O
Disclaimer: Ja, alles gehört Tolkien und seiner glücklichen Nachkommenschaft. Ich hab es mir geliehen und wenn es sich wieder davon erholt hat, gebe ich es auch zurück.
A/N: Amélie ist Fehlerfindel und ihr ist es auch zu verdanken, dass Erestor wie es sich gehört, auf seinem Pferd ‚saß' und nicht ‚stand'. Ich fass es nicht, was man manchmal schreibt.
o
9. Kapitel: Eine Ahnung von Schatten
o
Seine Hand zitterte so stark, dass der Wasserstrahl, der sich aus der Tülle der silbernen Gießkanne ergoss, ebenfalls in Bewegung kam. Das Gießwasser landete unkontrolliert auf dieser prächtigen Pflanze, die ihre lanzenförmigen, sattgrünen Blätter wie eine Aufforderung in den Raum erstreckte und verteilte sich dort. Mit einem leisen Seufzer drückte Figwit die Kanne an seine Brust und starrte auf die Pflanze, als würde er im feinen Äderwerk dieser Blätter des Rätsels Lösung finden.
Ein weiterer tiefer Seufzer schwebte durch die frische Luft von Erestors nicht gerade üppig möbliertem Wohnraum. Figwit ließ sich in einen Lehnstuhl vor einem der Fenster fallen, die er wie jeden Morgen aufgerissen hatte, um Erestors Bedürfnis nach Lüftung auch zu erfüllen, wenn er selbst nicht anwesend war. Eigentlich war das Aufgabe der Diener, doch nach einigen Kämpfen hatte sich Figwit schließlich durchgesetzt. Niemand betrat Erestors Räume außer Figwit. Zumindest wenn Erestor nicht da war. Hielt er sich dagegen in Bruchtal auf, war es wieder Aufgabe der Diener. Figwit hätte sich zwar auch dann um alles gekümmert, aber bei seinem bisher ersten und einzigen Versuch vor schon recht vielen Jahren, hatte Erestor unmissverständlich klar gemacht, dass der Platz seines Gehilfen das Arbeitszimmer war – und nur das Arbeitszimmer.
Etwas war ganz und gar nicht in Ordnung, aber niemand wollte ihm glauben. Er war überzeugt, dass Lord Erestor in Schwierigkeiten steckte. Zugegeben, er befürchtete immer, dass dies so war, kaum setzte Bruchtals Seneschall einen Fuß über den Bruinen und sei es nur, um mal wieder irgendwelche seltenen Pflanzen aufzustöbern – aber diesmal war es wirklich anders!
Außerdem hätte Elrond ihn nicht gehen lassen sollen, nachdem das mit den Lossidil geschehen war. Es war einfach viel zu gefährlich. Elrond hätte auch warten können, bis Glorfindel wieder da ist. Der Krieger war viel besser dafür geeignet, in diesen dunklen Zeiten eine so weite Reise zu machen.
Andererseits…Figwit nagte etwas auf seiner Unterlippe. Glorfindel war vielleicht nicht unbedingt der Richtige, um mit den Bewohnern Brees Verhandlungen zu führen. Er war nicht umsonst der oberste Krieger Bruchtals. Vielleicht war es doch besser, noch einmal bei Lord Elrond vorstellig zu werden, um eine Suchmannschaft zu verlangen. Figwit krümmte sich sofort innerlich bei dem Gedanken, überhaupt etwas von Lord Elrond zu verlangen.
Wer war er denn, das zu tun? Nun ja, er war Erestors Gehilfe, aber mehr wohl auch nicht. Und selbst die Tatsache, dass er diese nicht einmal so unbedeutende Stellung bekommen hatte, erstaunte ihn jeden Tag aufs Neue. Ihn selbst und jedes einzelne Mitglied seiner Familie, die einen eher bescheidenen Rang in den Hierarchien einnahm. Bislang waren dieser Linie immer nur Handwerker entsprungen. Schiffsbauer, um genau zu sein, die seit ewigen Zeiten an den Grauen Anfurten ansässig waren und Meister Círdan dabei halfen, diese wunderschönen Schiffe zu bauen, auf denen die Elben Richtung Westen fuhren.
