Eine wahre Freundschaft
1.
Ada wußte, daß es gefährlich war zu dieser Jahreszeit alleine zu reisen, doch ihre Schwester hatte ihr vor zwei Wochen einen Hilferuf geschickt und sie mußte die verlorene Zeit wieder einholen.
Langsam ritt sie weiter. Sie war sich sicher, auf dem richtigen Weg zu sein, jedoch war ihr seit Soda Springs niemand mehr begegnet.
Der Weg wurde unebener und sie stieg ab. Vorsichtig führte sie das Pferd durch das dichte Unterholz, als sie an einer matschigen Steilkante plötzlich abrutschte und in die Tiefe stürzte.
Sie rutschte über den scharfkantigen Boden, versuchte sich irgendwo festzuhalten, kam jedoch erst zum Liegen, als sie unten angekommen war.
Ihr Kleid war zerrissen und großflächige Abschürfungen ließen sie unvorstellbare Schmerzen ertragen.
Mühsam rappelte sie sich hoch und strich ihr Kleid wieder glatt, doch dicke Lehmbrocken blieben hängen.
Ada sah nach oben. Ihr Pferd hatte sich durch ihren unvorhergesehenen Sturz erschreckt aus dem Staub gemacht und ohne fremde Hilfe würde sie die Wand nicht wieder hochklettern können.
Sie wollte sich gerade orientieren, um zu sehen, in welche Richtung sie gehen müßte, da merkte sie, dass jemand hinter ihr stand.
Sie drehte sich vorsichtig um und sah in das schauerliche Gesicht eines alten, zerzausten Mannes. Er besaß nur noch drei schwarze Stumpen als Zähne und mit seinem schiefen Mund grinste er sie hämisch an.
„Sie sind wohl ganz alleine hier!" fragte er, doch da weit und breit niemand zu sehen war, war seine Frage überflüssig.
Ada wünschte sich, daß sie das Gewehr nicht am Sattel des Pferdes befestigt hatte, denn dieser alte Mann erschreckte sie.
Da er jedoch mit einem Gewehr bewaffnet war, hielt sie es für besser seinen Anweisungen zu folgen und ging vor ihm immer weiter in den Wald hinein.
Nach einiger Zeit, in der Ada öfters mit dem Gewehr vorwärts gestoßen worden war, erreichten sie eine baufällige Hütte.
Der Alte gab ihr zu verstehen, daß sie die Tür öffnen und hineingehen sollte und gehorchte.
Drinnen war es dunkel, doch durch ein kleines, verdrecktes Fenster, fiel etwas spärliches Licht in den Raum.
Dieser war bestückt mit einem Tisch, einem Stuhl, einem Bett im hinteren Teil der Hütte und einem großen Kamin.
Ada wagte sich nicht zu rühren, doch der Alte stieß sie grob hinein und schloß die Tür von außen.
Nach anfänglichem Schock sah sie sich um. In einer Ecke entdeckte ein kleines Häufchen Mensch, daß sie mit großen, traurigen Augen ansah.
„Hallo!" sagte Ada und ging näher. Das kleine Elend duckte sich blitzschnell und rollte sich zusammen.
„Du brauchst keine Angst zu haben. Ich heiße Ada."
„Ich...ich bin Nora", sagte das kleine Mädchen und kam auf Ada zu. Es trug nur Lumpen und seine streichholzdünnen Beine waren voller Narben und Blutergüsse.
„Wohnst du hier?" fragte ich das kleine Mädchen.
„Ich kenne kein anderes zu Hause."
„Wer ist der alte Mann?" fragte sie und setzte sich auf den wackeligen Stuhl.
„Er nennt sich James, doch in Wirklichkeit heißt er Jim Dorsett."
Sie zuckte zusammen. Diesen Namen kannte sie. Sie hatte ihn vor einigen Jahren oft gehört und noch öfters in Zeitungen gelesen. Es war der Name eines mehrfachen Mörders.
„Ist er dein Vater?" fragte sie Nora.
„Nein!" Nora schrie entsetzt auf.
„Warum lebst du dann hier mit ihm?" fragte Ada sie.
„Weil ich nicht wüßte, wohin ich gehen sollte."
„Er schlägt dich und du bleibst bei ihm?" fragte sie Nora mit dem Hintergedanken, daß Schläge nicht das einzige waren, was diese kleine Mädchen aushalten mußte.
Nora wollte gerade auf ihre Frage antworten, als sich jemand an der Tür zu schaffen machte und sie aufriß.
„Du!" schrie der Alte Nora an. „Warte draußen!"
Nora huschte an ihm vorbei nach draußen.
