlte sich kalt an Emmas Schläfe an. Beinahe unwirklich fühlte sie den Druck der Waffe auf ihrer Haut und schloss die Augen. Wo bin ich hier nur hineingeraten?

„Mrs. Shannon", hörte sie eine kalte, raue Stimme neben ihrem Ohr sagen und der Geruch von kaltem Rauch und Alkohol raubte ihr beinah den Atem, „das ist nun ihre letzte Chance! Wo steckt das verfluchte Mädchen?"

Emma schluckte. Was wollten diese Banditen von Leah? Was hatte das Mädchen nur getan, um die Aufmerksamkeit dieser ungehobelten, brutalen Männer zu erlangen? Emma schluckte, doch kein Ton wollte über ihre zitternden Lippen kommen. Sie dachte an Sam und daran, dass er wahrscheinlich nicht einmal ahnte, was in diesem Augenblick mit ihr geschah.

„Mrs. Shannon. Wir werden nicht länger auf eine Antwort warten! Zum letzten Mal, wo ist das Mädchen?"

Der Mann, der ihren Arm umfasst hielt, spannte den Hahn seiner Waffe. Das metallene Klicken klang so laut wie ein Gewehrschuss in ihren Ohren. Oh, Sam...

„Walker, Trent, durchsucht das Haus! Holt die kleine Schlampe da raus!"

Emma hörte das Rasseln der Sporen und die Absätze der Stiefel auf den Holzbohlen der Veranda als die beiden Männer vortraten, um in das Haus einzudringen.

„Bitte...", flehte sie krächzend, doch dann versagte ihre Stimme den Dienst.

Der Mann, der sie festhielt, lachte laut. Doch dann verstummte er plötzlich. Emma erstarrte. Auch die anderen Männer warten stehen geblieben. Der Rothaarige sog zischend Atem ein.

„Sieht aus, als könnten wir uns die Mühe sparen", knurrte er durch die zusammengepressten, lückenhaften Zähne.

Im nächsten Augenblick spürte Emma, wie der Druck des Revolvers an ihrer Schläfe nachließ. Unsicher öffnete sie die Augen und blinzelte.

Im Türrahmen lehnte Leah. Sie hatte ihre blutverschmierte Lederjacke über das blaue Kleid geworfen, dass Emma ihr gegeben hatte, und der fransenbesetzte Ärmel hing leer über ihrer verletzten Schulter. Ihr Gesicht war bleich, doch ihre grauen Augen blitzten. In ihnen lag etwas, dass Emma erschauern ließ. Das Mädchen betrachtete die vier Männer mit ausdruckloser Miene und für einen Augenblick erschien es, als ob allein ihr Blick genügte, um die Banditen in Schach zu halten.

Doch dann versetzte der Rothaarige Emma einen Stoß, der sie taumeln ließ und einem zweiten Mann in die Arme warf. Sie stöhnte vor Schmerz, als dieser Mann ihr an die Kehle griff und sie zu sich heranzog.

„Du kommst weniger nach deinem Vater, als ich gedacht hätte." Der rothaarige Mann spuckte aus, während der Atem zischend durch seine Zähne pfiff. „Anscheinend hast du mehr Mumm als er, denn du versteckst dich nicht."

Leah erwiderte seinen Blick stumm, und Emma fragte sich verzweifelt, wie sie so gelassen dastehen konnte.

„Bei unserem letzten Zusammentreffen hast du Glück gehabt. Aber ich wusste, dass wir uns wieder sehen werden, Indianerliebchen! Und diesmal werde ich das letzte sein, was du siehst! Walker, Trent, schnappt euch dieses Flittchen, und dann verschwinden wir von hier!"

Die beiden Männer traten vor. Das Klicken der Revolverhähne hallte in ihren Ohren wieder. Emma schrie. Sie versuchte sich loszureißen, doch die Finger ihres Peinigers schlossen sich enger um ihre Kehle. Hilflos schnappte sie nach Luft. Ihre vor Angst weit aufgerissenen Augen suchten Leahs schlanke Gestalt, doch die Banditen versperrten Emma die Sicht. Ein Schuss löste sich und Emma schrie ein zweites Mal. Sie sah eine dunklen Schatten, der über die Veranda glitt und auf sie zusprang. Die Finger des Banditen drückten ihr die Kehle zu und Emma taumelte. Die stählernen Hände des Mannes hielten sie, während ihre Knie unter ihrem zitternden Körper nachgaben. Ein dunkler Blutstrom ergoss sich plötzlich über die Brust des Rothaarigen und der Mann, der Emma fest hielt, fluchte lautstark. Ein Schuss dröhnte. Emma sah, wie die Kugel der Waffe ein großes Loch in die Brust des Rothaarigen riss. Während der Mann mit weit aufgerissenen Augen und starrem Blick zusammenbrach, blitze ein zweiter Revolver auf. Das Mündungsfeuer blendete Emma. Sie kniff erschrocken die Augen zusammen. Warme Flüssigkeit spritzte ihr ins Gesicht und ein gurgelndes Geräusch drang an ihr Ohr. Wie in weiter Ferne spürte sie, wie sich der stählerne Griff ihres Peinigers von ihrer Kehle löste. Sie schrie, doch das Blut rauschte so sehr in ihren Ohren, dass sich noch nicht einmal das wahrnahm. Dann erhielt sie einen Stoß in die Seite und fiel.

Das Donnern der Schüsse ließ die Postreiter die Köpfe heben. Mit einem Mal war der Streit zwischen Buck und Jimmy vergessen, und auch das Blut, dass Jimmy aus der Nase über das Kinn lief, soeben noch Ausgangspunkt einer lebhaften Diskussion mit Teaspoon, war plötzlich nicht mehr der Rede wert.

„Das kommt von der Station!" Kids Augen blitzten besorgt auf.

„Emma!" Jimmy eilte an ihm vorbei und sprang in den Sattel seines Pferdes.

Doch auch Buck und Teaspoon zögerten keinen Augenblick. Nur wenige Sekunden, nachdem die ersten Schüsse in der Ferne verklungen waren, stoben die sieben Reiter in einer dichten Staubwolke über die Südweide davon. Doch auch unter dem donnernden Hufschlag der Pferde war das Krachen der Mündungsfeuer noch zu vernehmen und trieb die Männer zur Eile an.

Emmas Handflächen brannten. Ein spitzer, langer Holzsplitter hatte sich tief in ihren rechten Handballen eingegraben, und sie schmeckte den metallenen Geschmack von Blut in ihrem Mund. Aber wenigstens konnte sie wieder atmen! Als sie den Kopf hob und sich vom Boden abstützte, blitzte über ihrem Kopf helles Mündungsfeuer auf und blendete sie. Plötzlich war Leah neben ihr. Der Pulverdampf brannte in Emmas Augen, sodass sie das Gesicht der junge Frau kaum erkennen könnte, obwohl sie direkt neben ihr am Boden kniete. Aber sie sah den glänzenden Revolver, den Leah in ihren Händen hielt.

„Woher hast du die Waffe?", krächzte Emma verwirrt.

„Das ist jetzt unwichtig!" Leah versetzte ihr einen derben Stoß. „Wir müssen hier weg! Zwei der Banditen leben noch, Emma! Und sie haben nicht vor, uns entkommen zu lassen!"

