Tanja: Ob Faramir wieder geheilt werden kann, verrate ich natürlich nicht. Tja, Gwen wird jetzt erst einmal abreisen.

Leonel: Als ich das mit dem Nachttopf schrieb, musste ich auch grinsen. Ein bisschen Humor muß manchmal sein. Tja, Denethor hat wahrscheinlich unter seiner rauen Schale doch einen guten Kern.

Meleth: Tja, Faramir hat es ziemlich übel erwischt. Momentan sind die Heiler machtlos.

§§§§

Kapitel 9: Vaterliebe

Gwen bereitete Hals über Kopf ihre Abreise vor. Sie hatte keine Angst davor, alleine nach Rohan zurückzureiten. Ihre Wut auf den Truchseß und diese Javaleth war viel zu groß, um sich zu fürchten. Das Einzige, was ihr Herz schwer machte, war Boromir: sie liebte ihn über alle Maßen, doch sie konnte es nicht ertragen, auch noch einen Tag länger hier in Gondor zu bleiben. Denethors Worte hatten gesessen. Wenn Boromir sie tatsächlich auch liebte, würde er nach Rohan nachkommen. Dort konnten die Beiden sicherlich ein glücklicheres Leben führen als in Gondor.

Während sie einen Brief an Boromir schrieb, worin sie ihm alles erklärte, kam ihre Tante bestürzt in ihre Schlafkammer.

„Du machst einen Riesenfehler, wenn du jetzt abreist, Gwen", sagte Morwen fassungslos. „Wenn du Frau Javaleth und den Truchseß um Verzeihung bittest, dann kannst du bestimmt hierbleiben."

Gwen hielt im Schreiben inne und blickte ihre Tante empört an:

„Was soll ich tun? Ich soll diejenigen um Verzeihung bitten, die mich so schrecklich gedemütigt haben? Ich habe noch einen kleinen Funken Stolz in mir, und den werde ich mir auch bewahren. Ich weiß jetzt, was die Menschen Gondors von uns Rohirrim halten und ich werde es auch Frau Éowyn erklären, wenn ich zuhause bin."

Morwen legte sanft ihre Hand auf Gwens Arm.

„Schau mich an, Nichte: ich bin hier in Minas Tirith glücklich geworden. Ich sehe über die verächtlichen Blicken der Bürger Gondors hinweg. Es macht mir nichts aus, denn ich weiß, dass mein Mann und meine Kinder mich lieben. Bleib' hier, Gwen. Boromir kann dir nicht nach Rohan folgen. Er ist Denethors Nachfolger."

„Boromir liebt mich", beteuerte Gwen leidenschaftlich. „Er wird nach Rohan kommen!"

Morwen seufzte leise: die Starrsinnigkeit ihrer Nichte war beachtlich.

Als Gwen den Brief fertiggeschrieben hatte, wagte sie sich noch einmal in die Zitadelle hinauf. In den Korridoren begegnete ihr der Diener Rhivad. Sie wusste, dass er zuverlässig war.

„Könnt Ihr bitte diesen Brief Boromir übergeben, wenn er zurückkehrt?"

„Jawohl, Herrin", erwiderte Rhivad ergeben und verneigte sich.

§

Da Gwen am gleichen Tag nach Rohan auf ihrer treuen Stute Werfola aufbrach, bekam sie nichts mit von Faramirs Unglück. Nur wenige Stunden, nachdem die junge Frau Minas Tirith verlassen hatte, machte die schlimme Neuigkeit über Faramir in der Stadt die Runde. Die Menschen reagierten entsetzt darauf und es gab nicht wenige, die darüber weinten. Faramir war die beliebteste Person aus der stolzen Truchsessfamilie und nun würde er nie wieder Heerführer sein.

Bald darauf erreichten die Brüder mit ihrem Heer die Stadt. Faramir trug noch einen Kopfverband und seine blauen Augen blickten glanzlos geradeaus. Viele Menschen liefen hinaus auf die Straßen und sprachen Faramir Mut zu. Faramir war tief bewegt über die Anteilnahme der Bürger. Selbst Boromir schluckte heftig, denn er konnte ja sehen, was sich auf den Straßen abspielte. Er sah bei vielen Menschen Tränen in den Augen stehen.

