Kapitel 1: HILFERUF

Wie beinahe jeden Tag in den letzten zwei Wochen stieg Petunia Dursley mit einem Tablett die Treppen hinauf, um ihrem Neffen das Essen zu bringen. Als sie leise dessen Zimmer betrat, musste sie feststellen, dass er die letzte Malzeit ebenso wenig angerührt hatte wie die Mahlzeiten davor. Petunia machte sich langsam ernsthaft Sorgen um ihren Neffen, denn seit dieser vor zwei Wochen in das Haus der Dursleys zurückgekehrt war, hatte er nichts anderes getan als aus dem Fenster zu starren oder im Bett zu liegen. Er verweigerte jegliche Nahrungsaufnahme und alle Kommunikations­versuche. Nur seine Eule Hedwig versorgte er. Aber seit er dann zu schwach geworden war um aufstehen zu können, lag er nur noch im Bett, und Petunia musste sich um die Eule kümmern. Einmal hatte Petunia ihm in die Augen gesehen, und sie war entsetzt darüber, was sie gesehen hatte: Wo früher so oft ein fröhliches Funkeln in diesen smaragdgrünen Augen zu Hause war, herrschte heute nur eine unvorstellbare Leere! Petunia bekam den Eindruck, ihr Neffe Harry Potter hatte sich selbst aufgegeben.

Am Abend desselben Tages setzte sich Petunia an den Küchentisch und las den Brief, den sie vor zwei Wochen erhalten hatte. Vor zwei Wochen, als sie mit Vernon, ihrem Mann, und Dudley, ihrem Sohn, Harry vom Bahnhof abgeholt hatten, warteten bereits ein paar von Harrys Freunden auf sie, um mit ihnen ein paar Worte zu wechseln. Um ehrlich zu sein, hatten sie ihnen unverhohlen gedroht, falls Harry von ihnen nicht anständig behandelt werden würde. Angesichts dieser Drohung und in Erinnerung an die Geschehnisse von vor einem Jahr, als Harry ihren Dudley vor den Dementoren gerettet hatte, beschloss Petunia, sich in diesem Jahr wirklich um Harry zu kümmern. Selbst Vernon und Dudley ließen ihn in Ruhe... Der Brief war von Harrys Schulleiter gewesen, einem Mann namens Albus Dumbledore. Er schrieb ihr, was Harry im letzten Jahr widerfahren war, und wie es dazu kam. Und er bat sie um ihre Unterstützung. Dumbledore hatte sogar einen Scheck über mehrere tausend Pfund mit beigelegt, doch davon hatte Petunia weder ihrem Mann noch ihrem Sohn etwas gesagt.

Nachdem Petunia diesen Brief von Dumbledore noch einmal gelesen hatte, seufzte sie und nahm sich Papier und einen Stift und schrieb in ihrer schnörkeligen Handschrift einen Brief an Dumbledore, in dem sie ihm von Harrys Zustand berichtete und ihn schließlich um Hilfe bat. Nachdenklich las sie sich ihren Brief noch einmal genau durch, bevor sie ihn verschloss. Dann ging sie wieder hinauf in Harrys Zimmer. Mit gemischten Gefühlen trat sie an den Eulenkäfig heran. „Hallo Hedwig", sagte sie leise, denn Harry schlief und sie wollte ihn nicht aufwecken. „Ich weiß, dass ich dich bisher immer sehr schlecht behandelt habe, aber dieser Brief hier muss so schnell wie möglich zu Albus Dumbledore. Kannst du ihn hinbringen?" Die Eule schien sie nachdenklich anzusehen, bevor sie mit ihrem Schnabel klackerte und ihr ein Bein entgegenstreckte. Petunia erinnerte sich, was sie tun musste, und so band sie den zusammengerollten Briefumschlag an Hedwigs Bein. „Beeil dich bitte! Und vielen Dank!", sagte sie noch, als die Eule sich in die Luft erhob und schnell davon flog.

Am nächsten Morgen wartete Hedwig mit einem Brief darauf, dass Petunia erwachte. Sie saß am Fußende ihres Bettes. Petunia erschrak ein wenig, als sie ein wenig verschlafen die Eule entdeckte. Auch Vernon war nicht gerade begeistert davon, doch er wusste, dass seine Frau diesem alten Professor geschrieben hatte, um Hilfe für Harry zu erbeten. Also stand er mürrisch auf und schlurfte aus dem Schlafzimmer, während Petunia Hedwig den Brief abnahm und sich bei ihr bedankte. Dann öffnete sie den Brief und las ihn. 'Sehr geehrte Mrs. Dursley, vielen Dank für Ihre Nachricht. Ich bin bestürzt darüber, dass es Harry so schlecht geht! Daher werde ich heute zur Mittagszeit zu Ihnen kommen, ich bringe unsere Krankenschwester mit. Sie hat Harry schon sehr oft helfen können... Mit freundlichen Grüßen, Albus Dumbledore.' Petunia rollte das Pergament wieder zusammen, dann stand sie auf, um das Frühstück für ihre Familie zu machen.

Pünktlich zur Mittagszeit klingelte es und Petunia öffnete die Tür. „Guten Tag, Mrs. Dursley", sagte der alte Mann mit dem schlohweißen, langen Haar und dem ebenso weißen und langen Bart. „Ich bin Albus Dumbledore, und das hier ist Madam Pomfrey, unsere Krankenschwester in Hogwarts." Petunia ließ beide hinein und führte sie hinauf in Harrys Zimmer. Vernon blieb im Wohnzimmer, und Dudley hatte sich mal wieder versteckt.