„Zwei...?"

Mit Leahs Hilfe kam Emma zitternd auf die Beine. Da fiel ihr Blick auf den Toten, der ausgestreckt auf den Bohlen der Veranda lag. Es war der Mann, der Emma zuletzt fest gehalten hatte. Seine Augen starrten starr zum Himmel hinauf. In der Mitte seiner schmutzigen Stirn befand sich ein rundes Einschussloch. Emma schluckte, als sie spürte, wie die Übelkeit langsam in ihrer Brust heraufkroch. Eine Kugel, die sich zischend neben ihrem Kopf in das Geländer bohrte und einen wahren Regen von Holzspänen über sie ergoss, ließ sie zusammenfahren. Hastig folgte sie Leah, die geduckt über die Veranda eilte und mit einer geschmeidigen Bewegung zwischen den Verstrebungen des Geländers hindurchglitt.

„Emma, schnell!"

Das Mündungsfeuer der Revolver blitzte, während Emma sich kopfüber zwischen den Balken hindurch warf. Sie stürzte von der Veranda auf den staubigen Boden ihres kleinen Blumenbeets und der Aufprall trieb ihr die Luft aus den Lungen. Neben ihr feuerte Leah einen Schuss ab. Aber sie ließ Emma keine Zeit, um sich von ihrem Sturz zu erholen.

„Unter die Veranda, Emma! Schnell!"

Atemlos rollte Emma unter den Zwischenraum zwischen der Eingangstür und der Treppe. Die Öffnung war schmal und sie musste sich zusammenkauern, damit sie überhaupt Platz darunter fand. Der Boden war schmutzig und die dunkle Staubwolke, die sie aufwirbelte, ließ Emma husten.

„Leah!" Keuchend kroch Emma zu der Öffnung zurück und steckte ihren Kopf hindurch.

Die junge Frau kniete neben dem Fuß der Treppe am Boden. Sie hielt ihren Revolver fest umklammert. Eine Kugel sauste über ihren Kopf hinweg und schlug in das Holz der Treppe ein. Emma schrie auf.

„Hier!" Leah schob Emma den Revolver entgegen. „Sei vorsichtig! Es ist nur noch eine einzige Kugel im Lauf!"

Der Griff der Waffe fühlte sich warm unter Emmas Fingern an und verlieh ihr ein eigenartiges Gefühl der Sicherheit. Leah sprang von ihrem Platz neben der Treppe auf.

„Bleib hier! Versteck dich!"

Dann war sie verschwunden.

„Leah!" Emma erstickter Schrei verhallte unverhört.

Durch das Gewehrfeuer hindurch vernahm sie leise Schritte auf den Holzplanken über ihrem Kopf, die sich schnell entfernten. Der dumpfe Aufschlag eines Körpers ließ Emma erstarren. Sie lauschte angestrengt. Doch nichts rührte sich mehr. Die Banditen hatten das Feuer eingestellt.

„Leah...", flüsterte Emma erstickt.

Schluchzend presste sie ihren Körper enger gegen die rauen Holzplanken der Treppe.

Während die Schüsse in der Ferne erklungen waren, war ihm der Weg unendlich lang geworden und er hatte mehr als genug Zeit gefunden, um sich das Schreckliche ausmalen zu können, dass er und die übrigen Reiter auf der Station vorfinden würden. Doch das, was er sah, als die Pferde mit donnernden Hufen auf das Haus zu galoppierten, ließ seinen Atem stocken. Nur schemenhaft nahm er die beiden Männer wahr, die mit gezogenen Waffen auf beiden Seiten der Veranda am Boden hockten. Sein Augenmerk richtete sich allein auf die schlanke Gestalt in dem blauen Kleid, die regungslos auf den blutgetränkten Holzbohlen lag. Buck machte sich nicht einmal die Mühe aus dem Sattel zu springen, sondern trieb sein Pferd voran. Mit einem Sprung setzte die dunkelbraune Stute über den weißen Zaun hinweg und zermalmte mit ihren Hufen den Gemüsegarten, den Emma mit Hingabe und Sorgfalt den ganzen Sommer über gepflegt hatte. Grüne Kohlköpfe und Bohnenstangen flogen nach allen Seiten, als sich die Stute, angetrieben von ihrem verzweifelten Reiter, ihren Weg durch die Gemüsebeete bahnte.

Jimmys Stute setzte über den Zaun hinweg, doch noch bevor ihre Hufe den zertrampelten Erdboden berührt hatten, berührten die Finger des jungen Postreiters den Abzug seiner Waffe. Der Schuss dröhnte und der Fremde, der sich auf der rechten Seite des Hauses verborgen und soeben auf Buck angelegt hatte, warf die Arme in die Höhe und brach lautlos zusammen.

„Emma!"

Er konnte ihren roten Haarschopf erkennen, der sich soeben neben der Treppe erhob, und hätte vor Erleichterung darüber, dass wenigstens sie noch lebte, am liebsten laut gejubelt. Doch dann sah er das Blut in ihrem Gesicht und auf ihrem Kleid und erstarrte. Emma rief etwas, doch er konnte die Worte nicht verstehen. Den zweiten Mann, der mit erhobener Waffe hinter dem Haus hervorsprang, sah er zu spät. Der Schuss erfüllte die Luft, noch bevor Jimmy Gelegenheit fand seine eigene Waffe zu erheben. Seine Hände ließen die Zügel fahren und er ließ sich zu Boden fallen, in der Hoffnung, dem tödlichen Geschoss doch noch entgehen zu können.

Noch bevor Jimmys Hände den Erdboden berührten, traf Kids Kugel den bärtigen Mann mitten ins Herz.

Als der bärtige Mann in die Knie sank, erreichte Buck die Treppe. Ohne zu zögern glitt er aus dem Sattel und eilte mit einem großen Satz die Stufen zur Veranda hinauf. Sein Blick streifte die beiden Toten, die zusammengekrümmt in ihrem Blut auf den Holzbohlen lagen. Doch er war nicht wegen dieser Männer hier! Atemlos ließ er sich neben Leah auf die Knie fallen. Auf dem blauen Stoff ihres Rockes breitete sich ein dunkler Blutfleck aus und für einen Moment glaubte Buck, sie wäre tot. Der schreckliche Gedanke genügte, um ihm den letzten Atem aus den Lungen zu pressen. Aber dann sah er, dass sie atmete, das sich ihre Brust sanft hob und senkte, beobachtete, wie sich ihre Finger bewegten und ihre Augenlider flackerten. Sie lebt! Vor Erleichterung begann Bucks Herz schneller zu schlagen.

„Leah." Vorsichtig strich er eine blonde Haarsträhne aus ihrem Gesicht.

Über ihre Wange zog sich eine hässliche Schramme und die Haut fühlte sich heiß an. Vorsichtig richtete Buck ihren Körper auf. Ein paar Blutspritzer zogen sich über den blauen Stoff des Kleides und über das schmutzige Leder ihrer Jacke. Doch abgesehen von dem großen Blutsfleck auf dem Rock fand er keine Anzeichen für eine Verletzung.

„Leah."

Sie öffnete die Augen. Ihr Blick flackerte einen Augenblick lang, bevor sie ihn erkannte.

„Buck..."

