6. Kapitel – Tod im Unterholz

Der Morgen graute als Ike, Lou und Cody die Pferde aus dem Stall führten. Am Horizont zeigten sich die ersten silbernen Streifen und das Klappern der Hufe war das einzige Geräusch, das an diesem Morgen zu hören war, nur vereinzelt begleitet von Codys herzhaften Gähnen.

Als die drei Reiter mit den sieben Tieren das Gatter der Koppel erreichten, blieben sie stehen. Als Cody abermals gähnte ohne die Hand vor den Mund zu nehmen, runzelte Lou streng die Stirn.

„Was?", Cody kniff anklagend seine blauen Augen zu engen Schlitzen zusammen. „Es ist mitten in der Nacht! Nun sag nicht, dass du nicht müde bist?"

Ike schlug eine Anzahl schneller Zeichen in die Luft, mit denen er Lou ein leichtes Lächeln abrang. Cody jedoch schüttelte abwehrend den Kopf.

„Natürlich hätte ich euch auch begleiten wollen, wenn ich gewusst hätte, dass wir so früh losreiten! Schließlich", er warf sich stolz an die Brust, an welcher der silberne Stern eines US-Deputy-Marshalls prangte, „haben wir eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Wir verteidigen die Gerechtigkeit und verhelfen einer hilfsbedürftigen Frau zu ihrem Recht!"

Ike schlug dem blonden Reiter grinsend auf die Schulter. Cody grinste breit.

„Natürlich tut es der Sache keinen Abbruch, dass besagte Frau jung und hübsch ist, Ike."

„Und alles andere als hilfsbedürftig", warf Lou mit düsterer Miene ein. „Wenn ich an gestern denke..."

Der blonde Reiter zuckte mit den Schultern.

„Ach was! Ohne uns würde Leah Deadwood vielleicht niemals erreichen, Lou. Sie braucht uns! Und ich muss zugeben, dass mir dieser Gedanke gefällt."

„Ich möchte wissen, wo die anderen stecken." Lou runzelte die Stirn. „Was treiben die solange im Schlafhaus?"

„Teaspoon hält ihnen eine seiner berühmten Abschiedsansprachen, denke ich." Codys Miene drückte deutlich aus, wie wenig Trauer darüber empfand an diesem Ereignis nicht teilhaben zu müssen. „Und Sam wird bei Emma sein. Nachdem er uns eingeschworen hat, hat er hier ja nichts mehr zu tun. Der Arme muss mitten in der Nacht in Sweetwater aufgebrochen sein, um pünktlich auf der Station anzukommen. Da wird er nun wohl jeden Augenblick nutzen, um..."

„Oh, Cody, du bist unmöglich!" Lou stieß den blonden Reiter grob in die Seite.

„Ist doch wahr!" Anklagend rieb Cody sich die Rippen.

Sein Blick glitt zum Haus hinüber und er stockte.

„Seht mal, da kommt Leah."

„Und Emma und Sam sind bei ihr", ergänzte Lou. „Da hast du dich wohl geirrt, Cody."

Doch der blonde Reiter hörte ihr längst nicht mehr zu. Statt dessen konnte er seinen Blick nicht mehr von der jungen Frau abwenden, die gemessenen Schrittes auf ihn zukam und in ein Gespräch mit der rothaarigen Frau an ihrer Seite vertieft war, zu dem der Marshall hin und wieder geistesabwesend mit dem Kopf nickte.

„Teaspoon..."

„Nein, Buck, jetzt hörst du mir zu. Ich weiß, was ich sage, und ich habe mir meine Worte reiflich überlegt." Teaspoon strich sich nachdenklich über das Kinn, während er seinen indianischen Reiter nicht aus den Augen ließ, der seinen prüfenden Blick finster erwiderte. „Du solltest wenigstens zuhören, Buck. Auch wenn du deine Entscheidungen natürlich später selbst treffen musst."

Der junge Kiowa nickte stumm. Er wandte sich ab und starrte aus dem Fenster des Schlafhauses hinaus.

„Teaspoon", Kid, der seinen Freund beobachtet hatte, trat vor, „wenn es so wichtig ist, was du uns zu sagen hast, dann sollten wir vielleicht auch die anderen dazu holen?"

Der ältere Mann schüttelte den Kopf.

„Das ist nicht nötig. Ihr drei werdet hören, was ich zu sagen habe." Sein Blick glitt prüfend über die drei jungen Männer. „Und ihr werdet mir gut zuhören. Das reicht."

„Na dann, was ist denn so wichtig, Teaspoon?"

Der Weißhaarige wandte sich stirnrunzelnd seinem dritten Reiter zu, der vor ihm auf einem morschen Stuhl hockte und spielerisch die Trommel seines Revolvers drehte.

„Du solltest mir besonders gut zuhören, Jimmy", stellte er kurzangebunden fest. „Und steck endlich den Revolver weg! Du wirst ihn noch früh genug gebrauchen müssen."

Der junge Reiter verzog das Gesicht, ließ die Waffe jedoch bereitwillig in seinem Gürtel verschwinden.

„Glaubst du, dass wir Probleme bekommen werden, Teaspoon?"

„Mehr als ihr ahnt." Der ältere Mann beobachtete, wie sich der Ausdruck in Kids Gesicht von bloßem Argwohn in ernsthafte Besorgnis verwandelte, und lächelte wohl wollend. „Aber ihr werdet damit fertig werden, wenn ihr ein paar einfache Regeln beachtet."

„Und die wären.?" Jimmy rümpfte die Nase.

„Als erstes solltet ihr zusammenbleiben. Der Ritt ist gefährlich genug, denn ihr müsst mit einem Hinterhalt rechnen."

Kid nickte zustimmend.

„Rawlins Männer", fuhr Teaspoon fort, „wollen Leah, und das um jeden Preis."

„Aber sie werden sie nicht bekommen!" Bucks dunkle Augen blitzten entschlossen, als er herumfuhr. „Sie wird bei uns in Sicherheit sein!"

„Es wäre nicht das erste Mal, dass sich eine Kugel verirrt, Sohn. Ich möchte euch alle in einigen Tagen wohlbehalten wieder hier auf der Station sehen. Und darum müsst ihr vorsichtig sein. Wenn ihr erst nach Deadwood kommt, müsst ihr besonders auf der Hut sein. Denn dort habt ihr es dann nicht nur mit Rawlins und seinen Leuten zu tun, die alles unternehmen werden, um Leah an ihrer Aussage zu hindern, sondern auch mit den Einwohnern der Stadt. Die Menschen dort wollen einen Indianer hängen sehen", Teaspoon Augen glitten hinüber zu Buck, „irgendeinen wenigstens."

Der junge Kiowa kniff die Augen zusammen und wandte sich wieder dem Fenster zu. Doch Teaspoon erkannte die Anspannung in seinen Schultern und wusste, dass Buck seine Warnung verstanden hatte. Sein Blick glitt zu Kid hinüber, der die unausgesprochene Frage mit einem leichten Nicken beantwortete. Augenblicklich fühlte sich Teaspoon ein wenig beruhigt. Auf Kid war Verlass und er würde, wenn es nötig war, mit seinem Leben für seinen halbblütigen Freund einstehen. Allein Jimmys gelangweilter Blick bereitete dem Weißhaarigen noch Sorge und so fasste er nun diesen ganz besonders in Auge, als er seine nächsten Worte ganz bewusst wählte.

„Jeder Mann, der sich zwischen diesen Cheyenne-Medizinmann und den Galgen stellt, wird sein Leben in Gefahr bringen. Indianerfreunde wird man euch nennen, wenn ihr nach Deadwood kommt."

Bucks Schultern versteiften sich. Doch auch Jimmy war zusammengezuckt.

„Diese Leute dort wären nicht die ersten Menschen, die sich irren", knurrte der junge Reiter mürrisch. „Aber sie werden ihren Irrtum einsehen müssen."

„Sie werden dir nicht lange genug zuhören, als dass du dich ihnen erklären könntest", warnte Teaspoon. „Was ich euch damit sagen möchte, Jungs, ist, dass ich keinen von euch vom Galgen abschneiden oder in einer Holzkiste beerdigen möchte! Wenn es Schwierigkeiten geben sollte, haltet euch an die Armee."

Jimmy schnaubte ungehalten und Teaspoon erinnerte sich, dass die letzte Zusammenkunft zwischen dem heißblütigen Reiter und einer Anzahl Soldaten in Fort Reunion keine besonders Freundliche gewesen war.