Professor Dumbledore und Madam Pomfrey waren schier entsetzt, als sie Harry sahen, der in seinem Bett lag und die Decke anstarrte. Seine schwarzen Strubbelhaare waren matt, stumpf und ungewaschen. Harry sah furchtbar blass und eingefallen aus, und er war sehr stark unterernährt. Unter den stumpfen, glanzlosen Augen hatte er tiefschwarze Ringe, und seine Lippen waren nahezu blutleer. Madam Pomfrey schluckte hart, dann zog sie die Bettdecke weg, um Harry untersuchen zu können. Er lag nur mit einer Unterhose bekleidet da, die genauso ungewaschen wie Harry selbst war, und rührte sich nicht. Dumbledore und Pomfrey trieb es die Tränen in die Augen, als sie feststellen mussten, dass Harry praktisch nur noch aus Haut und Knochen bestand. Dumbledore hatte schon einmal Bilder davon gesehen, doch das war schon sehr lange her. Genauso wie Harry hatten die Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg ausgesehen, die aus den Konzentrationslagern befreit worden waren...

„Er ist so stark unterernährt, dass es ein Wunder ist, dass er noch lebt", flüsterte Madam Pomfrey, nachdem sie Harry untersucht hatte. „Aber das können wir wieder hinbekommen. Das Schlimmste aber ist – ich kann keinerlei geistige Aktivität feststellen. Er wirkt, als hätte ihn ein Dementor geküsst..." Erschrocken wurde sie sowohl von Albus Dumbledore als auch von Petunia angesehen. Petunia erinnerte sich schlagartig wieder daran, was sie über die Dementoren wusste, und dass ihnen Dudley vor einem Jahr fast zum Opfer gefallen wären. „Können Sie ihm helfen?", presste sie heraus. „Wir wollen es versuchen", meinte daraufhin der Professor, bevor er seine Hände auf Harrys Kopf legte und einen Zauberspruch murmelte, den Petunia aber nicht verstand. Nach ein paar Minuten nahm Dumbledore seine Hände wieder weg und schüttelte traurig seinen Kopf, eine einsame Träne lief ihm dabei die Wange hinunter und verlor sich in seinem Bart. „Du hast Recht, Poppy. Keinerlei Aktivität. Aber Harry hat noch seine Seele, also können wir die Dementoren ausschließen."„Merlin sei Dank!", entfuhr es der Krankenschwester. „Merlin?", fragte Petunia. „Den gibt es wirklich? Ich habe mal als Kind eine Geschichte über ihn gelesen..."„Ja, Mrs. Dursley, Merlin gibt es wirklich. Er war ein sehr bedeutender und mächtiger Zauberer und ist in unserer Welt genauso berühmt wie Harry. Poppy, was können wir tun?"„Nun, als Erstes muss Harry körperlich aufgepäppelt werden, sonst stirbt er uns noch unter den Händen weg, so schwach wie er ist. Ein paar entsprechende Tränke sollten fürs erste genügen. Aber ich weiß nicht, wie wir seinen Geist wieder erwecken können. Wenn es jemand schafft, dann nur jemand, der ihm besonders am Herzen liegt, Albus."„Hm, da fällt mir jetzt nur Ronald Weasley und Hermine Granger ein, vielleicht auch noch Ginny Weasley... Aber die Weasleys sind im Urlaub in Ägypten, damit sich Ron und Ginny besser von ihren Verletzungen erholen können. Gleiches gilt für Miss Granger, sie ist mit ihren Eltern irgendwo in Frankreich... Poppy, kannst du dich um Harry kümmern, bis ich wieder da bin? Ich werde die Weasleys und die Grangers besuchen und mit ihnen sprechen..."

Doch zunächst berief Dumbledore erst einmal eine dringende Sitzung des Führungsstabes des Phönixordens ein, bei der er von Harrys Zustand berichtete. Die anderen Mitglieder waren genauso entsetzt wie Dumbledore selbst, vor allem aber Minerva McGonagall, Remus Lupin und Nymphadora Tonks. Selbst der sonst so griesgrämige Serverus Snape schien seine Fassung verloren zu haben. Nachdem sich das erste Entsetzen gelegt hatte redeten alle durcheinander, bis Dumbledore sie zur Räson brachte. „Freunde, es steht schlecht um Harry, wir müssen ihm helfen. Ich bin mir durchaus bewusst, dass es zum Teil meine Schuld ist, weil ich Harry so isoliert habe. Aber das kann ich jetzt nicht mehr ändern, und ich hatte auch meine Gründe dafür. Lasst uns beratschlagen, wie wir ihm jetzt helfen können..."Angestrengt dachten sie alle nach, und hin und wieder warf jemand einen Gedanken in die Runde, der dann diskutiert wurde. Im Endeffekt lief alles dahin hinaus, dass wohl nur Ron oder Hermine oder am Besten beide Harry wirklich helfen konnten. Und so wurden Tonks und Remus beauftragt, die Grangers in Frankreich zu suchen, während Dumbledore sich auf den Weg nach Ägypten machte. Snape sollte schnellstmöglich ein paar Stärkungstränke brauen, damit Harry zumindest körperlich wieder zu Kräften kam. Die restlichen Ordensmitglieder würden Harrys Überwachung verstärken, denn gerade jetzt war er so schwach und hilflos, dass er bei einem eventuellen Angriff Voldemorts praktisch wehrlos war.