„Was ist geschehen?"

„Buck, ich..."

„Warte! Es ist alles in Ordnung." Buck fasste ihren zitternden Arm, als sie sich unsicher erheben wollte, und zwang sie ihn anzusehen. „Die Männer, die auf dich und Emma geschossen haben, sind tot."

„Tot?"

Leah strauchelte und wäre gestürzt, wenn Buck sie nicht gehalten hätte.

„Du bist verletzt."

Das Mädchen nickte mit zusammengebissenen Zähnen.

„Lass mich nachsehen."

„Buck, es ist wirklich nicht nötig, dass..."

„Lass mich die Wunde anschauen."

Widerwillig ließ Leah sich wieder auf dem Boden nieder und ließ zu, dass Buck vorsichtig den Saum ihres Rockes zurück schob. Der blaue Stoff klebte auf der Wunde und Buck musste daran reißen, damit er sich löste. Leah stieß einen leisen Schmerzensschrei aus.

„Es tut mir Leid. Ich werde nun vorsichtiger sein."

Leah nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Sie war bleich geworden.

Auf ihrem Oberschenkel, kaum eine Handbreit oberhalb des Knies quoll das Blut in großen, feuchten Tropfen aus der Wunde. Sanft betasteten Buck Finger ihr Bein. Erleichtert stellte er fest, dass es weder eine Austrittswunde noch eine verräterische Schwellung unterhalb der Wunde gab.

„Es ist nur ein Streifschuss", erklärte er schließlich erleichtert.

„Dann reicht ein Verband aus, und ich bin so gut wie neu", entgegnete das Mädchen mit zusammengebissenen Zähnen.

Sie wartete, bis er sein Halstuch um ihren Oberschenkel gebunden hatte, um die Blutung zu stoppen, und richtete sich dann schwankend auf.

„Hilf mir, Buck", bat sie, „ich muss nach Emma sehen."

Bereitwillig half er ihr beim Aufstehen. Das verletzte Bein trug sie nicht, und so stützte sie sich schwer auf seinen Arm, als er sie die Stufen hinab führte.

„Leah! Mein Gott, wir dachten schon, du wärst tot!" Lou eilte hinzu und ihre Augen glänzten vor Erleichterung. „Was ist denn nur geschehen? Wer waren diese Männer?"

Das Mädchen antwortete nicht. Ihr Blick glitt über die Leiche des Mannes, der neben der Veranda an der Hauswand lag. Buck spürte, wie ihre Hand auf seinem Arm zu zittern begann.

„Sieh nur, da ist Emma. Und wie es aussieht, geht es ihr gut", sagte er schnell, um das Mädchen von dem Toten abzulenken.

„Jimmy!"

Als der junge Reiter auf sie zu eilte, entwand Emma sich Teaspoon Armen und eilte ihm entgegen. Jimmys Kleidung war staubbedeckt und den Strähnen seiner Haare und im Aufschlag seiner Jacke klebten die jämmerlichen Reste eines ihrer Kürbisse. Doch das störte sie nicht, so erleichtert war sie, ihn lebend zu sehen. Mit ausgebreiteten Armen fing er sie auf und drückte sie an sich.

„Emma!", murmelte er gegen ihr staubbedecktes Haar. „Du lebst, Gott sei Dank."

„Jimmy Hickock", Emma fühlte, wie ihr selbst die Tränen der Erleichterung kommen wollten und schob den jungen Reiter energisch von sich. „wie siehst du nur aus? Wenn wir in diesem Herbst keinen Kürbiskuchen bekommen, ist das allein deine Schuld!"

Behutsam entfernte sie ein Stück der orangenen Frucht aus seinem langen Haar. Jimmy grinste schief.

„Das mit deinem Beet tut mir Leid, Emma." Doch schon im nächsten Augenblick breitete sich Besorgnis über seinem ebenmäßigen Gesicht aus. „Du blutest!"

„Nein, Jimmy." Seine Sorge berührte sie, doch sie schob seine Hände entschlossen zur Seite. „Das ist nicht mein Blut. Wenigstens das meiste davon nicht..." Sie schluckte. „Es geht mir gut, Jimmy, wirklich."

Er runzelte die Stirn. Sie sah, dass er ihr kein Wort glaubte.

„Emma...", setzte er an.

Doch dann fiel sein Blick das Mädchen, dass soeben mit Bucks Hilfe die Stufen der Veranda hinabstieg. Emmas Augen waren seinem Blick gefolgt.

„Leah ist verletzt!", stieß sie besorgt aus und eilte auf die junge Frau zu.

Jimmy folgte ihr.

„Leah!" Emma fasste das Mädchen am Arm und strich ihr besorgt über die Wange. „Du bist..."

„Es ist nur ein Streifschuss", unterbrach Leah sie müde. „Ist schon gut, Emma."

„Schon gut?" Empört richtete Jimmy sich auf. „Schon gut nennst du das? Gar nichts ist gut!"

Seine Augen blitzten. Leah runzelte verwirrt die Stirn, während Buck sich schützend vor sie schob.

„Deinetwegen wäre Emma beinahe gestorben!", fauchte Jimmy erbost. „Nur deinetwegen sind diese beiden Männer zur Station gekommen. Was hier geschehen ist, ist allein deine Schuld! Durch deine Schuld hätte Emma sterben können!"

„Jimmy!" Emma fasste den jungen Reiter am Ärmel und sah ihn streng an. „Hör auf damit! Das ist doch nicht wahr!"

„Nicht wahr? Natürlich ist es wahr!"

„Lass Leah in Frieden, Jimmy." Buck verstellte ihm entschlossen den Weg, als Jimmy einen Schritt auf das Mädchen zu tat. „Sie kann ebenso wenig für das, was geschehen ist, wie du und ich!"

„Da irrst du dich, mein Junge."

Die beiden Reiter wandten sich überrascht um, als Teaspoon von der Veranda her zu ihnen trat. Der kalte Blick, mit dem der ältere Mann Leah musterte, jagte Buck einen eisigen Schauer über den Rücken.

Teaspoon überließ es Jimmy sich um die zu Tode erschrockene Emma zu kümmern. Es lag ihm ohnehin nicht besonders eine verängstigte Frau zu trösten. Eine solche Situation verursachte ihm stets Unbehagen und so überließ er diese Rolle gern dem jüngeren Postreiter, der es ohnehin nicht abwarten zu können schien, Emma seine Zuneigung und seine Sorge spüren zu lassen. Während er sich nachdenklich an seinem wie gewöhnlich unrasierten Kinn kratzte, beobachtete Teaspoon, wie auf der Veranda Buck der offenbar verletzten Leah auf die Beine half. Das Mädchen hinkte stark, als der junge Kiowa sie stützte, um ihr die Stufen hinabzuhelfen, und auf ihrem Rock zeichnete sich ein großer dunkler Blutfleck ab. Dieses Mädchen gab Teaspoon Rätsel auf. Bisher hatte er es bereitwillig Emma überlassen, diese zu lüften. Aber nun, da gab es keinen Zweifel, würde er die Dinge selbst in die Hand nehmen müssen. Während er langsam die Stufen zur Veranda hinaufstieg, dachte er über die Dinge nach, die hier vor wenigen Augenblicken geschehen waren. Vier Männer hatten ihr Leben gelassen und eine junge Frau, die auch sein Gast war, war verletzt worden. Emma war mit ein paar Schrammen und einem Schrecken davon gekommen, aber leicht hätten die Ereignisse auch anders ausgehen können! Mit gerunzelter Stirn stand Teaspoon über der Leiche des schwarzhaarigen Mannes, die nahe der Haustür auf den blutgetränkten Holzbohlen lag. Eine Kugel hatte den Toten in die Stirn getroffen. Der Schuss, der seinem Leben ein Ende bereitet hatte, war ohne Zweifel gut gezielt gewesen. Teaspoon hatte den Revolver gesehen, den Emma in der Hand gehalten hatte, aber er bezweifelte doch, dass sie in ihrem Zustand zu einem solchen Treffer in der Lage gewesen wäre. Nun, es gibt stets Zufälle im Leben...