„Ich meine, was ich sage, Jimmy! Es ist Aufgabe der Soldaten, dafür Sorge zu tragen, dass der Prozess seinen rechtmäßigen Gang nimmt. Wenn es gefährlich wird, übergebt Leah der Armee. Dort wird man dafür sorgen, dass sie ihre Aussage vor Gericht machen kann."

„Teaspoon..."

Doch ein warnender Blick des älteren Mannes brachte den jungen Kiowa zum schweigen.

„Ihr seid Deputy-Marshalls der Vereinigten Staaten von Amerika und als solche habt ihr nur eine einzige Aufgabe zu erledigen, nämlich Leah nach Deadwood zu bringen, damit sie an dem Prozess teilnehmen kann. Nicht mehr, versteht ihr. Nicht mehr! Für den Verlauf des Prozesses werden andere Männer sorgen. Habe ich mich klar ausgedrückt?"

Kid nickte hastig, während Jimmy sich nicht von der Stelle rührte. Allein Buck presste unwillig die Lippen zusammen. Teaspoon seufzte. Er gab den beiden übrigen Reitern einen Wink. Doch als der junge Kiowa Kid und Jimmy in die aufgehende Morgensonne folgen wollte, hielt Teaspoon ihn auf.

„Warte, Buck."

Der junge Indianer wandte sich stirnrunzelnd um. Sein fragender Blick ruhte auf seinem Vorgesetzten, während er seine Hände zu Fäusten geballt hielt.

„Hör zu, Buck. Ich weiß, dass du das Mädchen gern hast", Teaspoon lächelte, weil er hoffte, auf diese Weise ein paar Steine aus der Mauer kalter Ablehnung herausreißen zu können, die der junge Kiowa in den vergangenen Augenblicken um sich aufgebaut hatte. „Und ich kann verstehen, dass dir der Gedanke, sie dem Wohlwollen der Soldaten zu überlassen, unerträglich ist. Aber wenn es so weit kommt, dann musst du wissen, wo deine Loyalität liegt. Sohn, wenn es zu einer Entscheidung kommen sollte, bei der das Leben dieser Burschen dort draußen auf dem Spiel steht, möchte ich sicher sein, dass du die richtige Wahl triffst."

„Die richtige Wahl?" Buck hielt seinen Blick unbarmherzig auf das Gesicht des älteren Mannes gerichtet, doch Teaspoon ahnte, dass seine Gedanken weit fort waren. „Wie soll ich erkennen, was richtig ist, Teaspoon?"

„Hör auf dein Herz, Sohn."

Bucks Mundwinkel zuckten, während seine Finger sich tief in das Leder seiner Jacke gruben. Freundlich legte der Weißhaarige die Hand auf seinen Arm. Unter dem Leder konnte Teaspoon ganz deutlich die angespannten Muskeln spüren, die unter seiner trostspendenden Berührung bebten.

„Hör auf dein Herz, Buck", wiederholte er eindringlich. „Es wird dir sagen, was richtig ist."

Teaspoon hatte leicht reden, dachte Buck bei sich, als er dem älteren Mann aus dem Schlafhaus hinaus in die Morgendämmerung folgte. Vielleicht besaß der Alte tatsächlich eine Vorstellung davon, was in seinem Herzen vorgehen mochte, möglich war es. Doch nichts von dem, was Teaspoon begreifen konnte, ähnelte dem, was Buck außerdem quälte. In seinem Herzen gab es die Zuneigung zu seinen Freunden, zu jenen jungen Männern, die in den vergangenen Monaten zu seiner Familie geworden waren – und es gab Leah. Seufzend gestand er sich ein, dass ihn das Mädchen mit jedem Tag, den es in seiner Nähe verbrachte, mehr anzog. War es zu Beginn nur die seltsame Vertrautheit gewesen, die er in ihrer Gegenwart empfunden hatte, herrschte sie längst über seinen Körper und seine Sinne. Ein Blick von ihr genügte, um ihn erstarren zu lassen, ein Wort von ihr, um ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern oder ihm für den Rest des Tages den Appetit zu rauben. Wenn er sie ansah, breitete sich eine verzehrende Wärme in seinem Körper aus, und in den Nächten verfolgte ihn der Glanz ihrer grauen Augen und der leichte Geruch der Wildgräser, der ihr anhaftete, bis in seine Träume. Als er sich angeboten hatte sie nach Deadwood zu begleiten, hatte er es getan, weil er den Gedanken nicht ertragen konnte, dass sie ohne ihn fort ging. An die Gefahren, die ihnen inmitten der feindseligen Menschen in der kleinen Stadt drohen würden, hatte er kaum einen Gedanken verschwendet und tat es auch jetzt nicht. Ihm genügte die Gewissheit, ihr in den nächsten Tagen und Nächten nahe zu sein, sie ansehen zu können, wann immer er den Kopf wandte. Und er scherte sich keinen Deut darum, welchen Preis er für dieses Glück bezahlen würde. Er schob den Gedanken an das, was die Zukunft, was ihr Aufenthalt in Deadwood bringen würde, weit von sich. Teaspoon jedoch hatte seine Überlegungen in genau diese Richtung zu lenken verstanden, und dass missfiel Buck zutiefst. Leah der Armee übergeben... Der Gedanke wiederstrebte ihm und er bezweifelte schon jetzt, dass er dazu in der Lage sein würde, sollte es so weit kommen. Das Mädchen vertraute ihm – wenigstens hoffte er, dass sie es tun würde. Wie sollte er sie da im Stich lassen? Die Pflichten eines Deputy-Marshalls konnten ihm gestohlen bleiben! Angewidert berührte seine Hand den silbernen Stern, den Sam Cain ihm an diesem Morgen auf den schwarzen Stoff seines Hemdes geheftet hatte.

Die übrigen Reiter hatten sich, begleitet von Emma und dem Marshall. neben der Koppel versammelt. Sieben gesattelte Pferde waren an den Holzholmen des Zaunes angebunden und Buck erkannte Moon Eye, die neben Kids gefleckter Stute Katie angebunden war. Bucks Augen suchten augenblicklich nach Leah. Er entdeckte sie neben einem feingliedrigen schwarz-weiß gescheckten Pinto. Teaspoon hatte das Pferd einem alten Indianer abgekauft und es Ike überlassen, den jungen Hengst zuzureiten. Nachdenklich betrachtete Buck Leah aus der Ferne. Sie trug noch immer die blutbefleckte Jacke. Aber Emma hatte ihr eine lederne Hose beschafft und ein graues Hemd. Gerade reichte Emma ihr einen schwarzen Hut, denn das Mädchen lächelnd zurückwies. Gleichzeitig ruhte ihr Blick auf Ikes Händen, die, das konnte Buck sogar aus der Ferne deutlich erkennen, ihr von den Vorzügen des Pintos berichteten. Als Ike stockte und seinem halbblütigen Freund zunickte, hob auch Leah den Blick und wandte sich um. Augenblicklich spürte Buck, wie sich ein Lächeln in seinem Gesicht ausbreitete, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.

„Guten Morgen, Buck", Leah lächelte leicht, als sie ihn auf sich zukommen sah.

Emma nutzte die Gunst des Augenblicks – und die kurze Unachtsamkeit des Mädchens – um den Hut am Sattel des Pferdes zu befestigen.

Für Bucks Geschmack war das Mädchen ein wenig zu blass. Besorgt betrachtete er sie.

„Ist alles in Ordnung? Fühlst du dich stark genug für den Ritt?"

„Das sollte ich wohl", Leah machte eine abwehrende Handbewegung. „Denn dieser Ritt lässt sich nicht verschieben."

Als sie das Sattelhorn mit beiden Händen umfasste und sich daran emporziehen wollte, war Buck augenblicklich neben ihr.

„Warte!"

Leah sah ihn erstaunt an.

„Warum?"

„Ich werde dir beim Aufsteigen helfen." Auf der Stelle verschränkte er die Hände ineinander, um ihr in den Sattel zu helfen.

Leahs Hand fühlte sich warm und weich an, als sie seine Finger berührte, und sandte ihm einen wohligen Schauer über den Rücken. Buck blinzelte überrascht.

„Nein, Buck, lass nur." Zu seiner Erleichterung ließ sie ihre Hand auf der seinen liegen. „Ich schaffe das allein. Zumindest sollte ich das, wenn ich den Ritt nach Deadwood überstehen will."