Figwit betrachtete nachdenklich seine gepflegten Hände. Sie unterschieden sich stark von denen seines Vaters und seiner Brüder. Handwerk war nichts für ihn. Er hatte sich schon immer so ungeschickt dabei angestellt, dass seine Familie fast daran verzweifelt wäre. Irgendwie fehlte es Figwit an der nötigen Koordination zwischen Werkzeug und Baumaterial. Wenn er sich nicht gerade mit einem Hammer so heftig auf die eigenen Finger geschlagen hatte, dass der eine oder andere Knochen zu Bruch gegangen war, dann war es ihm zumindest gelungen, jeden Werkstoff gründlich zu ruinieren.
Schließlich hatte Meister Círdan ein Einsehen gehabt und ihn mit einem Begleitschreiben nach Bruchtal geschickt, damit man dort vielleicht etwas fand, zu dem er taugte. Figwit hatte eigentlich damit gerechnet, mit einer der niederen Aufgaben im Haushalt Elronds betraut zu werden. Gestört hätte es ihn auch nicht, seine Familie war nicht gerade für besondere Heldentaten bekannt. Wer konnte sich da schon vorstellen, was es wirklich für ihn bedeutete, als Lord Erestor ihn gleich bei seiner Ankunft eine Weile aus seinen beängstigend unergründlichen Augen gemustert hatte und dann verkündete, dass er Figwit als seinen neuen Gehilfen in Beschlag zu nehmen gedachte.
Diese Ehre…diese Verantwortung…ein neuer Seufzer kam über seine Lippen.
„Was bei Eru macht Ihr da?"
Ertappt fuhr Figwit aus dem Stuhl hoch und starrte zur Tür, die er wie immer hatte aufstehen lassen, damit jeder sehen konnte, dass er bei seinem Tun hier nichts zu verbergen hatte. Ihm wurde unwillkürlich kalt, als er Lord Elrond in der Tür stehen sah, die Augenbrauen kritisch zusammen gezogen und offenbar kaum begeistert davon, ihn in Erestors Räumen zu entdecken.
„Blumengießen?" Figwit schwenkte etwas die Gießkanne, die er im ersten Schrecken so fest an sich gedrückt hatte, dass er wahrscheinlich einen blauen Fleck auf dem Brustbein davontragen würde.
„Blumengießen?" echote Elrond. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Erestor Euch mit einer derartigen Aufgabe betraut hat."
„Jemand muss sich doch darum kümmern."
„Aber nicht Ihr." Elrond stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab und schüttelte leicht den Kopf. „Kommt da raus, mein Junge. Erestor wird zurückkehren, wann er es für richtig hält. Ihr macht Euch nur verrückt."
Etwas zögerlich setzte Figwit die Gießkanne ab und schickte sich an, dem Befehl zu folgen. „Ich führe mich wohl auf wie ein Narr."
Elrond winkte ihn weiter zu sich. Es war eine Aufforderung, den Herrn Bruchtals auch noch ein Stück zu begleiten. Langsam schlenderten sie den stillen Gang herunter. Nur wenige Türen in weitem Abstand gab es hier, hinter denen überaus großzügige Gemächer verborgen waren. Und nur wenige von ihnen waren bewohnt. Elronds und Glorfindels Privatgemächer waren hier zu finden und noch die für ganz besonders geschätzte Gäste des Hauses. Zurzeit war jedoch niemand da, der diese Aufmerksamkeit hätte genießen dürfen. Es war irgendwie gespenstisch ruhig und das leise Rascheln der Roben war überdeutlich zu hören.
„Ihr seid sehr loyal", begann Elrond nach einer Weile. „Und ich muss gestehen, es verwundert mich, denn Erestor ist doch recht außergewöhnlich."
