Faden 2

2. September 1996

Hogwarts

Der Himmel schien die in Hogwarts vorherrschende Stimmung zu teilen. Es goß wie aus Kübeln.

Harry stand reglos zwischen Hermine und Ron, hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt, und blickte auf seine Schuhe hinunter. Hinter ihm schluchzte Neville leise auf.

Als die Schüler am Vortag angekommen waren, hatte sie ein ungewohnter Anblick erwartet. Hagrid war nicht zu sehen gewesen. Zum ersten mal waren die Erstklässer nicht über den Teich gerudert worden. Sie wurden von Minerva McGonagall, die so müde und ernst aussah, daß sie beinahe an die böse Hexe aus so vielen Muggelmärchen erinnerte, mit den anderen in die Kutschen gesetzt und zum Schloß gefahren, wo es ernster zuging als die aus den Ferien zurückkehrenden Kinder es in Hogwarts je erlebt hatten. Sogar die Geister waren nur langsam und würdevoll durch die Gänge geschwebt. Peeves war für einen kleinen Ausrutscher nicht nur vom blutigen Baron, sondern auch vom fast kopflosen Nick und sogar vom dicken Mönch angebrüllt worden, hatte sich nicht an ihnen gerächt und sich nur stumm zurückgezogen. Seitdem hatte ihn keiner mehr gesehen, und auch nicht vermisst.

Den Grund erfuhren sie nach der Einführungszeremonie, die steif und ohne Begeisterung der Lehrer ablief. Das Kollegium sah mitgenommen aus. Mehrere unter ihnen hatten gerötete Augen. Professor Flitwick rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Hagrid musste sich ständig schnäuzen. Viele Blicke huschten immer wieder zu dem einen Stuhl am Lehrertisch, der leer geblieben war. Das Getuschel über Remus' Abwesenheit und einen möglichen neuen Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste verstummte, als der Schulleiter sich von seinem Platz erhob.

Dumbledores Ansprache war einer kurzen Erklärung zu Professor Lupins Tod, sowie die Ankündigung, daß der Unterrichtsbeginn verschoben worden war, um Trauerfeier und Beerdigung einzuschieben, gewichen.

Harry hatte mittlerweile erfahren, daß der Professor keineswegs "in Ausführung einer Mission" ums Leben gekommen, sondern abends zum Irrlichtersammeln aufgebrochen und nicht ins Schloß zurückgekehrt war.

Ein Suchtrupp am nächsten Morgen war schnell fündig geworden: Nur wenige Meter von Hagrids Hütte entfernt hatten sie den Professor gefunden. Hagrid, der den Abend und die Nacht im Schloß verbracht hatte, war untröstlich.

Lupins Spur durch den Verbotenen Wald war nicht schwer zurückzuverfolgen, aber sie verlor sich gerade außerhalb der Apparationsgrenze. Der Werwolf musste schwer verletzt zurückappariert sein und dann den Wald zu Fuß durchquert haben, bis er, schon in Sichtweite des Schlosses, zusammengebrochen war.

Daß Poppy ihm mit vor unvergossenen Tränen glänzenden Augen versichert hatte, daß Lupins Verletzung kaum Anlaß zu Hoffnung gegeben hätte, auch wenn er früher zurück gekehrt und den Mann noch lebend aufgefunden hätte, war dem Halbriesen Hagrid kaum ein Trost.

Harry und seine Freunde hörten die Worte kaum, die Dumbledore zu Lupins Ehren sagte. Sie standen in den ersten Reihen der Schülerdelegation am Grab. Hermine versuchte, ihren Schirm über ihre Freunde zu halten, die den strömenden Regen gar nicht zu bemerken schienen, während sie abwechselnd auf ihre Zehen und den Sarg blickten.

Noch nie hatten die Jugendlichen eine Zaubererversammlung gesehen, die so ernst und still war. Die sonst unter Zauberern üblichen bunten und verzierten Roben waren einem einfachen, schmucklosen schwarz gewichen, nur selten durchsetzt von dunklen Grautönen. Neben Harrys Füßen saß ein großer, schwarzer Hund, der mit traurigen Augen die Zeremonie verfolgte. Er war jetzt der letzte, der aus dem engen Freundeskreis um James Potter übrig war - Pettigrew hatte sie verlassen, James und Remus waren tot. Für ihn bestand keine Frage daran, wer diesen Tod zu verantworten hatte. Er hatte sich bereits geschworen, seine Freunde zu rächen. Jetzt erneuerte er diesen Schwur noch einmal. Wenn er Pettigrew in die Finger bekam, würde er ihn wenn nötig mit bloßen Händen erwürgen. Er hob seinen Blick und sah sich um.

Nicht einmal Snapes Gesicht zeigte die Genugtuung, die er vielleicht dort erwartet hätte. Er hatte zusammen mit anderen Zauberern den Sarg getragen, und dabei die Stelle eingenommen die eigentlich Sirius zugestanden hätte, der sich aber dank der Anwesenheit einiger nicht zu Hogwarts gehörender Personen nicht in seiner menschlichen Form zeigen durfte.

Der Meister der Zaubertränke schien nicht einmal zu bemerken, daß sich der kleine Professor Flitwick, der jetzt neben ihm stand, einmal versehentlich an seiner Robe die Nase putzte.

Es war eine niedergeschlagene Prozession, die zum Schloß zurück marschierte.

"Jagt doch mal einer den Hund weg", hatte der Zaubereiminister Fudge, der auf Dumbledores für die meisten Anwesenden unverständliche Bitte hin gekommen war, taktlos gefordert.