Als sie ihre Hand zurückzog, überrollte ihn eine Welle der Enttäuschung. Es kostete ihn große Mühe, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen, als er zurücktrat und zusah, wie Leah sich vorsichtig am Sattelknauf hochzog. Sie schwang ihr verletztes Bein über das gefettete Leder. Doch als sie ihr Gewicht darauf verlagerte, stöhnte sie vor Schmerz. Als Buck zu ihr eilen wollte, spürte er Emmas Hand auf seinem Arm und stutzte.

„Lass sie, Buck", flüsterte die rothaarige Frau, sodass das Mädchen im Sattel ihre Worte nicht hören konnte. „Sie schafft es allein."

Buck hörte die versteckte Warnung aus Emmas Worten heraus und wandte sich widerwillig ab. Doch während er sich selbst in den Sattel seines eigenen Pferdes schwang, fragte er sich ein um das andere Mal, ob es nicht noch zu früh für das Mädchen war, trotz ihrer frischen Beinwunde eine so weite und schwierige Strecke, wie die nach Deadwood, reiten zu wollen.

„Sie schafft das schon. Mach dir keine Sorgen um sie", Kid nickte seinem Freund von Katies Rücken aus beruhigend zu. „Sie ist jung und stark, und es ist ja auch nur ein Streifschuss gewesen."

„Und sie ist stur, so stur wie ein Esel! Du kannst sie ohnehin nicht umstimmen. Versuche es also gar nicht erst."

Stirnrunzelnd beobachtete Buck, wie Jimmy sein Pferd an ihm vorbei lenkte, um es vor Teaspoon zum Stehen zu bringen. Der junge Reiter die Hand an seine Hutkrempe und nickte. Dann wandte er sich zu den übrigen Männern um, die ebenfalls ihr Tiere bestiegen hatten.

„Wir sind so weit", Cody tippte mit der Hand an seinen Hut und schenkte Leah ein strahlendes Lächeln. „Zu ihren Diensten, Ma'am."

Teaspoon nickte ernst, während er von einem zum anderen blickte.

„Dann reitet los. Und seht euch vor!"

„Sicher tun wir das", Cody lenkte sein Pferd neben Leah. „Und bei mir wird sie so sicher sein, als läge sie ihn ihrem Bettchen."

Lou schnaubte unwirsch.

„Ich bin sicher, dass Teaspoon nicht das gemeint hat, Cody!"

„Nein?" Der blonde Reiter lachte. „Und wenn schon! Stimmt aber trotzdem."

„Passt gut auf euch auf", Emma trat vor und fasste die Zügel von Jimmys Stute. „Und seid um Himmels Willen vorsichtig."

Jimmy nickte.

„Mach dir um uns keine Sorgen, Emma."

Die rothaarige Frau runzelte die Stirn. Widerstrebend ließ sie die Zügel fahren und trat neben den feingliedrigen Pinto.

Leah lächelte leicht, als Emma ihr die Hand auf das Bein legte. Sie griff nach den schmalen Fingern der anderen Frau und drückte sie.

„Vielen Dank, Emma. Für alles."

„Wenn das alles hier vorbei ist..." Emma runzelte die Stirn. „Was ich sagen will, Leah, du bist auf der Station stets willkommen."

Das Mädchen lächelte als Antwort.

„Leb wohl, Emma. Und sie auch, Marshall Cain", versetzte sie mit einem Seitenblick auf den Gesetzeshüter.

Sam nickte höflich.

„Miss Stewart." Teaspoon legte zum Abschied den Finger an seine Hutkrempe. „Und ihr, Jungs," er sandte seinen Reitern einen scharfen Blick zu, „vergesst nicht, dass eine Dame in eurer Mitte reitet! Benehmt euch!"

„Wie könnte ich das vergessen, Teaspoon?" Cody warf Leah ein träumerischen Blick zu.

Augenblicklich trieb das Mädchen ihren Hengst ein kleines Stück zur Seite, während sie zweifelnd die Stirn runzelte.

„Übertreib es lieber nicht, Cody", riet Teaspoon seinem jungen Reiter freundlich, doch in seinen Augen glomm es verräterisch auf.

„Das wird er nicht." Entschlossen lenkte Buck seine Stute zwischen Leahs Hengst und Codys Tier.

Leah lächelte leicht und wandte dann hastig ihr Gesicht ab.

Cody zog die Augenbrauen hoch.

„Was ist nun?" Ungeduldig wandte sich Jimmy zu den Übrigen um. „Wollt ihr etwa warten, bis es Mittag ist? Lasst uns endlich aufbrechen!"

Kid nickte.

„Reiten wir!"

Mit einem lauten Schrei trieb Cody sein Pferd an und die anderen folgten ihm.

Allein Lou verharrte für einen Augenblick.

„Auf Wiedersehen!"

Dann war auch der jüngste Reiter fort.

Stumm blickten Teaspoon, Emma und der Marshall der dichten Staubwolke nach, die am Horizont immer kleiner würde.

„Kommt gesund wieder zurück", flüsterte Emma.

Sam fasste ihr Hand und drückte sie, als die beiden zum Haus zurückgingen. Allein Teaspoon wartete, bis die Umrisse der Reiter in der Ferne nicht mehr zu sehen waren.

„Ich wünsche euch alles Glück der Welt, Jungs. Ich weiß, dass ihr es brauchen werdet", murmelte er, während er sich beklommen das stoppelige Kinn kratzte.

Ike versuchte, sich seine Neugier nicht anmerken zu lassen. Doch wann immer sich eine Gelegenheit bot, beobachtete er das Mädchen, das schweigend und mit undurchdringlicher Miene auf ihrem Pferd ritt. Manchmal, wenn ihr Weg sie über felsiges Gestein führte oder sie einen Abhang hinunterreiten mussten, konnte er erkennen, dass Leah Schmerzen litt. Dann presste sie ihre Lippen zusammen und ihre schmalen Händen schlossen sich so fest um die Zügel ihres Pinto, das die Fingerknöchel weiß unter der sonnengebräunten Haut hervortraten. Ike rechnete es ihr hoch an, dass sie kein Wort darüber verlor, wie sehr der Ritt sie anstrengte und ihre Verletzungen sie quälten. Trotzdem litt Buck mit ihr, das wusste Ike nur zu gut. In den vergangenen Stunden hatte er auch seinen Freund genau beobachtet und erkannt, dass dieser das Mädchen nicht aus den Augen ließ. Bucks dunkler Blick ruhte beständig auf ihrem schlanken Körper, während er hinter ihr her ritt, jeden Moment dazu bereit, seinen Ritt zu unterbrechen und sie aufzufangen, falls sie vom Pferd stürzen sollte. Aber Leah fiel nicht und Ike war überzeugt davon, dass sie auch nun, so kurz vor Sonnenuntergang, nicht aufgeben würde. Das Mädchen war zäher, als es aussah, ihr Wille stark, und weder Bucks besorgte Blicke, noch das rasende Galopp, mit dem Jimmy die Reiter über die weite Eben führte, würde daran etwas ändern.

Ike mochte das schweigsame Mädchen, das ihm von Anfang an freundlich begegnet war. Er teilte auch nicht Jimmys Vorbehalte gegen ihre mögliche Vergangenheit oder das, was sie in Deadwood zu tun gedachte. Ike hatte es sich zur Regel gemacht, die Dinge genau zu betrachten, bevor er sich ein Urteil darüber erlaubte, und er fand, dass er über Leah Stewart noch längst nicht genug wusste, um sich eine unverbrüchliche Meinung zu bilden. Trotzdem bereitete ihm die Blicke, die Buck ihr zuwarf, sobald er sich unbeobachtet wähnte, Unbehagen. Denn dann waren die Gefühle, die sein Freund für das Mädchen hegte, nicht zu übersehen, und Ike ahnte, dass es eben diese Gefühle waren, die Buck verletzlich machen würden, wenn der Zeitpunkt der Entscheidung erst gekommen war. Auch wenn Ike sich Bucks Loyalität und seines unverbrüchlichen Vertrauens mehr als gewiss war, fürchtete er sich doch vor dem Augenblick, in dem das Herz seines Freundes brechen würde – mit oder ohne Verschulden des Mädchens, in das er sich verliebt hatte. Dann würde er für Buck da sein, schwor Ike, dann würde er tun, was immer ihm möglich war, um den Schmerz seines Freundes zu lindern und seine Wunden zu heilen. Aber bis es so weit war, würde er nichts weiter als ein stummer Zuschauer der Geschehnisse sein. Er würde geduldig warten, bis er gebraucht wurde, und sich nicht in Angelegenheiten einmischen, die nicht die seinen waren.