Nachdenklich trat er zu der zweiten Leiche, die neben dem Verandageländer, die Arme weit von sich gestreckt, auf dem Rücken lag. Eine Kugel hatte ein Loch in die Brust des Mannes gerissen, doch der Schuss war nicht tödlich gewesen. Wahrscheinlich war er ohnehin nichts mehr als ein Zufallstreffer gewesen. Was Teaspoon jedoch stutzig machte, war das schimmernde Blut, dass sich um den Oberkörper des Fremden gesammelt hatte, und das sein blaues Hemd getränkt hatte und seinen rotblonden Bart verklebte. Mit gerunzelter Stirn betrachtete Teaspoon die klaffende Wunde, die sich quer über den Hals des Fremden zog. Eine derartige Verwundung hatte Teaspoon schon einmal gesehen, und er wusste, welche Kraft oder Geschicklichkeit ein Mensch aufbringen musste, um einem erwachsenen Mann auf diese Weise die Kehle durchzuschneiden. Sein Fuß stieß gegen einen Gegenstand, der neben der Leiche am Boden lag. Es klirrte leise. Teaspoon bückte sich und hob ihn auf. Gedankenverloren starrte er auf das lange Messer. Er hatte es schon einmal in Emmas Küche gesehen, wo sie es dazu benutzte, um Fleisch zu schneiden und Hühner auszuweiden. Die gerade, scharfkantige Klinge war schwarz. Das klebrige Blut des Toten zog sich als dunkel glänzende Schicht über das ehemals blitzende Metall. Ungläubig schüttelte Teaspoon den Kopf.

Da vernahm er Schritte hinter sich und wandte sich um. Als er Cody die Stufen hinaufkommen sah, wandte er sich schnell ab. Hastig wickelte er das Messer in sein Taschentuch und ließ es in seinem Gürtel verschwinden. Der blonde Reiter war so gefangen von dem blutigen Bild, dass sich seinen blauen Augen bot, dass er Teaspoons heimliche Bewegung nicht einmal bemerkte.

„Ich könnte schwören, dass ich den hier kenne." Cody war vor dem schwarzhaarigen Toten stehen geblieben und strich sich nachdenklich über das Kinn. „Ich habe ihn schon einmal gesehen, so viel steht fest."

Überrascht trat Teaspoon näher.

„Wo war das, Sohn?"

„In Sweetwater." Cody hob den Kopf und zog die Stirn kraus. „Es ist erst zwei oder drei Tage her."

„Bist du dir sicher?"

Der Reiter nickte.

„Er ist mir aufgefallen, weil er Allison Moyer so aufdringlich angestarrt hat."

„In Sweetwater, ja?"

Cody nickte.

„Kid!" Teaspoon winkte den jungen Postreiter zu sich heran.

Seite an Seite mit Lou erstieg Kid die Verandastufen.

„Kid, ich möchte, dass du nach Sweetwater reitest und den Marshall holst. Erzähle ihm, was geschehen ist."

Der Reiter nickte. Er schob sich seinen Hut in die Stirn und sprang von der Veranda. Nur weniger Augenblicke später saß er im Sattel seiner gefleckten Stute und verschwand in gestrecktem Galopp in einer Staubwolke.

„Was hat es mit diesen Männern auf sich, Teaspoon?" Lou schob seine Brille höher auf seine Nase, während er nachdenklich auf die toten Männer zu seinen Füßen blickte. „Was wollten die Fremden auf der Station?"

Teaspoon verschränkte nachdenklich die Daumen hinter seinen Hosenträgern.

„Das wüsste ich auch gern. Aber ich glaube, ich weiß jemanden, der uns das erklären kann", erklärte er mit grimmigen, entschlossenem Blick. „Kommt, Jungs!"

„Teaspoon..."

Buck wollte Leah schützend hinter sich zu schieben, doch das Mädchen stieß seinen Arm zur Seite.

„Nein, Sohn. Jetzt rede ich, und du wirst mir zuhören. Ihr alle werdet mir zuhören!", knurrte der ältere Mann mit einem strengen Seitenblick auf Emma, die ebenfalls den Mund zu einer Entgegnung geöffnet hatte. Emma runzelte die Stirn.

„Ich habe Kid nach Sweetwater geschickt, damit er Sam Cain herholt. Ich denke nämlich, dass es hier das eine oder andere gibt, das einen US-Marshall interessieren könnte." Teaspoon warf Leah einen viel sagenden Blick zu. „Ich habe mir die Toten angesehen, die auf der Veranda liegen, und ich frage mich, wer die beiden Männer getötet haben mag."

„Mr. Spoon, was auch immer in ihrem Kopf vorgeht, sie sollten wissen, dass Leah diese beiden aus Notwehr getötet hat!" Emma richtete sich auf und ihre Augen funkelten. „Wenn sie nicht..."

„Das ist genug, Emma." Auch ohne das Teaspoon seine Stimme erhob, begriff ein jeder der Umstehenden, dass es in diesem Moment nicht ratsam war, ihm Widerworte zu geben. „Ich möchte viel lieber wissen, was Leah dazu zu sagen hat!"

„Teaspoon..."

„Nein, Buck! Ich denke, ich habe mich klar genug ausgedrückt!"

„Lass nur, Buck." Leah trat einen Schritt vor und sah dem älteren Mann, der sich inzwischen in Rage geredet hatte, geradewegs in die Augen. „Ich bin sehr wohl in der Lage für mich selbst zu sprechen."

Erwartungsvoll hoben Emma und Jimmy die Köpfe. Buck runzelte die Stirn, er begriff nicht, warum Teaspoon funkelnder Blick die junge Frau nicht einzuschüchtern vermochte.

„Ja, es ist wahr, ich habe die beiden Männer getötet. Und ebenso wahr ist es, dass ich in Notwehr gehandelt habe."

„Was wollten die Fremden hier auf der Station?"

„Sie wollten mich töten."

Überrascht stieß Jimmy einen leisen Pfiff aus.

„Verdammt, dann ist es ja genauso, wie ich gesagt habe!"

Teaspoon würdigte den jungen Reiter keines Blickes.

„Warum hätten sie das tun sollen?", fragte er stattdessen ohne Leah aus den Augen zu lassen.

Die junge Frau zuckte gleichmütig mit den Achseln. Teaspoon wartete, Ungeduldig kniff er die Augen zusammen.