Als Denethor die Nachricht vernahm, dass seine Söhne heimkehrten, lief er zu Fuß bis in den sechsten Festungsring hinab, wo die Stallungen lagen. Er sah tiefbewegt, wie Boromir seinem Bruder vom Pferd half. Einer der Waldläufer drückte Faramir einen langen Stock in die Hand, damit er sich orientieren konnte.

„Faramir!" stieß Denethor kläglich aus.

Er rannte mit tränennassem Gesicht zu seinem Sohn und drückte ihn fest an sich. Faramir spürte, dass sein Vater weinte, und nun kämpfte er selbst mit den Tränen. Zu zweit geleiteten Boromir und Denethor Faramir in die Zitadelle hinein.

Rhivad beobachtete die bedrückende Szene von einem der Turmfenster aus. Er beschloß, Boromir den Brief noch nicht auszuhändigen. Es wäre vielleicht zuviel an Aufregung für den jungen Mann. Rhivad wusste, dass Gwen die Stadt für immer verlassen hatte.

§

Denethor kümmerte sich so liebevoll um Faramir wie noch nie. Er bedauerte zutiefst, seinen Zweitgeborenen immer so schlecht behandelt zu haben. Er wich fast nicht von Faramirs Seite. Sogar beim Essen half er ihm. Faramir war es manchmal sogar etwas zuviel, denn er war ein Mensch, der sich rasch orientieren konnte. Da sich der Truchseß so aufopferungsvoll um seinen jüngsten Sohn kümmerte, sah sich Boromir gezwungen, die Amtsgeschäfte seines Vaters zu übernehmen. Erst am Abend des zweiten Tages nahm er sich die Zeit, Gwen aufzusuchen. Er legte sich gerade seinen Mantel um die Schultern, als Rhivad ihm in den Weg trat.

„Herr Boromir, Ihr wollt sicher die Herrin aus Rohan aufsuchen", sagte er leise.

Dieser nickte heftig.

„Ich soll Euch diesen Brief von ihr geben", fuhr Rhivad fort und griff unter seinen Überwurf.

Boromir ging wortlos in sein Zimmer zurück und riß den Brief auf. Er konnte kaum fassen, was er da las. Gwen war tatsächlich nach Rohan zurückgegangen. Sie hatte Javaleth nicht direkt beschuldigt, doch man konnte es gut zwischen den Zeilen lesen. Der Brief endete mit Gwen's flehender Bitte, ihr nach Rohan zu folgen. Boromir fuhr sich verzweifelt durch das blonde Haar.

Als ob sein Leid nicht schon groß genug war, jetzt verließ ihn auch noch Gwen.

Tief seufzend stand er auf und lief unruhig in seinem Zimmer hin und her. Er konnte jetzt unmöglich fort aus Gondor: sein Bruder war blind und sein Vater war momentan nicht in der Lage, seine Amtsgeschäfte auszuführen. Er trat ans Fenster und blickte auf den sternbedeckten Nachthimmel. In seinen Augen schimmerten Tränen. Er liebte doch Gwen so sehr! Was hatte nur diese Javaleth angerichtet, dass die selbstbewußte, junge Frau aufgegeben hatte!

Obwohl er sehr viel um die Ohren hatte, nahm er sich am nächsten Morgen die Zeit, und suchte zunächst Gwen's Verwandte Morwen auf. Er wollte genau wissen, was passiert war. Morwen druckste zunächst herum. Sie wollte die Edeldame nicht unbedingt beschuldigen.

„Ich möchte jetzt wissen, was Frau Javaleth Euerer Nichte für ein Leid zugefügt hat", fragte Boromir streng.

„Ihr dürft Frau Javaleth nicht zürnen, mein Herr", murmelte Morwen den Tränen nahe. „Vermutlich ist sie so erzogen worden, dass wir Rohirrim weniger wert sind als Menschen aus Gondor."

Boromir zog die Luft scharf durch die Nase ein. Aus dieser Richtung wehte also der Wind! Javaleth hatte Gwen schikaniert und irgendwann war der jungen Frau der Kragen geplatzt.