Ikes Blick wanderte zu Cody hinüber, der jede Gelegenheit nutzte, um sein Pferd an Leahs Seite zu lenken und ihr sein strahlendstes Lächeln zu schenken. Ein wenig beruhigte es Ike, dass das Mädchen die Avancen des blonden Reiters inzwischen ignorierte und ihnen nicht mehr, wie zu Beginn ihres Rittes, auswich. Außerdem vermied sie es, sich Jimmy zu nähern, der an der Spitze ihres Trupps ritt. Darüber war Ike zunehmend erleichtert, denn das was sie am wenigsten brauchten, war ein weiterer Streit zwischen Jimmy und Buck, der inzwischen jede Anspielung auf Leahs Vergangenheit als eine persönliche Beleidigung auffasste. Die Stimmung zwischen den Reitern war auch so schon gespannt genug, denn die allgegenwärtige Bedrohung durch die Rawlins-Bande, vor der Teaspoon und Sam Cain so eindringlich gewarnt hatten, schwebte wie eine dunkle Wolke über ihnen. Und ganz bestimmt war Ike nicht der einzige, der eine baldige Rast, eine warme Mahlzeit und eine gute Portion Schlaf herbei sehnte. Sehnsüchtig blickte er zum Horizont, wo sich die Sonne immer weiter hinabsenkte und bald hinter der Bergkette im Westen verschwinden würde.

„Aber wir haben doch denn Kuchen, den Emma uns mitgegeben hat." Hungrig ließ Cody seinen Sattel neben sich zu Boden fallen und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Warum können wir den nicht zum Abendessen haben? Warum müssen wir denn warten, bis Jimmy uns etwas gekocht hat?"

„Weil Kuchen nun einmal kein Abendessen ist", antwortete Lou mit gerunzelter Stirn und sah Cody dabei streng an, „und das weißt du genau!"

„Ich habe aber Hunger!" Der blonde Reiter machte sich nicht die Mühe, seinen Unmut zu verbergen. „Jetzt!"

Buck schüttelte den Kopf. Cody würde sich niemals ändern, ganz egal, was Lou ihm auf sein Murren diesmal antworten würde. Bucks Blick fiel auf Leah. Das Mädchen war damit beschäftigt, ihre Decke hinter ihrem Sattel loszubinden. Dann warf sie sich die Satteltaschen über die unverletzte Schulter und trat auf den schmalen Grasstreifen am Flussufer hinaus, denn die Postreiter zu ihrem Lagerplatz für die Nacht ausgewählt hatten. Sie hinkte stark und für Bucks Geschmack war ihr schmales Gesicht ein wenig zu fahl. Aber auch wenn es ihm schwer fiel, blieb er am Boden hocken und schob seinen Hut in den Nacken. Wenn er in den vergangenen Tagen eines gelernt hatte, dann war es, dass Leah sein Mitleid nicht willkommen hieß.

Als sie jedoch ihre Satteltaschen neben ihm auf den Boden gleiten ließ, sah er lächelnd zu ihr auf.

„Wir haben heute ein gutes Stück des Weges hinter uns gebracht."

Sie nickte stumm und ließ ihre Decke zu Boden fallen. Buck beobachtete, wie sie sich vorsichtig auf dem weichen Grasboden niederließ und ihr verletztes Bein ausstreckte.

„Jemand muss den Verband wechseln", er wies mit einem Kopfnicken auf die Wunde.

„Ja. Emma hat es mir gesagt. Mehr als einmal sogar."

Als er ihr leises Lächeln bemerkte, fühlte er sich mit einem Mal unendlich erleichtert.

„Wenn du Hilfe brauchst..."

„Nein."

Für einen Augenblick befürchtete er, sich bereits wieder zu weit vorgewagt zu haben. Aber diesmal quittierte Leah seine Besorgnis mit einem matten Lächeln.

„Das schaffe ich allein", sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und legte die Hand gegen ihren Leib. „Mein Magen knurrt, als hätte ich seit Tagen nichts mehr zu Essen bekommen."

Buck lachte leise.

„Jimmy kocht gar nicht so übel. Meistens jedenfalls."

Leah sah sich suchend um.

„Wo ist Jimmy?", fragte sie stirnrunzelnd.

„Feuerholz sammeln, nehme ich an. Es wird bald etwas zu Essen geben, gleichgültig, was Cody darüber behauptet." Buck warf dem blonden Reiter, der sich leise knurrend in ihrer Nähe niedergelassen hatte, einen finsteren Blick zu.

Cody streckte ihm die Zunge raus und schob sich missmutig einen Grashalm zwischen die Lippen.

Leah runzelte die Stirn.

„Vielleicht sollten wir Jimmy helfen."

Doch Cody schüttelte den Kopf.

„Aber dann gäbe es schneller etwas zu essen." Das Mädchen ließ sich nicht beirren. „Und es ist auch nicht richtig, dass er alles allein machen soll. Wir..."

„Du wirst ihm ganz sicher nicht helfen!", Cody runzelte die Stirn. „Nur über meine Leiche würde ich das zulassen!"

Als Buck Leahs finsteren Blick bemerkte, kam ihm in den Sinn, dass Cody nicht zu ahnen schien, wie nah er mit seinen unbedachten Worten vielleicht schon im nächsten Augenblick der Wahrheit sein würde. Begütigend griff er nach seiner Wasserflasche und hielt sie Leah entgegen.

„Cody hat Recht. Jimmy lässt sich nicht gern beim Kochen in die Karten schauen. Ihm helfen zu wollen wäre wohl keine gute Idee. Hier, du siehst aus, als könntest du einen kühlen Schluck vertragen."

Stirnrunzelnd griff Leah nach der Flasche und setzte sie an die Lippen. Schweigend beobachtete Buck, wie ein einzelner silberner Wassertropfen langsam über ihren Hals rann und auf der dunklen Staubschicht eine helle Spur hinterließ, während sie trank.

„Danke." Sie wischte sich über die feuchten Lippen und gab ihm die Flasche zurück.

Buck lächelte und trank selbst. Dann reichte er das kühle Nass an Cody weiter.

„Bis hierher haben wir es ohne Zwischenfälle geschafft", Cody wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und verschloss die Wasserflasche, bevor er sie Buck zurückgab. „Wir wollen hoffen, dass das auch weiterhin so bleibt. Was denn, Ike?" Er bedachte den stummen Reiter mit einer hochgezogenen Augenbraue. „So ist es doch, oder?"

„Ike meint, dass wir in dieser Nacht doppelte Wachen aufstellen sollten", übersetzte Buck die Handzeichen des stummen Reiters. „Rawlins Männer könnten uns bereits auf der Fährte sein."

„Ach was! Wahrscheinlich wissen die noch nicht einmal, dass wir aufgebrochen sind. Immerhin hat Teaspoon versprochen, überall in Teaspoon das Gerücht in die Welt zu setzen, dass der Marshall Leah in zwei Tagen selbst nach Deadwood eskortieren will." Der blonde Reiter lehnte sich zufrieden gegen seinen Sattel und faltete die sonnengebräunten Hände über der Brust. „Vorerst sind wir in Sicherheit."

„Wenn du dich da nur nicht täuscht, Cody", gab Lou zu bedenken. „Immerhin wussten die Banditen auch gestern, wo Leah zu finden war."

Kid nickte ernst.

„Wir können uns nicht darauf verlassen, dass Teaspoons Plan aufgeht. Stattdessen müssen wir doppelt vorsichtig sein. Ike, du hast sicher Recht, und das Aufstellen einer doppelten Wache ist eine gute Idee."

Cody zuckte ungerührt mit den Achseln. Doch dann wandte er sich mit einem breiten Lächeln an Leah, die der Unterhaltung zwischen den Reitern stumm gelauscht hatte.

„Mag ja sein. Was ich aber immer noch nicht verstehe ist, warum Rawlins so scharf darauf ist, dir eins auszuwischen. Was immer du da draußen gesehen haben magst, Leah, bedeutet doch noch lange nicht, dass man dir vor Gericht Glauben schenken wird."

Das Mädchen presste die Lippen zusammen.

„Ich habe gesehen, wie Rawlins seinen Sohn, Bear Hearts Enkel, erschossen hat. Und genau das werde ich im Zeugenstand aussagen."

„Wenn Rawlins da Gegenteil behauptet, dann steht deine Aussage gegen seine. Warum bist du dir so sicher, dass man gerade dir glauben wird?"