„Ich denke, du weißt sehr gut, was die Männer hier wollten, junges Fräulein!", stieß er schließlich gereizt hervor. „Und ich denke auch, dass du uns etwas verheimlichst!"

„Ich kann nichts für ihre Gedanken, Mr. Spoon", Leah erwiderte seinen Blick ungerührt.

„Ich will endlich die Wahrheit hören!" Teaspoons erboste Stimme dröhnte über den Platz. „Ich will endlich wissen, was hier gespielt wird! Und ihr, Emma und Buck, haltet euch verdammt noch mal da raus!"

Buck zuckte zusammen, während Emma trotzig die Lippen aufeinander presste.

„Mr. Spoon, ich denke, sie sollten dieses Verhör Sam überlassen", entgegnete sie bestimmt.

„Das werde ich! Aber bis der Marshall hier eintrifft, wird Leah mein Gast sein – im Haus!"

„Mr. Spoon." Leah senkte leicht den Kopf, doch ihre grauen Augen ruhten weiterhin auf dem Gesicht des älteren Mannes, das sich vor Erregung gerötet hatte. „Ich habe nicht vor, noch länger auf der Station zu verweilen."

„Das glaube ich gern!" Jimmy spuckte verächtlich in den Staub.

„Du wirst bleiben, Mädchen!", knurrte Teaspoon. „Nirgendwo wirst du hingehen, bevor nicht der Marshall hier ist!"

Leah runzelte die Stirn. Für einen Augenblick schien es, als wolle sie etwas entgegnen. Doch dann nickte sie nur leicht.

„Wie sie meinen, Mr. Spoon."

Mit strengem Blick beobachtete Teaspoon, wie Leah mit Bucks Hilfe zum Haus zurückhinkte. Als der junge Kiowa jedoch hinter ihr den dunklen, kühlen Flur betreten wollte, verstellte ihm der andere Mann entschlossen den Weg.

„Du wartest mit den anderen, Buck. Draußen!"

„Aber Teaspoon, Leah ist verletzt! Jemand muss sich im die Wunde kümmern."

„Das werde ich tun. Denn ich denke nicht, dass Mr. Spoon auch mich aus meinem eigenen Haus vertreiben wird." Emma drängte sich an ihm vorbei durch den Türrahmen. Ihr kühler Blick drückte deutlich aus, wie sehr sie das Verhalten des Mannes missbilligte.

Teaspoon verstand diese stumme Warnung sehr wohl und verbiss sich die ungehaltene Bemerkung, die ihm auf den Lippen gelegen hatte. Knurrend folgte er Emma ins Haus und ließ einen völlig verwirrten Buck auf dem Treppenabsatz stehen.

„Jetzt haben wir wirklich ein Problem, Teaspoon." Sam Cain runzelte besorgt die Stirn, während er sich neben Teaspoon an dem kleinen Tisch in Emmas Wohnzimmer niederließ.

Aus dem Nebenzimmer hörten die beiden Männer das Klirren von Porzellan, mit dem Emma sich nachdrücklich in ihre Erinnerung brachte. Zähneknirschend erinnerte sich der Marshall an die groben Worte, die er erst wenige Augenblicke zuvor von ihr zu hören bekommen hatte.

„Ich kann die Stadt nicht verlassen, Teaspoon", seufzte Sam müde. „Die Sache mit den Wagner-Cowboys spitzt sich zu. Anscheinend geht es gar nicht um einen einfachen Streit zwischen Wagners Männern und den Jungs von der Double-T-Ranch, sondern um ernste Auseinandersetzungen um die Wasserrechte am Willow Creek. Und du weißt, wie halsstarrig der alte Wagner und Jeremy Wakefield sind. Die beiden werden kein gutes Haar aneinander lassen, wenn ihnen niemand Einhalt gebietet, Teaspoon."

„Und Taylor, dein Deputy, ist einfach zu unerfahren, um die Sache an deiner Stelle zu regeln, ja ich weiß, Sam." Der ältere Mann strich zweifelnd über sein unrasiertes Kinn. „Aber wenn du hier bleibst, wird Emma dir das Leben zur Hölle machen, das steht fest!"

In Teaspoons Augen blitzte es amüsiert auf. Dem Marshall entging das nicht und er verzog gequält das Gesicht.

„Wenn sich Emma einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann..."

Als er ihren roten Haarschopf im Türrahmen entdeckte, biss sich Sam hastig auf die Lippen. Mit ein paar schnellen Schritten stand Emma neben dem Tisch. Klirrend stellte sie die beiden Becher auf vor den beiden Männern ab, so resolut, dass der dampfende Kaffee über den Rand zu schwappen drohte. Dabei musterte sie die beiden mit finsterem Blick.

„Emma," Sam breitete beschwörend die Arme aus, erntete aber auch dafür nichts anderes, als einen weiteren bösen Blick, „ich kann wirklich nicht fort, versteh' doch. Die Sache mit den Wagner-Cowboys ist ernst und...."

„Ihr beiden werdet euch etwas ausdenken. Ihr könnt doch nicht einfach daneben stehen und darauf warten, dass sich die Dinge von allein erledigen! Es geht um Gerechtigkeit und um das Leben eines Kindes! Und ein weiteres Menschenleben ist in Gefahr! Da dürft ihr nicht tatenlos zusehen!" In ihren braunen Augen blitzte es empört auf. „Wenn ihr zwei nicht den Mumm besitzt, um nach Deadwood zu reiten, dann werde eben ich es tun!"

Teaspoon, der soeben seine Tasse an den Mund gesetzt hatte, stieß ein röchelndes Geräusch aus.

„Davor bewahre uns der Herrgott!", stieß er erschrocken aus, während er sich den Kaffee vom Kinn wischte.

„Mr. Spoon", Emma stemmte die Fäuste in die Hüften und schob das Kinn vor, „ich werde jedenfalls nicht seelenruhig zusehen und hoffen, dass sich das alles von selbst erledigt!"

„Emma", in einem vergeblichen Versuch die empörte Frau zu beruhigen, berührte Sam ihre vor Wut zitternde Hand, „glaube mir, Teaspoon und ich werden ganz sicher versuchen eine Lösung zu finden. Aber gib uns doch wenigstens etwas Zeit..."

„Ihr habt bis heute Abend, Sam Cain, länger nicht! Wenn ihr bis dahin keine Entscheidung getroffen habt, reite ich an eurer Stelle!"

Sam seufzte. Aber er war erleichtert, als er sah, dass Emma sich in das Nebenzimmer zurückzog. Neben der Tür blieb sie noch einmal stehen und sah sich mit funkelnden Augen nach den beiden Männer um.

„Denke immer daran, Sam Cain, dass es sich um ein Verbrechen handelt! Es geht um Mord und damit darfst du nicht leichtfertig umgehen! Und", sie warf einen abschätzigen Blick auf Teaspoon, „du kannst jeden Mann, den du auswählst, zu deinem Hilfssheriff machen. Das ist dein gutes Recht als US-Marshall, denk einmal darüber nach!"

Mit diesen Worten verschwand sie im Türrahmen. Sam warf Teaspoon einen fragenden Blick zu. Der ältere Mann streckte auf der Stelle abwehrend seine Hände vor.

„Nein, Sam! Ich kann hier auch nicht fort! Ich habe alle Hände voll zu tun mit den beiden neuen Reitern!"