"Auch er hat das Recht, um seinen Freund zu trauern", war Dumbledores leise Antwort gewesen. Er hatte das ,er' nicht genauer ausgeführt, und so war Sirius abgesehen von einem Blick in dem sich Misstrauen und Ablehnung in gleichem Maße mischten, ungeschoren davongekommen.

Als die Schüler in ihre entsprechenden Häuser geschickt worden waren und die Lehrer sich in der großen Halle versammelt hatten, schlich sich der große, schwarze Hund ungesehen und ungestört aus dem Schloß. So schnell er konnte, jagte er durch den verbotenen Wald, bevor er kurz seine menschliche Gestalt annahm, um zu apparieren.

"Du wirst nicht gehen!" Dumbledores Stimme war so hart und scharf wie sie nur die allerwenigsten je zu hören bekamen. Snape bildete sich ein, Blitze aus seinen Augen schießen zu sehen.

"Albus", versuchte er es in vernünftigem Tonfall. "Lupin muß in eine wichtige Sache gestolpert sein. Wenn wir herausfinden können, was er gesehen oder gehört hat, bevor... Es könnte überlebenswichtig sein!" Der Meister der Zaubertränke marschierte mit wenigen, schnellen Schritten durch die Länge von Dumbledores Arbeitszimmer, machte mit einer knappen, effektiven Drehung kehrt, und ging wieder zurück. Seine schwarze Robe wirbelte um ihn herum.

Albus Dumbledore saß hinter seinem Schreibtisch. Er schob seine halbmondförmige Brille auf seiner Nase nach oben, und blickte den jüngeren Mann aus traurigen Augen an. "Was du vorschlägst grenzt an Selbstmord," erklärte er mit tonloser Stimme. "Das kann und werde ich nicht zulassen. Wir können es uns nicht leisten-" bei den letzten Worten war er immer lauter und eindringlicher geworden. Jetzt unterbrach er sich, und fuhr fast flüsternd fort. "Ich will nicht dich auch noch zu verlieren."

Snape schnaubte abfällig. Er schwebte seit Voldemorts neuer Aufstieg begonnen hatte in Lebensgefahr. Manchmal wünschte er sich beinahe, er wäre jenem ersten Ruf gefolgt, hätte seine Strafe auf sich genommen und die Sache beendet.

Am Ende einiger Cruciatus-Flüche hätte der Avada Kedavra gestanden, und ihm wären viele schlaflose Nächte in denen er sich im Bett hin und her drehte und sich in viel zu lebhaften Farben ausmalte was geschah, falls ihn Voldemort in die Hände bekam, erspart geblieben. Daß auch der jährliche Ärger mit den Schülern ein Ende gehabt hätte, wäre ein netter Bonus gewesen, dachte er sarkastisch.

Es wäre so schön gewesen, einmal nicht mit gespannten Nerven darauf zu warten, daß das dunkle Mal an seinem Arm zu brennen anfing, um dem Ruf dann nicht zu folgen, abzuwarten und sein Bestes zu geben, das aufkommende Zittern zu unterdrücken und dem Augenblick entgegenzusehen in dem ein Todesser oder sogar Voldemort selbst auftauchte um ihn zu holen.

Ha! Er kam sich vor wie ein Kind, das beim Einschlafen Angst vor einem Monster, oder dem ,schwarzen Mann' hatte. Nur war Voldemort so furchteinflössend, daß man nicht einmal den Kindern mit ihm drohte, wenn sie ungehorsam waren, aus Angst daß er einem die Drohung zu wörtlich nahm und sie ausführte.

Und doch wäre er ohne zu zögern gegangen um herauszufinden, was Lupin am Abend seines Todes getrieben hatte. Wenn er wirklich Voldemort in die Hände gelaufen war, so musste der dunkle Lord sehr beschäftigt gewesen sein. Immerhin hätte er ihn beinahe entkommen lassen.

Blieb die Frage: Was, wenn es nicht Voldemort gewesen war? Wer sonst mochte einen Grund haben, Lupin zu töten? Das hieß, wenn man einmal von den paar hundert Leuten absah, die etwas gegen Werwölfe hatten.

"Severus?" durchdrang Dumbledores eindringliche Stimme seine Gedanken.

"Hm?" machte Snape. "Oh. Ja. Tut mir leid, ich war mit meinen Gedanken woanders. Was haben Sie gesagt?" Der Meister der Zaubertränke blieb stehen und blickte aus dem Fenster in die schnell einbrechende Nacht.

Albus Dumbledore seufzte leise. "Ich habe gesagt, du möchtest bitte aufhören, eine Furche in meinen Teppich zu laufen."

Schuldbewusst sah Snape seinen Vorgesetzten an. "Tut mir leid", meinte er schließlich. "Wenn Sie mich entschuldigen würden..? Ich habe meinen Unterricht vorzubereiten."

Der Schulleiter von Hogwarts nickte langsam. "Severus?" sagte er, als der Lehrer schon den Türgriff in der Hand hatte.

"Was?" gab der jüngere Mann etwas gereizter zurück als er vorgehabt hatte.

"Du wirst dich von Voldemort fernhalten. Versprich es."

Snape drehte sich halb um, seufzte und nickte. "Versprochen."

Nachdem sich die Türe hinter dem Professor geschlossen hatte, konnte Dumbledore sich nur noch fragen, ob dieses Versprechen wirklich gehalten werden würde. Nur die Zeit konnte das zeigen.

Seine Zweifel waren berechtigt. Das Zeichen der hinter dem Rücken gekreuzten Finger war auch in der Welt der Zauberer gut bekannt.