„Weil ich die Wahrheit sage!"

„Wenn er schlau ist, wird Rawlins das auch von sich behaupten."

„Cody, lass gut sein", Kid beugte sich vor und legte seinem Freund warnend den Arm auf die Schulter.

Aber auch Buck hatte Leah funkelnden Blick bemerkt. Bereit einzugreifen, wann immer es notwendig sein würde, beugte er sich vor. Als das Mädchen nun jedoch sprach, war ihre Stimme so leise, dass er sie kaum verstehen konnte.

„Ich werden meinen Standpunkt zu vertreten wissen, darauf kannst du dich verlassen, Cody. Darauf könnt ihr euch alle verlassen!" Angriffslustig starrte sie in die Runde.

Lou räusperte sich.

„Natürlich wirst du vor Gericht aussagen, was du gesehen hast. Das ist sehr mutig. Und es ist richtig, denn der Mörder des Jungen muss bestraft werden."

Buck sah, wie Leahs Miene sich bei diesen Worten ein wenig entspannte und er atmete erleichtert auf. Doch noch während er selbst nach einer Möglichkeit suchte, ohne viel Aufhebens zu einem unverfänglichen Gesprächsthema überzuwechseln, sorgten Codys nächste Worte bereits schon wieder dafür, Lous kleinen Erfolg zunichte zu machen.

„Wie auch immer. Aber ich verstehe nicht, warum Rawlins diese ganze Mühe auf sich nimmt. Ich meine, immerhin haben seine Leute versucht, dich und Emma umzubringen!"

„Sie wollten mich!", stieß Leah aus. „Emma war nur zu falschen Zeit am falschen Ort, das ist alles!"

„Warum, Leah? Warum diese Mühe? Warum lässt Rawlins es nicht einfach drauf ankommen? Welche Chancen bleiben diesem angeklagten Medizinmann denn noch in einer Stadt wie Deadwood, selbst dann, wenn es Aussage gegen Aussage stünde? Die Leute wollen den Indianer hängen sehen und Rawlins und seine Bande wollen dasselbe! Du wirst auf ziemlich verlorenem Posten stehen, Leah."

Als das Mädchen erbost aufsprang, taumelte sie. Ihr verletztes Bein drohte seinen Dienst zu versagen und als sie schwankend auf die Füße kam, zeichneten sich kleine, glänzende Schweißperlen auf ihrer Stirn ab. Doch ihre Augen funkelten bedrohlich.

„Es sind Menschen wie du, Cody, die es Rawlins und seinen Spießgesellen so einfach machen, ihr Spiel mit den Schwachen und Wehrlosen zu treiben!", zischte sie wütend. „Eine Bande Halsabschneider und eine Stadt voller Indianerfeinde genügen, um dich ins Bockshorn zu jagen? Also gut! Tu, was du für richtig hältst! Und wenn du magst, dann geh nach Sweetwater zurück, denn ich brauche deine Hilfe nicht!"

Ärgerlich hinkte sie davon und ließ Cody mit weit offenem Mund zurück. Als der blonde Reiter sich von seiner Überraschung erholt hatte, war Buck längst aufgesprungen und Leah nachgeeilt.

„Was habe ich denn getan?" Hilfe suchend blickte Cody seine Freunde an. „Ich habe doch nur ein paar Fragen gestellt. Das ist doch kein Grund, dass sie sich gleich so aufregt!"

„Du hast ihre Glaubhaftigkeit in Zweifel gezogen, kein Wunder, dass sie wütend auf dich ist!" Lou bedachte den blonden Reiter mit einem vorwurfsvollen Blick. „Du hast sie verletzt! Und nach allem, was sie in den letzten Tagen durchgemacht hat, ist das sicherlich das Letzte, was sie braucht!"

„Aber..."

„Cody", Kid schüttelte ernst den Kopf, „es ist wirklich an der Zeit für dich zu lernen, wann du besser deinen Mund halten solltest."

„Leah!" Buck holte das Mädchen ein, als sie gerade den Waldrand erreicht hatte. „Warte!"

Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass sie stehen bleiben würde. Aber sie tat es. Ohne sich zu ihm umzuwenden, lehnte sie sich mit dem Kopf gegen den Stamm einer Pappel und wartete. Ihre Schultern bebten und er bemerkte, dass ihr Atem schneller ging, als gewöhnlich.

„Leah." Behutsam näherte er sich. Als sie sich nicht von der Stelle rührte, fasste er neuen Mut. „Was Cody gesagt hat, war falsch. Aber er hat es nicht so gemeint. Viel zu oft sagt er Dinge, die ihm schon Augenblicke später Leid tun."

„Du musst dich nicht für ihn entschuldigen." Ihre Stimme klang dumpf und gepresst.

„Er ist mein Freund."

Sie schwieg und Buck nutzte die Gelegenheit, um näher an sie heranzutreten.

„Er wird sich bei dir entschuldigen." Inzwischen stand er so nah bei ihr, dass er die winzigen, blonden Härchen auf ihrem bloßen Nacken erkennen konnte. „Er wird dir sagen, wie Leid es ihm tut." Nur mühsam widerstand er dem Verlangen, die Hand auszustrecken und sie zu berühren.

„Das muss er nicht. Es ist nicht nötig, dass du ihm Ratschläge erteilst."

„Das meinte ich nicht", Buck runzelte die Stirn. „Cody wird zu dir kommen, weil er es für richtig hält. Nicht weil ich es ihm sage."

„Warum auch immer er kommen mag, ist unwichtig. Denn es wird nichts ändern."

„Nichts ändern? Aber woran denn?"

„An dem, was er gesagt hat", Leah seufzte leise. „An der Wahrheit."

Buck wartete, verunsichert und ein wenig ratlos.

„Was er gesagt hat, ist wahr. Es wird nicht einfach für mich sein, die Menschen in Deadwood dazu zu bringen, mir zuzuhören, und noch weniger, sie dazu zu bewegen, meinen Worten Glauben zu schenken. Sie wollen einen Indianer hängen sehen, Buck, und mein Wort wird zwischen Bear Heart und dem Galgen stehen. Vielleicht werden sie mir nicht einmal zuhören."

„Das werden sie!" Entschlossen legte Buck die Hand auf seinen Gürtel. „Sie werden zuhören, was Du zu sagen hast. Dafür werden wir sorgen!"

Leah lachte leise. Aber es klang bitter und erschöpft.

„Vielleicht könntet ihr die Menschen in Deadwood wirklich dazu bringen, mir zuzuhören. Aber dann? Eure Waffen werden sie nicht dazu bringen, meinen Worten auch Glauben zu schenken."

„Nicht alle Menschen sind gleich, Leah. Auch in Deadwood wird es Männer und Frauen geben, die der Vernunft und der Wahrheit zugänglich sein werden. Sie werden dir zuhören."

Als sie schwieg, berührte er leicht ihre unverletzte Schulter. Seine Fingerspitzen erwärmten sich augenblicklich und er fragte sich, wie es nur möglich sein könnte, dass sich sein gesamtes Körpergefühl mit einem Mal in seiner rechten Hand sammeln konnte. Er schluckte.

„Leah, als ich nach Sweetwater kam, um für den Pony Express zu reiten, dachte ich, alle Weißen wären gleich. In der Stadt leben Menschen, wie Thompkins, dem der General Store gehört, und die Indianer aus tiefstem Herzen verachten. Aber dort leben auch Menschen wie Teaspoon und Emma, wie Sam Cain, die sich nicht darum scheren, welche Hautfarbe ein Mensch hat oder woher er kommt. Leah, auch in Deadwood wird es solche Menschen geben, hab keine Angst."

„Angst, Buck? Es ist lange her, dass ich Angst gehabt habe. Aber wenn ich sie in diesem Moment fühlen würde", sie wandte sich zu ihm um und lächelte leicht, „könnten deine Worte sie vielleicht verjagen." Ihre Hand berührte leicht seine Finger, die auf ihrer Schulter lagen. „Cody kann sich glücklich schätzen, eine Freund wie dich zu haben."

„Ich bin auch dein Freund, Leah."

„Ich weiß." Ihre Finger schlossen sich um die seinen.

Er versuchte das Gefühl der Wärme, dass sich plötzlich in seinem Leib ausbreitete, zu ignorieren.

„Buck?"

„Ja?"

„Ich brauche ein wenig Zeit für mich allein. Ich muss nachdenken."

Er nickte ernst.