„Wir müssen eine Lösung finden, Teaspoon. Emma hat Recht. Wir können die Sache nicht auf sich beruhen lassen."

Der weißhaarige Express-Vorsteher seufzte.

„Dann sehe ich nur eine einzige Möglichkeit..."

Gespannt beugte Sam sich vor, um dem Plan des anderen Mannes zu lauschen.

Gerade hatte Emma missmutig die Schüssel mit dem dampfenden Eintopf auf den Tisch gestellt, als die Tür geöffnet wurde. Die Köpfe der Reiter, die sich hungrig und voller Ungeduld um den Tisch versammelt hatten, fuhren herum und sieben Augenpaare richteten sich neugierig auf die drei Neuankömmlinge. Sam zog seinen Hut vom Kopf und nickte Emma zu, während Teaspoon die Tür ins Schloss warf. Leah fuhr zusammen, als das Holz knirschend auf den Rahmen traf. Dann holte sie tief Luft und trat, leicht hinkend, an den Tisch heran. Als Ike aufsprang, um ihr seinen Platz an der gedeckten Tafel frei zu machen, schüttelte sie stumm den Kopf. Sie wartete, bis Teaspoon seinen Platz eingenommen hatte und warf Sam einen fragenden Blick zu. Der Marshall nickte leicht und zog sich selbst einen Stuhl heran. Die neugierigen Blicke der Reiter folgten der jungen Frau, als sie ihre Jacke, deren Leder noch immer mit Blut beschmiert war, enger um sich zog. Sie räusperte sich und Emma runzelte die Stirn.

„Ich bin euch allen eine Erklärung schuldig", begann Leah mit leiser Stimme zu sprechen. „Für die Geschehnisse des heutigen Tages, und wohl auch für jene bei Eagle Plains."

„Das denke ich auch!" Abwartend verschränkte Jimmy die Arme vor der Brust, doch der Blick, den er der jungen Frau zusandte, war alles andere als freundlich.

Emma trat einen Schritt vor und legte dem jungen Reiter warnend die Hand auf die Schulter. Ihre braunen Augen jedoch richteten sich freundlich auf das Mädchen, dass mit hochgezogenen Schultern am Fußende des Tisches stand und dabei unendlich erschöpft aussah.

„Was auch immer du uns zu sagen hast, Leah, kann warten, bis du etwas gegessen hast. Du fällst ja beinahe um vor Müdigkeit!"

Doch die junge Frau schüttelte ihren Kopf.

„Ich habe keinen Hunger."

„Das ich nicht lache, Leah!" Emma zog die Nase kraus und wies auf den freien Platz an ihrer Seite. „Komm her, Mädchen, und setz dich, bevor du uns noch aus den Stiefeln kippst."

Ihr strenger Ton ließ keinen Widerspruch zu und so beugte sich Leah ihrem Willen. Widerstrebend ließ sie sich neben Buck auf der hölzernen Bank nieder. Sie wich dem forschenden Blick des jungen Kiowa aus und starrte schweigend auf die Tischplatte. Als dieser ihr jedoch die Schüssel mit dem dampfenden Eintopf zuschob, schüttelte sie den Kopf. Ihre grauen Augen richteten sich auf Emma.

Die rothaarige Frau nickte endlich zustimmend.

„Also gut, Mädchen. Dann sag, was du zu sagen hast. Es scheint ja doch nicht warten zu können." Emma lächelte freundlich. Aber als sie sich Sam Cain zuwandte, verdüsterte sich ihr Blick sichtlich. „Und dann, denke ich, wird auch der Marshall seinen Teil zum Geschehenen zu sagen haben!"

Sam schluckte und wies Leah mit einer hastigen Handbewegung an, mit ihren Erklärungen zu beginnen. Sein nervöser Blick suchte Teaspoons Gesicht, doch die Miene des älteren Mannes war undurchdringlich.

Leah richtete sich auf und sah einen nach dem anderen prüfend an. Für einen kurzen Moment verharrte ihr Blick auf Buck. Doch dann wandte sie sich ab und verschränkte ihre Hände in einander.

„Jimmy hat Recht, wenn er sagt, dass ich euch allen eine Erklärung schulde. Denn genauso ist es. Was heute geschehen ist, wäre nicht passiert, wenn ich nicht hier gewesen wäre."

Jimmy stieß ein leises Knurren aus.

Leah runzelte die Stirn.

„Die Männer, die Emma überfallen haben, wollten mich töten. Sie haben nach mir gesucht und mich gefunden. Und wenn ihr alle nicht zurückgekommen wärt, dann... Ich verdanke euch mein Leben."

„Du hast dich selbst auch nicht schlecht geschlagen", Cody grinste breit. „War gar nicht übel, wie du die beiden erledigt hast! Das muss dir erst einmal einer nachmachen!"

„Halt die Klappe, Cody!" Jimmy sandte dem blonden Reiter einen finsteren Blick zu, der ihn zum Verstummen brachte.

„Warum wollten diese Männer dich töten, Leah?" Lou beugte sich neugierig vor und starrte an Buck vorbei. „Was hattest du ihnen getan?"

Die junge Frau blinzelte. Dann seufzte sie leise.

„Lou, bevor Kid mich bei Eagle Plains fand, war ich auf dem Weg nach Deadwood."

„South Dakota?", unterbrach Cody ihren Bericht erstaunt.

Leah nickte.

„Da ist doch der Hund verfroren! Warum in aller Welt wolltest du gerade da hin?"

„Um als Zeugin vor Gericht auszusagen", Leah graue Augen bohrten sich wortwörtlich in Jimmys Gesicht, „als Zeugin in einem Mordprozess."

Der junge Reiter zog die Augenbrauen hoch.

„So? Auf welcher Seite denn?"

„Auf der Seite der Verteidigung."

„Augenblick mal!", unterbrach Kid aufgeregt. „Deadwood hast du gesagt, Leah? Davon habe ich gehört. Findet da nicht in den nächsten Tagen der Prozess gegen diesen Cheyenne-Häuptling statt, der ein Kind ermordet hat?"

„Bear Heart ist ein Medizinmann der Cheyenne, kein Häuptling."

„Du willst zu Gunsten eines Kindermörders aussagen?", empört richtete Jimmy sich auf. „Verdammt, wir hätten dich heute Nachmittag verrecken lassen sollen!"

„Jimmy, das reicht!" Teaspoon strenger Befehl ließ den Reiter verstummen.

Doch die Augen aller ruhten voller Erwartung auf Leah, die Jimmy nicht aus den Augen ließ, als sie nun weitersprach.

„Ich kann bezeugen, dass Bear Heart seinen Enkelsohn nicht getötet hat."

„Seinen Enkel?" Erstaunt riss Cody die Augen auf. „Der Medizinmann soll ihr Eigen Fleisch und Blut umgelegt haben?"

Leah runzelte die Stirn.

„Das behauptet wenigsten eine Bande weißer Banditen, unter der Führung von Galverston Rawlins."

„Warum?"

„Rawlins ist der Vater des getöteten Jungen."

„Was? Und dann willst du auf der Seite dieses Cheyenne aussagen?" Ungläubig riss Cody die Augen auf. „Warum denn nur?"