Sie wußte was nun folgte. Schön öfters hatte er das gemacht. Es tat ihr jedesmal um die Frauen Leid, die später in einer Grube im Wald für immer verschwanden, doch so ließ er sie selbst einige Tage in Ruhe.
Ada sprang von ihrem Stuhl auf und stellte sich vor den Alten hin. Sie war groß, jedoch hätte sie es nie mit ihm aufnehmen können. Er mochte alt sein, doch seine Muskeln verrieten etwas ganz anderes.
Er lächelte sie mit seinen verfaulten Zähnen schief an und kam auf sie zu.
„Es wird dir sicher Spaß machen!" sagte er und wollte nach ihr greifen, doch sie drehte sich geschickt weg und entkam ihm noch einmal.
Er sah sie entgeistert an und spukte aus.
„So haben wir nicht gerechnet, elende Schlampe!" schrie er und machte einen Satz auf sie zu.
Sein Gewicht warf sich gegen sie und nagelte sie an der Wand fest. Sein schlechter Atem schlug ihr ins Gesicht und nahm ihr den Atem.
Sie wollte sich wehren, doch er war zu stark. Zwei kräftige Arme hielten ihre Hände fest, während er ihrem Gesicht immer näher kam.
Er vergrub sein schmutziges Gesicht in ihren Haaren und sog ihren Duft ein.
Ada wurde übel. Ihre Beine begannen zu zittern, ihr Magen revoltierte und vor ihren Augen begannen schwarze Flecken zu tanzen.
Sein Gesicht wanderte an ihrem Körper herunter und küßte sie.
Sie hörte das schmatzende Geräusch seiner Lippen auf ihrer Haut und sie wußte was nun kommen würde.
Sie hatte mit ihrem Leben abgeschlossen, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und mit einem lauten Knall gegen die Wand schlug.
Nora stand in der Tür und war mit zwei Schritten bei dem alten Mann.
Vor Schreck unfähig etwas zu unternehmen, ließ er von Ada ab, noch ehe ihn ein Schlag mit einem Holzstück zu Boden beförderte.
Ada erkannte ihre Chance und lief mit zittrigen Beinen zur Tür.
Als sie merkte, daß Nora ihr nicht folgte, lief sie zurück und riß das Kind mit sich.
Gemeinsam liefen sie durch den Wald, bis sie außer Puste waren und nur noch langsam weitergehen konnten.
„Ich wollte nicht, daß er dir das Gleiche antut, wie den anderen Frauen!" sagte Nora und sah Ada an.
„Ich bin dir unendlich dankbar. Ohne dich wäre ich nie wieder aus dieser Hütte gekommen. Ich..." Ada hielt inne.
Ein langgezogener Schrei hallte durch den Wald und ließ den beiden eine Gänsehaut über den Rücken jagen.
„Er ist aufgewacht!" sagte Nora panisch und lief los.
Ada überlegte kurz, rannte dann jedoch hinter ihrer neugewonnenen Freundin hinterher, nur von dem Alten weg.
Sie hörten, wie er immer näher kam. Sein rasselnder Atem saß ihnen im Nacken und das Knacken der Äste, die er zertrat war, als würde er ihre Knochen brechen.
Ada sah sich kurz um und konnte ihn hinter sich erblicken. Sie schrie kurz auf, versuchte zu entkommen, doch in dem Augenblick sah sie nicht, wohin sie lief und fiel der Länge nach hin.
Ein gellender Schrei zerriß die trügerische Stille.
Nora kam zurück und wollte ihr hochhelfen, doch nun bemerkte Ada den großen roten Fleck an ihrem Kleid. Sie hob es etwas an und sah, daß sie in eine Bärenfalle getreten war.
Das scharfkantige Metall schnitt tief in ihr Fleisch und ließ sie alles um sich herum wie durch einen Schleier wahrnehmen.
Der Alte kam näher und streckte die Hand nach ihr aus, doch Nora stand immer noch neben ihr und wußte nicht, was sie tun sollte.
Ada schloß kurz die Augen, öffnete sie dann wieder und rief: „Nora! Lauf, lauf ins Dorf und hol Hilfe!"
Ada sah, wie Nora loslief. Der Alte jedoch sah seiner kleinen Gespielin nur kurz nach und sagte: „Die Hilfe wird dich nicht mehr erreichen."
Er hob einen kleinen Revolver und zielte auf sie.
„Wer mich hintergeht, muß sterben!" sagte er.
Ada merkte, wie sie ohnmächtig wurde.
Sie kniff die Augen zusammen und zwang sich wach zu bleiben, doch auch als ein ohrenbetäubender Knall ertönte, kippte sie nach hinten und schlief ein.
Sie hoffte, sie würde nie wieder aufwachen und in das Gesicht des Alten sehen.