„Ich werde zum Lagerplatz zurückkommen, noch bevor der Mond aufgegangen ist."

Ihre Finger lösten sich von den seinen und sie trat einen Schritt zurück. Stumm beobachtete er, wie sie zwischen den Bäumen verschwand, bis nur noch ein Schatten und zuletzt gar nichts mehr von ihr übrig blieb. Lange stand er einsam zwischen den Bäumen und dachte an das, was sie ihm gesagt hatte, bevor er schließlich mit klopfendem Herzen an das Flussufer zurückkehrte.

Wütend stapfte Jimmy durch das Unterholz. Er gehörte wahrlich nicht zu den Männern, die Frauen schlugen. Aber während des Ritts von Sweetwater bis hierher hatte er beinahe gewünscht, es wäre anders. Ohne genau sagen zu können warum, raubte Leah ihm mit ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der drohenden Gefahr den letzten Nerv. Was glaubte das Mädchen, wer sie war? Zuerst hatte sie mit ihrer Geheimnistuerei Rawlins Killer direkt zur Way Station geführt und beinahe verschuldet, dass Emma getötet worden wäre, und dann besaß sie außerdem die Kaltblütigkeit weiter nach Deadwood reiten zu wollen, als wäre überhaupt nichts geschehen. Für eine Weile hatte Jimmy gehofft, dass ihre Verwundung das Mädchen am Weitereiten hindern würde, doch zuletzt hatte er einsehen müssen, dass er sich geirrt hatte. So schnell das Reisetempo auch gewesen war, Leah hatte mit zusammengebissenen Zähnen durchgehalten, und dass ärgerte Jimmy mindestens ebenso sehr, wie er ihre Zähigkeit in dieser Angelegenheit bewunderte. Aber da gab es noch etwas anderes. Daheim auf der Pony-Express-Station hatte sie ihm abwechselnd mit hochnäsiger Herablassung und spitzen Sticheleien bedacht, aber nun, da sie unterwegs waren, konnte man ihre Haltung ihm gegenüber nicht anders als kühle Ablehnung bezeichnen. Seit dem Morgen hatte sie nicht ein einziges Wort an ihn gerichtet und die Beantwortung aller Fragen und Entscheidungen stets Buck und Cody überlassen, die nicht von ihrer Seite wichen. Jimmy runzelte ärgerlich die Stirn, während er sich zu Boden bückte und eine Hand voll trockener Zweige aufhob. Codys Interesse an dem Mädchen mochte in einer seiner üblichen Flatterhaftigkeiten begründet sein, denn schließlich verliebte sich sein Freund beinahe jede Woche neu und machte daraus keinen Hehl. Bei Buck jedoch vermutete Jimmy jedoch anderes und das gefiel ihm gar nicht. Sein Kiowa-Freund war schon immer äußerst empfindlich gewesen, wenn es um vermeintlich indianische Belange ging, doch die Sache mit Leah war etwas anderes. Ihm war förmlich anzusehen, dass sein Interesse weit über ihre mysteriöse Vergangenheit und ihre seltsame Verbindung zu diesem Cheyenne-Medizinmann, den sie vor dem Galgen retten wollte, hinausging. Genau genommen konnte man mit Buck nicht einmal mehr richtig reden, seitdem Leah aufgetaucht war, denn der indianische Reiter vermutete hinter jedem unbedachten Wort einen Angriff auf das Mädchen. Jimmy fluchte leise, als ein trockener Zweig unter seinen Händen zerbrach und sich in seine Handfläche bohrte.

Was immer Buck sich dabei dachte, Jimmy hoffte sehr, dass der Freund zu Verstand kommen würde, bevor sie Deadwood erreicht hatten. Notfalls, wenn es nicht anders möglich war, so schwor sich Jimmy, würde er ihm eben selbst Vernunft einprügeln müssen! Das wäre nicht das erste Mal...

Er spürte den stechenden Schmerz knapp über seinem Handgelenk, noch bevor er das klappernde Rasseln zu seinen Füßen hörte. Die trockenen Äste, die er gesammelt hatte, fielen knisternd zu Boden. Er riss seine Hand zurück und stieß einen schrillen Schrei aus. Seine unverletzte Hand packte den Revolver, noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte. Er nahm eine raschelnde Bewegung im Unterholz wahr und drückte ab. Der Schuss durchfuhr donnernd die Stille des Waldes. Ein Schwarm kreischender Vögel stob aus dem dichten Geäst eines Baumes in den Himmel. Die Bewegung im Unterholz hatte aufgehört. Stumm vor Schreck starrte Jimmy auf seinen Arm. Über dem linken Handgelenk waren zwei winzige dunkle Punkte zu sehen, aus denen glitzernde, wässerige Blutstropfen hervorquollen. Er atmete keuchend ein und versuchte das Gefühl der Panik zu bekämpfen, während er spürte, wie sich das unangenehme Stechen der Wunde in einen brennenden Schmerz verwandelte.

Kid sprang auf, als der Schuss die Luft zerriss. Aber Buck war schneller als er. Noch bevor Kids Stiefelspitzen den Boden berührt hatten, setzte der junge Kiowa mit einem weiten Sprung über das Feuer hinweg.

„Verdammt!" Cody folgte Buck, der bereits am Waldrand verschwand, während er in vollem Lauf sein Gewehr entsicherte.

„Leah!" Entsetzt starrte Lou auf einen Schwarm Krähen, der sich mit einem Mal kreischend über den Baumwipfeln erhob. „Kid, wenn das die Rawlins-Bande ist, dann..."

Kid schüttelte stumm den Kopf. Er wusste genau, was Lou ihm sagen wollte. Er packte sie am Arm.

„Du bleibst hier, Lou, hörst du! Warte, bis wir zurückkommen!"

„Vergiss es, Kid!" Ärgerlich machte sie sich aus seinem Griff los und schnaubte. „Das hier geht uns alle an! Du kannst mich nicht zurückschicken, nur weil ich ein Mädchen bin!"

Dann wandte sie sich ab und rannte hinter Ike her, der mit gezogener Waffe auf den Waldrand zueilte. Kid presste die Lippen zusammen und folgte seinen Freunden. Er wagte es nicht, auch nur einen Gedanken daran zu verwenden, was sie im Wald vorfinden würden.

Seine Welt wankte. Sie drehte sich um ihre eigene Achse, und er hätte die Orientierung verloren, wäre da nicht das brennende Schmerzzentrum gewesen, dort, wo einmal sein Handgelenk gewesen war. Er wollte schlucken, doch sein Mund war trocken. Seine Lippen fühlten sich an wie raues Sandpapier. Er war durstig, so durstig, wie noch nie zuvor in seinem Leben, und konnte doch nicht schlucken. Hilflos röchelte er.

„Jimmy!"

Er blinzelte, versuchte seinen Blick auf die dunkle Gestalt zu fokussieren, die mit einem Mal zwischen den Bäumen aufgetaucht war. Doch es gelang ihm nicht. Eine Hand fasste seine Schulter und drückte ihn zu Boden. Er wankte, versuchte sich zu widersetzen, doch seine Beine gaben nach. Er stieß mit dem unverletzten Arm gegen etwas Hartes. Die harten Spitzen abgebrochener Äste bohrten sich in seine Oberschenkel, als er dumpf auf dem Boden aufkam. Er atmete mühsam und versuchte zu begreifen, was mit ihm geschah.

Die leisen, zischenden Worte drangen an sein Ohr, aber er verstand sie nicht. Stattdessen spürte er eine Berührung an seinem Arm. Geschickte Hände schlangen etwas darum und zogen es fest. Jimmy tastete danach, doch eine forsche Hand schob seine Finger zur Seite. Er blinzelte, doch seine tränenden Augen verschleierten seine Sicht. Dennoch sah er die blitzende Klinge, die plötzlich vor seinem Gesicht aufleuchtete. Verwirrt fuhr er zurück.

Eine Hand packte sein Haar und zwang seinen Kopf in die Bewegungslosigkeit.

„Halt still!"

Er wollte sich aus dem Griff losmachen, dem Messer ausweichen, doch als er seinen Kopf bewegte, wallte Übelkeit in ihm auf.

„Halt still! Wenn du es nicht tust, wirst du sterben!"

Er holte pfeifend Atem und sagte sich gleichzeitig, dass er noch nicht tot sein konnte. Denn sein Handgelenk schmerzte inzwischen höllisch. Und außerdem besaß der Tod ganz sicher keine Augen, die so grau waren wie Gewitterwolken...