„Er hat mich zu seinem Gehilfen gemacht."
„Und?"
„Das reicht doch schon."
„Figwit…" Elrond unterbrach sich und blinzelte etwas. „Figwit, Ihr braucht mehr Selbstvertrauen, um in dieser Welt bestehen zu können."
Statt zu antworten, betrachtete Figwit den anderen Elb verwundert. Es war ihm zuvor wohl nicht aufgefallen, weil er so sehr in Gedanken mit Erestors Schicksal beschäftigt war, aber nun bemerkte er es doch. Elrond wirkte müde, beinahe erschöpft. Seine Züge waren hager vor Anstrengung und die gewöhnlich so klaren Augen, denen niemals etwas zu entgehen schien, waren wie hinter einem feinen Nebel verborgen.
„Herr, was ist mit Euch?"
„Nichts", winkte Elrond sofort ab und im nächsten Moment war alles wieder so wie zuvor. „Fangt jetzt nicht auch noch an, Euch um mich zu sorgen. Übrigens ist gerade vorhin ein Bote aus dem Westen angekommen. Ich denke, Ihr solltet Euch um die Post kümmern."
Folgsam verneigte sich der junge Elb und hastete in Richtung von Erestors Arbeitszimmer, in dem er sicherlich die neueingetroffenen Nachrichten vorfinden würde. Normalerweise freute es ihn besonders, wenn Mitteilung von den Grauen Anfurten kam, denn zumeist war auch ein Schreiben seines Vaters oder seiner Brüder dabei. Diesmal jedoch war seine Laune getrübt.
Konnte es sein, dass Lord Elrond erkrankt war?
Nein, Figwit schüttelte sofort den Kopf. Elben erkrankten nicht. Aber trotzdem hatte er deutliche Anzeichen entdeckt, dass Elrond schwächer wirkte, abwesender und irgendwie angestrengt in seinen Bewegungen.
Vielleicht machte er sich ebenfalls Sorgen. Figwits Miene hellte sich wieder auf. Natürlich, das musste es sein. Die Zwillinge waren nicht da, Glorfindel war nicht da und Erestor natürlich auch nicht. Elrond fühlte sich wohl einsam und außerdem war es immer gefährlich, Bruchtals geschützte Grenzen zu verlassen. Kein Wunder, dass er so übermüdet aussah.
Sehr zufrieden mit dieser Erklärung stürzte sich Figwit auf den Stapel versiegelter Dokumente, die auf Erestors Schreibtisch abgeladen worden waren.
o
o
Kaum zu glauben, dass sie nur wenige Wegstunden von diesem schrecklichen Ort entfernt waren, an dem die Orks den Elben aufgelauert hatten. Dennoch war es so. Ein Stück abseits des Passes, bereits in Reichweite der blühenden Gebirgswiesen lag tatsächlich ein richtiges Paradies.
Varya streckte ihre Beine aus, die in noch nassen Hosen steckten, da sie ihre Kleidung gleich mitgewaschen hatte, stützte die Arme etwas hinter sich auf den flachen Felsen und lehnte den Kopf in den Nacken. So konnten ihre Haare wenigstens trocknen. Andererseits war diese Haltung auch mit gewissen Nachteilen verbunden. Sie nahm den Kopf wieder hoch.
„So ist es doch gleich viel netter", murmelte sie mit einem zufriedenen Blick auf die Szenerie weiter vor sich. „Sehr viel netter."
Etwas weiter unterhalb in der Bergflanke lag nun wieder deutlich in ihrem Sichtfeld der kleine See, zu dem Grimbeorn sie noch dirigiert hatte, bevor er sich darum kümmern musste, dass der Zugang oben am Pass wieder gesichert wurde. Varya war ihm wirklich dankbar dafür, dass er ihnen dieses wahre Kleinod voller kristallklarem Wasser offenbart hatte. Alle hatten die Gelegenheit begrüßt, sich nicht nur den Dreck der Reise, sondern auch das ganze Orkblut abwaschen zu können. Ein einsamer Elb drehte jetzt noch seine Runden dort, die langen Haare wie ein goldener Schleier auf der Wasseroberfläche verteilt. Die anderen waren bereits fertig und in ihrem Nachtlager auf der anderen Seite der Bergflanke. Alle waren müde. Trauer und Freude hielten sich die Waage. Über allem lag jedoch das Gefühl der Erleichterung, dass der Ausgang nicht so schlimm war, wie es durchaus hätte sein können.