„Sie schüttete der edlen Frau den Inhalt von Herrn Orodril's Nachttopf ins Gesicht", sagte Morwen schließlich errötend.

Boromir musste an sich halten, um nicht laut aufzulachen. Das konnte er sich gut bei Gwen vorstellen!

Er bedankte sich bei Morwen für ihren Bericht und ging wieder schweren Schrittes hinauf zur Zitadelle. In seinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Seine Zukunft war Gwen, das wusste er. Er wollte sie und er brauchte sie! Als er gerade durch das Tor schreiten wollte, das den siebten und letzten Festungsring von den anderen abgrenzte, kam ihm Herr Dervorin, Ritter des Ringló-Tales entgegen. Seine Miene war sehr ernst.

„Ich muß mit Euch reden, Fürst Boromir", sagte er bedrückt.

Eigentlich hatte Boromir jetzt einen Brief an Gwen verfassen wollen, doch Dervorin machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er nahm den jungen Mann beiseite.

„Gondor geht schweren Zeiten entgegen", fuhr Dervorin fort. „Euer Vater hat die Ratsversammlung heute morgen grundlos abgesagt. Wir Räte sind beunruhigt. Bald wird auch das Volk Gondors merken, dass sein Truchseß nicht mehr fähig ist, dieses Land zu regieren. Ausgerechnet jetzt, wo Mordor wieder erstarkt. Es wird Zeit, Truppen nach Ithilien zu schicken, um die Grenzen abzusichern. Die Waldläufer brauchen einen neuen Hauptmann."

Boromir schluckte hart, als er das hörte.

„Ihr tut geradewegs so, als sei mein Bruder tot", murmelte er mit belegter Stimme. „Vielleicht wird er eines Tages wieder sehen können. Ich gebe die Hoffnung nicht auf."

„Das mit Euerem Bruder ist tragisch", erwiderte Devorin ernst. „Aber Ihr und Euer Vater tragt die Verantwortung für Gondor. Es ist an der Zeit, dass Ihr Entscheidungen trefft."

Mit diesen Worten ließ er Boromir stehen und verließ den siebten Festungsring. Der junge Mann fuhr sich mit der Hand verzweifelt über das Gesicht. Zuerst einmal wollte er einen Brief an Gwen schreiben. Das lag ihm am meisten auf dem Herzen.

§

Boromir brauchte lange, bis er den Brief geschrieben hatte. Er war kein Schreiberling. Faramir hätte diesen Brief viel besser hinbekommen. Sicher wäre ihm die eine oder andere romantische Wendung eingefallen, doch Faramir sollte nichts von diesem Brief erfahren. Er würde sich sonst Sorgen machen.

Boromir hatte in seiner etwas ungelenken Art von seinen Probleme in Gondor geschrieben und er bat Gwen in diesem Brief, auf ihn zu warten. Als er fertig war, atmete er erst einmal durch. Eine Stunde Schwertkampf-Übung war nicht so schwer wie dieses Schreiben. Er rollte das Pergament zusammen und versiegelte es. Dann verließ er seine Privaträume. Er beauftragte Rhivad, einen jungen Soldaten namens Irolas zu holen. Während Boromir auf Irolas wartete, traf Denethor Rhivad vor der Zitadelle.

„Wo willst du denn hin?" fragte der Truchseß den alten Diener neugierig.

Rhivad verließ nur ganz selten den siebten Festungsring.

„Euer Sohn Boromir möchte, dass ich Irolas herbeihole. Er soll einen Botenritt für ihn nach Rohan machen", erklärte Rhivad demütig.

„Einen Botenritt?" hakte Denethor erstaunt nach. „Wißt Ihr genaueres?"

„Soviel ich weiß, hat Herr Boromir ein wichtiges Schreiben für Frau Gwen aus Rohan", erklärte Rhivad mit gedämpfter Stimme.

Denethor wusste Bescheid. Leise Wut stieg in ihm auf. Wie konnte Boromir es wagen, immer noch Kontakt mit diesem unverschämten Weibsbild zu halten!