Die blitzende Klinge senkte sich. Der Schmerz, der ihn mit einem Mal erfasste, überdeckte sogar das Brennen in seinem Arm. Er holte pfeifend Luft und wollte danach greifen. Doch seine Hand würde zur Seite geschlagen. Und dann fühlte er, wie sich der Schmerz seiner Hand bemächtigte, seines Armes, seines Körpers und zuletzt seines Verstandes.

Als Buck sein Ziel erreichte, war es totenstill auf dem kleinen Fleckchen Erde zwischen den hohen Bäumen. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchten den erdigen Waldboden in ihr goldenes Licht, während ein leichter Wind durch die trockenen Äste fuhr. Aber Buck hatte keinen Sinn für die Schönheiten der Natur. Seine Aufmerksamkeit galt allein den beiden Gestalten, die neben einem mächtigen Baumstamm dicht beieinander am Boden kauerten. Er blieb stehen und holte tief Luft, während er spürte, wie sein Herz schmerzhaft gegen seine Brust schlug. Er konnte Leahs Gesicht nicht erkennen, denn das Mädchen wandte ihm den Rücken zu. Aber sie war Jimmy, der mit dem Rücken gegen den Baum lehnte so nah, dass er das Bedürfnis verspürte, sich auf dem Fuß umzuwenden und im Dunkeln des Gehölz zu verschwinden. Doch dann erinnerte er sich an den Schuss, den er aus der Ferne vernommen hatte, und daran, dass Leah sich in das Gehölz zurückgezogen hatte, um allein zu sein, wie sie gesagt hatte. Doch noch bevor die lodernde Wut erneut in seinen Adern auflodern konnte, entdeckte Buck den Revolver, der zwischen vertrocknetem Moos und morschen Ästen auf dem Boden lag. Er blinzelte verwirrt. Jimmys Revolver...

Hinter sich vernahm er dumpfe Fußtritte, die sich eilig ihren Weg über knackende Äste und durch vertrocknetes Buschwerk hindurch bahnten. Und plötzlich vernahm er auch das heisere Röcheln. Das bedrohliche und doch so unerwartete Laut brachte ihn wieder zur Besinnung. Mit einem weiten Sprung überwand er ein knie hohes Gestrüpp und fiel neben Leah und Jimmy auf die Knie.

„Was ist passiert?"

Erschrocken bemerkte er die blutigen Ränder von Jimmys Hemdsärmel, die in Fetzen von seinem Arm herunterhingen. Sein Gesicht war kreidebleich und ein glänzender Schweißfilm hatte sich auf der Haut gebildet.

Buck Stiefelspitze stieß gegen einen harten Gegenstand. Als er die Hand danach ausstreckte, erkannte er, dass es Leahs blutverschmiertes Messer war.

„Was ist passiert?", wiederholte er atemlos.

Für einen kurzen Augenblick hob das Mädchen den Kopf. Sie spuckte blutige Flüssigkeit auf den Waldboden und hustete. Dabei wischte sie sich mit dem Hemdsärmel über den blutverschmierten Mund.

„Schlange!" stieß sie keuchend hervor, bevor sie sich erneut nach vorn beugte und ihre Lippen auf Jimmys Handgelenk presste.

Buck fuhr zurück. Ein Schlangenbiss! Er wusste um die zahllosen gefährlichen Reptilien, die sich in diesem Landstrich herumtrieben. Im Volk seiner Mutter hatte man ihn gelehrt, auch den beinlosen Geschöpfen mit größtem Geschöpf zu begegnen, denn auch sie waren einst vom Großen Geist geschaffen worden. Er hatte gelernt, wie man diesen mächtigen Jägern und ihren gefährlichen Giftzähnen aus dem Weg ging. Trotzdem jagte ihm der Gedanke daran stets einen kalten Schauer über den Rücken. Seine Finger zitterten, als er die Hand ausstreckte und Leah leicht an der Schulter berührte. Er fühlte, wie sich ihre Muskeln anspannten. Trotzdem hob sie nicht einmal den Kopf. Jimmy stöhnte leise.

Mit einem lauten Knacken brachen seine Freunde durch das Unterholz. Innerhalb eines einziges Augenblick drängten sich die übrigen vier Reiter um den Verletzten und das kniende Mädchen. Während Lou erschrocken die Hand vor den Mund schlug, stocherte Cody bereits mit dem Lauf seiner Flinte in dem trockenen Unterholz herum.

„Bist du ebenfalls gebissen worden, Leah?", krächzte Buck voller Sorge.

Doch das Mädchen schüttelte seine Hand unwirsch ab. Anstatt zu ihm aufzusehen, spuckte sie erneut blutigen Schleim auf den Boden.

„Seht nur!" Mit angewidertem Gesichtsausdruck hielt Cody den schlaffen, schuppigen Körper einer Schlange empor. Dort wo einmal ihr Kopf gewesen war, hing rohes Fleisch in Fetzen herunter. Aber es waren die schuppigen, beinahe schwarzen Rasseln am Schwanzende des toten Tieres, die Kid auffahren ließen.

„Eine Klapperschlange!", rief er.

Lou stieß einen leisen Schrei des Entsetzens aus.

„Jimmy!"

„Lass ihn!" Buck fiel ihr in den Arm. „Leah tut genau das Richtige! Sie saugt das Gift aus der Wunde! Nur so hat er eine Chance zu überleben!"

Kid packte Lou bei den Armen und hielt sie zurück.

Aufgeregt schlug Ike mit den Händen schnelle Zeichen in die Luft.

„Nein, Ike." Buck holte tief Luft, um dem bedrückenden Gefühl der Enge in seiner Brust Herr zu werden. „Der Biss einer Prärieklapperschlange ist nicht immer tödlich. Nicht, wenn der Biss sofort versorgt und das Gift aus der Wunde gezogen wird."

Anklagend wies Ike auf die blutigen Flecken auf dem Boden. Dabei schüttelte er empört den Kopf.

„Leah musste ihn schneiden. Die Schnitte über und unter der Wunde sind nötig, damit sich das Gift nicht noch weiter durch Jimmys Körper ausbreitet!" Buck fröstelte, während er beobachtete, wie Jimmys Lippen sich bläulich verfärbten und er keuchend Atem holte. „Je mehr er blutet, umso besser!"

„Können wir etwas für ihn tun?" Kid beugte sich besorgt vor. „Können wir ihm irgendwie helfen?"

„Wir brauchen Decken, um Jimmy warm zu halten. Und später, wenn die Wunde versorgt ist, müssen wir ihn zum Lagerplatz zurückbringen." Buck überlegte verzweifelt, was noch zu tun bliebe, um das Leben ihres Freundes zu retten. „Danach darf er sich so wenig wie möglich bewegen. Vielleicht wird er Fieber bekommen."

„Aber er wird nicht sterben?" Ängstlich starrte Lou zu dem Verletzten hinüber, der leichenblass und mit geschlossenen Augen am Fuße des Baumes lehnte. „Das wird er doch nicht, Buck, oder?"

Der junge Kiowa schüttelte den Kopf.

„Ich denke nicht." Er hoffte inständig, dass seine Antwort überzeugender klang, als er sich fühlte.

„Jimmy wird es schaffen, Lou." Kid strich ihr über die Wange und sprang dann auf. „Cody und ich holen die Decken aus dem Lager!"

Zusammen mit dem blonden Reiter verschwand er zwischen den Bäumen.

„Wir brauchen auch Wasser und Verbandsmaterial", Buck sah Ike an.

Der stumme Reiter nickte und verschwand ebenfalls im Gehölz.

„Lou, fass mit an!"

Buck sah, dass Leah den Kopf hob. Wieder spuckte sie aus. Doch diesmal beugte sie sich nicht wieder über die blutige Wunde an Jimmys Handgelenk. Stattdessen sank ihr Kopf gegen das raue Holz des Baumstammes und blieb dort liegen.

„Kümmere dich um Jimmy, Lou! Hier!" Buck reichte ihr sein Halstuch. „Nein, löse den Knoten noch nicht. Der Arm muss weiter abgebunden bleiben, wenigstens bis wir die Wunde gereinigt haben!"

Buck beobachtete, wie Lou sich über Jimmy beugte, ihm mit dem Tuch über die schweißnasse Stirn fuhr und dabei leise auf ihn einsprach. Dann wandte er sich Leah zu. Das Mädchen atmete schwer. Als sie jedoch Bucks Hand an ihrer Wange spürte, hob sie den Kopf und blinzelte. Dann wischte sie sich mit dem Ärmel ihrer Jacke über den Mund. Trotzdem blieb eine dunkle Blutspur auf ihrer rechten Wange zurück.