„Weil Bear Heart den Jungen nicht getötet hat. Ich weiß es sicher. Denn ich war dabei."

„Wenn ich mich recht erinnere", wandte Kid ein, „wird der Medizinmann aber auch noch des Mordes an einer Hand voll Weißer angeklagt, die er ebenfalls auf dem Gewissen haben soll."

„Rawlins Spießgesellen, die während derselben Schießerei umgekommen sind, bei der auch Bear Hearts Enkel getötet wurde. Das war kein Mord, sondern Notwehr."

„Und das kannst du bezeugen?"

Leah nickte.

„Puh!" Cody stieß weithin hörbar seinen Atem aus. „Kein Wunder, dass man versucht hat dich zu töten! Dann waren das Rawlins Männer, die heute Nachmittag Emma überfallen haben?"

„Ja."

„Und diese Männer haben auch bei Eagle Plains auf dich geschossen?"

„Ich denke schon. Für sie wäre es bequemer, wenn ich Deadwood gar nicht erst erreiche."

„Mich wundert, dass Rawlins Männer den Indianer nicht gleich aufgehängt haben. Wenn sie glauben, dass er den Jungen auf dem Gewissen hat, dann wäre das doch die logische Folgerung gewesen, oder?" Jimmy beugte sich über den Tisch und kniff die Augen zusammen. „Mir kommt es so vor, als hätte deine schöne Geschichte ein paar Lücken, Leah."

Das Mädchen ballte die Fäuste.

„Das kommt dir nur so vor, weil du mich nicht ausreden lässt!" Ihre grauen Augen blitzten ärgerlich. „Der Junge wurde im Gebiet der Cheyenne ermordet. Es gab eine Schießerei, aber die Bear Heart und seine Krieger konnten die Weißen zurückschlagen. Rawlins und seine Männer mussten fliehen. Und als sie später zurückkehrten, waren die Cheyenne verschwunden. Für ein paar Tage haben Rawlins und seine Leute versucht, Bear Heart zu finden, doch als ihnen das nicht gelang, haben sie ihn in Fort Kearny angezeigt. Und auch wenn Rawlins sich das wohl anders vorgestellt hatte, war die Armee schneller als er. Die Soldaten haben Bear Heart festgenommen und nach Norden gebracht, weil sie fürchten mussten, dass seine Verurteilung in Fort Kearny zu einem Aufstand unter den dort ansässigen Cheyenne führen würde."

„Dann führt die Armee die Anklage in Deadwood?"

Leah nickte stumm.

„Warum hast du dann deine Aussage nicht schon längst gemacht? Du hättest es doch gleich in Fort Kearny tun können, noch bevor die Soldaten den Angeklagten nach Norden gebracht haben?"

„Als ich von Bear Hearts Festnahme erfuhr, Kid, war ich schon auf dem Weg zurück nach Texas." Leah senkte schuldbewusst den Blick. „Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommen würde. Sonst wäre ich bei ihm geblieben..."

„Du hast nicht daran gedacht, dass man Anklage erheben würde?" Ungläubig runzelte Jimmy die Stirn. „Immerhin ist ein Kind ums Leben gekommen! Hast du denn geglaubt, dass man das so einfach auf sich beruhen lassen würde?"

„Nein." Leah presste die Lippen aufeinander. „Aber ich hätte niemals geglaubt, dass sie es wagen, Bear Heart zu beschuldigen."

„Weil der Junge sein Enkel war?"

„Weil er es nicht getan hat!" In den grauen Augen des Mädchens blitzte es wütend auf.

„Wer war es dann?"

Leah schwieg. Erst als Jimmy seine Frage ungeduldig wiederholte, hob sie den Kopf.

„Rawlins", antwortete sie mit bebender Stimme.

Für einen Augenblick herrschte Totenstille unter den Reitern. Selbst Jimmy hatte es die Sprache verschlagen. Doch schon im nächsten Augenblick begannen alle aufgeregt durcheinander zu reden und ein Sturm bestürzter Fragen brach über Leah herein.

„Er soll seinen eigenen Sohn ermordet haben?"

„Wie kannst du das so genau wissen?"

„Niemals würde ein Vater so etwas Grausames tun!"

„Das hätte dir vor Gericht ohnehin niemand geglaubt!"

Erst Teaspoon gelang es wieder für Ruhe unter den Reiter zu sorgen, indem er sich von seinem Platz erhob und abwehrend die Arme ausstreckte.

„Jungs! Jungs, nun macht doch einmal halblang! Wie wollt ihr denn das Ende der Geschichte erfahren, wenn ihr alle durcheinander redet? Jimmy, Cody, jetzt lasst Leah doch erst einmal zu Atem kommen!"

Langsam verebbte die Flut von aufgeregten Fragen und Leah griff erschöpft nach dem Becher mit Milch, den Emma ihr hingestellt hatte. Mit gierigen Schlucken trank sie daraus, bis das Gefäß beinahe leer war. Dann, als sie den Becher auf der hölzernen Tischplatte abgestellt hatte, hob sie den Kopf und sah herausfordernd von einem zum anderen.

„Es mag sein, dass mir niemand glauben wird. Aber ich werde dennoch versuchen, die Wahrheit zu beweisen. Bear Heart ist kein Mörder! Und darum werde ich nicht zulassen, dass ein Unschuldiger gehängt wird!" Leah holte tief Atem, bevor sie ihre nächsten Worte hervorstieß. „In fünf Tagen wird man ihm in Deadwood den Prozess machen. Und dann werde ich dort sein, um seine Unschuld zu bezeugen!"

„Und ich werde dich begleiten." Buck hatte bislang geschwiegen, doch nun ließ sein funkelnder Blick keinen Zweifel an seinem Entschluss.

Leah schluckte überrascht.

„Nach Deadwood?"

Buck nickte.

„Aber ich werde morgen Früh bei Tagesanbruch losreiten..."

„Dann werde ich bereit sein."

„Und deine Arbeit als Postreiter? Was wird daraus werden?"

„Meine Ritte wird solange ein anderer für mich übernehmen", Buck warf einen schnellen Seitenblick auf Teaspoon. Doch dann nahm er aus den Augenwinkeln wahr, dass Ike leicht nickte.

„Buck", Leah stockte, als sie seinen fragenden Blick auf sich gerichtet sah, „ich weiß dein Angebot wirklich zu schätzen. Aber es wird in Deadwood gefährlich werden...."

Der junge Kiowa zuckte gleichmütig mit den Achseln.

„Buck", Leah beugte sich vor und erwiderte seinen Blick unsicher, „die Menschen in Deadwood wollen einen Indianer hängen sehen. Ich werde ihnen nicht willkommen sein."

Er nickte zustimmend.

„Und du ebenso wenig", Leah seufzte. „Versteh' doch, Buck! Für die Menschen dort würde es keinen Unterschied machen, dass du ein Kiowa bist. Und sie würden sich keinen Heller darum scheren, dass dein Vater ein Weißer war. In Deadwood wärst du in größter Gefahr! Du darfst mich nicht begleiten!"

„Ich scheue die Gefahr nicht." Als Leah etwas erwidern wollte, legte Buck ihr sanft die Hand auf den Arm und brachte sie auf diese Weise zum Schweigen. „Ich habe dich einmal im Stich gelassen", sagte er so leise, dass nur sie ihn hören konnte, „aber ich werde es nie wieder tun."