„Du hast schnell gehandelt."

Sie nickte stumm und fuhr mit der Zunge über ihre blutigen Lippen. Noch einmal spuckte sie auf den Boden.

„Es war niemand anders da, der ihm hätte helfen können", antwortete sie stockend. „Ich war in der Nähe und habe den Schuss gehört."

Buck nickte geistesabwesend. Stirnrunzelnd betrachtete er den dunklen Blutfleck zu ihren Füßen.

Leah führ sich erneut mit dem Ärmel über den Mund. Wieder spuckte sie aus.

„Ist alles in Ordnung mit dir?" Besorgt beugte Buck sich vor.

Das Mädchen wollte den Kopf abwenden, doch der junge Kiowa war schneller. Er packte ihr Kinn und zwang zu, ihn anzusehen. Sie presste die Lippen aufeinander. Doch ihm entging nicht, dass ihr Blick flackerte.

„Mach den Mund auf!"

Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte den Kopf drehen, doch er verstärkte seinen Griff und hielt sie fest.

„Was ist mit dir, Leah?"

Sie versuchte unwillig den Kopf zu schütteln, doch seine Finger hielten ihr Kinn weiterhin umklammert.

„Nichts. Lass mich los, Buck!", zischte sie mit zusammengepressten Zähnen.

„Nein!"

Entschlossen presste er seine Finger gegen ihren Kiefer und zwang sie so, ihren Mund zu öffnen.

„Leah..."

Atemlos ließ er seine Hände sinken. Augenblicklich presste sie ihre Lippen wieder aufeinander. Doch er hatte genug gesehen. Der Anblick der blutigen Wunden auf ihren Lippen würde etwas sein, dass er zeitlebens nicht wieder vergessen würde. Das Blut... das Gift...

„Verdammt, Leah!"

Das Mädchen wandte ihren Kopf zur Seite und starrte zu Boden.

„Das Gift..." Sie musste sich während des Rittes immer und immer wieder auf die Lippen gebissen haben, um den Schmerz in ihrem Bein zu besiegen. Nun war das Fleisch zerschunden und blutig.

„Es wird mich nicht umbringen! Ich bin stark genug und die Wunden sind klein! Ich werde es überstehen!"

„Leah." Buck atmete zischend ein und versuchte seiner Sinne Herr zu werden. Seine Hände zitterten wie Espenlaub, als er daran dachte, wie viel des tödlichen Gifts durch die Wunden in ihren Körper gelangt sein konnte, während sie versucht hatte, Jimmy das Leben zu retten.

„Ich werde es schaffen!" Ihre Lippen bebten und ihr Blick flackerte.

„Du wirst krank werden."

„Aber ich werde überleben!"

Buck zwang sich unter Aufehrbietung aller seiner Kräfte zur Ruhe. Er fasste ihre Hände und drückte sie.

„Du darfst dich nicht mehr bewegen", stieß er hervor. „Du musst dich ausruhen."

Entschlossen machte sie sich aus seinem Blick los. Als sie vom Boden aufstehen wollte, packte er sie bei den Schultern.

„Nicht bewegen, sage ich!"

„Buck!" Sie wand sich unter seinem Griff. Doch als sie schließlich einsehen musste, dass ihre Bemühungen zwecklos waren, verharrte sie und sah ihn an. „Ich weiß, was mit mir geschehen wird. Ich werde krank werden."

Er nickte stumm und verzweifelt.

„Aber ich werde nicht sterben." Ihre Lippen zitterten. Aber ihr Blick war eindringlicher denn je. „Buck, ich möchte nicht, dass die anderen mich so sehen! Bring mich fort von hier!"

Die Gedanken des jungen Kiowa rasten. Schon einmal hatte er einen Krieger gesehen, der mit den Folgen eines Schlangenbisses gekämpft hatte und begriff nur zu gut, warum das Mädchen die Nähe der Reiter ablehnte. Der Krieger hatte damals den ungleichen Kampf gegen das Gift verloren... Entschlossen drängte Buck den Gedanken beiseite.

„Wir können dich nicht allein lassen, Leah", beschwor er das Mädchen. „Nicht... so."

„Dann bleib du bei mir, Buck. Nur du allein." Die Finger des Mädchen gruben sich tief in seinen Unterarm. „Buck, bitte!"

„Gut," entschlossen nickte er, „ich werde dich zum Flussufer hinunterbringen. Dort sind wir nahe genug bei den anderen, um in Sicherheit zu sein, aber doch so weit fort, dass keiner von ihnen dich sehen wird."

Leah lächelte schwach.

„Und morgen Früh", fuhr Buck tröstend fort, „wenn es dir wieder besser geht, werden wir zu ihnen zurückkehren und unseren gemeinsamen Ritt fortsetzen."

Buck hoffte von Herzen, dass er sich nicht irrte.

Ein Schwarm Krähen flog krächzend über die bewaldete Anhöhe hinweg, an welche das Flussufer mündete und ließ Buck hochschrecken. Erschöpft von den Ereignissen des Tages war er eingenickt. Blinzelnd rieb er sich die Augen und fuhr mit der Zunge über seine rauen, trockenen Lippen. Dann blickte er auf das Mädchen in seinen Armen hinunter. Sanft strichen seine Finger ein paar feuchte Haarsträhnen aus ihrem bleichen Gesicht. Doch wenigstens zitterte sie nicht mehr und auch das Fieber schien zurückgegangen zu sein. Noch immer fühlte sich ihre Stirn warm an, zu heiß, als dass der junge Kiowa sich keine Sorge mehr hätte machen müssen, dennoch schien sich ihr Zustand in den vergangenen Stunden, während er selbst geschlafen hatte, gebessert zu haben. Buck seufzte leise. Kurz nach Einbruch der Dämmerung, nur kurze Zeit, nachdem die übrigen Reiter den bewusstlosen Jimmy in ihr Lager zurückgebracht hatten, waren Buck und Leah zum Flussufer aufgebrochen. Dort, auf Rufweite, aber dennoch aus der Sicht der anderen, hatte der junge Kiowa ihr Nachtlager bereitet und ein kleines Feuer angezündet. Doch noch bevor die Flammen die trockenen Äste richtig erfasst hatten, hatten sich die ersten Symptome der Vergiftung bei Leah bemerkbar gemacht: Übelkeit und ein unkontrolliertes Zittern der Hände, das bald in ein stetiges Zucken ihres ganzen Körpers übergegangen war. Während des Buck das sich wieder und wieder erbrechende Mädchen gehalten und ihr mit einem feuchten Tuch die Schweißperlen von der fiebernden Stirn gewischt hatte, hatte er im Stillen den Großen Geist darum angefleht, sie am Leben zu lassen. Er gab ihr zu Trinken, bis das zu Tode erschöpfte Mädchen schließlich in seinen Armen einschlief. Während er ihren heißen Körper in eine Decke gewickelt und mit seinen Armen eng umschlungen hielt, flehte er stumm um Hilfe, bis zuletzt auch ihm die Augen zufielen und sein Kopf auf seine Schulter fiel.

Nun, da sich am Horizont bereits die ersten silbernen Strahlen zeigten, schien die Welt sich gewandelt zu haben. Leah lag regungslos in seinen Armen. Ihr Atem, der zuvor rasselnd geklungen hatte, ging ruhig und die durch das Schlangengift hervorgerufenen Muskelkrämpfe waren verschwunden. Während Buck in ihr bleiches Gesicht schaute, schnürte sich seine Kehle vor Erleichterung zu. Er schluckte hart und sandte dem Großen Geist ein stummes Dankesgebet entgegen. Seine Finger strichen in einer federleichten Berührung über ihre hohen Wangenknochen. Ihre Haut war weich wie Samt. In ihrer Halsbeuge konnte er unter seiner Berührung das stetige Pulsieren ihres Blutes spüren. Unendlich erleichtert beugte Buck sich vor. Sanft berührten seine Lippen ihre Stirn. Für einen Augenblick blickte er stumm auf das schlafende Mädchen hinab. Dann schlang er seine Arme enger um ihren Körper und lehnte seinen Kopf gegen den Baumstamm, neben dem er saß. Bald fielen ihm die Augen zu.

Die Krähen waren weitergezogen. Doch es schien als hätten sie die düsteren Schatten der Nacht ein für alle Mal verscheucht.

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