Er spürte eine Bewegung neben sich und wandte sich um.

„Ike?" Atemlos folgten Buck dunkle Augen den schnellen Handbewegungen seines Freundes. „Nein, so geht das nicht. Einer muss meinen Ritt morgen übernehmen. Du musst für mich reiten, während ich mit Leah nach Deadwood gehe."

Ike schüttelte den Kopf. Hastig fuhren seine Hände durch die Luft.

„Ike sagt die Wahrheit", wandte Leah ein. „Du bringst dich in große Schwierigkeiten, wenn du mich nach Deadwood begleitest, Buck. Du musst hier bleiben. Nein, entschuldige, Ike, ich weiß, dass du das so nicht gemeint hast. Aber..."

„Du willst also tatsächlich mit ihr nach Deadwood reiten, Buck?", Cody schüttelte ungläubig den Kopf. „Wenn das so ist, braucht ihr natürlich jemanden, der auf euch Acht gibt. Nein, sag nichts! Ich mache das natürlich gern." Der blonde Reiter grinste breit, als Ike die Augen zusammenkniff. „Ist ja gut, Ike! Dann gehen wir eben zusammen."

„Halt, Jungs! Dürfte ich da auch mal was zu sagen?" Teaspoon hatte sich von seinem Sitz erhoben und kniff die Augen zusammen. „Ihr könnt nicht so einfach, mir nichts, dir nichts, davon reiten. Immerhin seid ihr Angestellte der Firma Majors, Russell & Waddell, und ich muss euch sagen, dass ich als solche nicht einfach tun und lassen könnte, was ihr wollt."

„Teaspoon!" Buck sprang von der Bank auf und hob abwehrend die Hände. „Was auch immer du sagen willst, du solltest wissen, dass du mich unmöglich umstimmen kannst!"

„Woah, immer mit der Ruhe, Sohn!" Teaspoon warf seinem indianischen Reiter einen nachsichtigen Blick zu. „Dein Standvermögen in dieser Sache ehrt dich, Buck. Aber vielleicht hörst du dir erst mal an, was ich noch zu sagen habe?"

Der junge Kiowa nickte missmutig. Kerzengerade aufgerichtet blieb er neben Leah stehen und ließ seinen Vorgesetzten nicht aus den Augen.

„Heute Nachmittag," fuhr Teaspoon fort, „hatte ich eine lange Unterhaltung mit unserem Marshall hier."

Sam Cain zog mürrisch die Augenbrauen zusammen.

„Und wir haben lange darüber nachgedacht, was in dieser Sache zu tun ist. Fest steht, dass ein Mord nichts ist, das wir auf die leichte Schulter nehmen dürfen. Wenn Leah sagt, sie könne den Beschuldigten mit ihrer Aussage entlasten, muss sie die Gelegenheit erhalten, ihre Worte vor den Richter zu bringen."

„Dann muss Sam sie nach Deadwood begleiten!" Emma nickte energisch. „Nachdem ein Anschlag auf ihr Leben verübt worden ist, muss man sie beschützen! Sam, du kannst das Mädchen unmöglich allein nach Deadwood reiten lassen! Die Rawlins-Bande..."

„Emma, das habe ich auch nicht vor." Sam legte der empörten Frau beruhigend die Hand auf den Arm. „Aber fest steht auch, dass ich wegen der Wagner-Sache nicht aus Sweetwater fort kann. Hört zu, Teaspoon und ich haben uns darum folgenden Plan überlegt."

Neugierig beugten sich die Reiter vor. Auch Buck ließ sich widerstrebend neben Leah auf der hölzernen Bank nieder, um Sam zuzuhören.

„Als US-Marshall bin ich befugt, Deputy-Marshals zu benennen, wann immer ich ihrer Unterstützung bedarf. Es sieht so aus, als wäre es mal wieder so weit. Passt auf, Jungs, ich werde jeden von euch vereidigen, der bereit ist, Miss Stewart nach Deadwood zu begleiten, damit sie dort vor der Armee-Gerichtsbarkeit ihre Aussage machen kann. Ich verheimliche euch nicht, dass der Ritt in die Dakotas ein gefährliches Unternehmen sein wird, denn ihr müsst damit rechnen, dass die Rawlins-Männer euch aufzuhalten versuchen werden. Und auch in Deadwood wird es nicht einfach sein, denn dort müsst ihr dafür Sorge tragen, dass Miss Stewart unbehelligt ihre Aussage machen kann. Aber ich warne euch, in der Stadt werdet ihr nicht nur die Rawlins-Bande gegen euch haben, sondern auch die Bewohner von Deadwood, die sich längst ihr eigenes Bild in dieser Sache gemacht haben. Wer von euch Jungs sich auch immer dafür entscheiden mag, Miss Stewart nach Deadwood zu begleiten, sollte wissen, worauf er sich da einlässt!"

„Ich gehen mit dir, Leah!" Entschlossen hob Buck das Kinn.

Ike schlug eine Anzahl schneller Zeichen in die Luft.

„Danke, Ike." Leah quittierte die Bereitschaft des stummen Reiters mit einem leichten Lächeln.

Cody schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

„Ich bin ebenfalls dabei."

„Teaspoon?" Kid sandte dem älteren Mann einen fragenden Blick zu. „Was ist mit unseren Pflichten beim Pony Express?"

„Davon seit ihr entbunden, solange ihr in Deadwood seid."

Lou blickte Kid an. Der junge Reiter nickte.

„Wir sind auch dabei. Was ist mit dir, Jimmy?"

„Augenblick!" Sam Cain erhob die Stimme. „Ich werde nur diejenigen von euch vereidigen, die sich freiwillig melden. Wenn einer von euch der Meinung ist, dass er nicht nach Deadwood reiten will, dann ist das seine freie Entscheidung und ich akzeptiere sie."

„Schon gut, Marshall." Jimmy lehnte sich zurück und warf Leah, die ihn nicht aus den Augen gelassen hatte, einen kühlen Blick zu. „Ich reite mit. Nur zu gern möchte ich mit eigenen Augen sehen, ob die ganze Geschichte der Wahrheit entspricht."

Leah stieß ein ungehaltenes Schnauben aus, entgegnete jedoch nichts.

„Dann brecht ihr morgen bei Sonnenaufgang auf." Sam Cain nickte zufrieden. „Ich werde ebenfalls da sein, um euch als Deputy-Marshalls der Vereinigten Staaten von Amerika zu vereidigen. Bis dahin wird noch einiges zu tun sein."

„Zum Beispiel endlich das Abendessen zu euch zu nehmen!" Emma stemmte erbost die Hände in die Hüften. „Der Eintopf ist schon längst kalt geworden und die Brötchen steinhart! Und das ist eure eigene Schuld! Esst jetzt! Und später, wenn wir damit fertig sein, werden Leah und ich ins Haus gehen und Vorbereitungen für den Ritt treffen. Aber bis dahin will ich kein Wort mehr von der ganzen Sache hören! Habt ihr das verstanden?"

Unter Emmas funkelndem Blick nickten die Reiter und der Marshall beklommen. Allein Teaspoon schmunzelte zufrieden, denn bisher war alles genauso verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte.

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