Der Tod gehört eben dazu, erinnerte sich Varya an eine der ersten Weisheiten, die Enach ihr beigebracht hatte, auch für uns. Egal, zu was sie am Ende ihres Lebens geworden war, Enach hatte den Kern der Dinge immer erkannt.
Thranduil steuerte das Ufer an und richtete sich mit einem zufriedenen Strecken seiner Arme auf. Ein Krieger, ein König, der Schatten eines Löwen schien ihn zu begleiten…Varya hatte viele Vergleiche und Beschreibungen für diesen Elb und wurde es nie müde, ihn einfach nur zu betrachten. Zweifellos wusste er mal wieder, dass sie gerade das eben machte, auch wenn er sich nichts anmerken ließ, während er das Wasser aus seinen Haaren strich und weiter auf das Ufer zuwatete.
Seit ihrem Aufbruch aus dem Palast war es die erste Gelegenheit, dass sie alleine waren. Varya lächelte etwas missmutig. Alleine und fünfzig Meter Luftlinie einschließlich einiger Höhenmeter zwischen ihnen. Ansehen ja, aber Anfassen unmöglich. Abgesehen von diesen Orks war das der unangenehmste Aspekt der Reise. Es würde besser werden, wenn sie erst Bruchtal erreicht hatten. Obwohl...bislang hatte sie sich wenig Gedanken darüber gemacht, wie diese Verbindung auf Außenstehende wohl wirken musste. Im Palast hatte man sich sehr schnell daran gewöhnt. Die Waldelben waren genau wie ihr König sehr gradlinig und realistisch. Solange Thranduil, den sie aus gutem Grund trotz all seiner Fehler von ganzem Herzen verehrten, glücklich war, hatte niemand etwas einzuwenden.
Es fragte sich, wie es mit anderen Elbenvölkern wohl funktionieren würde. Varya hatte nicht vor, der Grund dafür zu sein, dass Thranduils Ansehen litt. Elrond würde wohl eine Lösung wissen, er war der Weiseste von allen, fand jedenfalls Varya.
„Störe ich?"
Und ob, hätte sie am liebsten gesagt, drehte aber trotzdem den Kopf zur Seite, wo sich Leiloss angeschlichen hatte und jetzt ohne die Antwort abzuwarten neben dem Fels ins Gras setzte. Irgendetwas beschäftigte die Ithildrim schon eine ganze Weile und Varya befürchtete, dass Leiloss nun beschlossen hatte, jemandem ihr Herz auszuschütten. „Mich nicht, aber ob er etwas gegen Zuschauer hat, kann ich dir nicht sagen."
Leiloss' Blick flackerte nur ganz kurz in Thranduils Richtung, bevor sie mit leichter Röte auf den Wangen angestrengt zu Varya hochschaute. „Ich wollte dich nur etwas fragen."
„So? Soll ich dir etwa für Indaris ein Entschuldigungsschreiben aufsetzen? Da fragst du die Falsche, meine Liebe."
„Nein, um Indaris geht es nicht." Leiloss seufzte etwas unglücklich. „Ist es dir eigentlich auch schon mal so gegangen, dass du unbedingt etwas haben wolltest..."
Varyas Augen wurden wie magisch von Thranduil angezogen, der jetzt am Ufer stand, nur mit seiner dunkelbraunen Wildlederhose bekleidet. „Ja, das kommt mir bekannt vor."
„Ich war noch nicht fertig."
„Tatsächlich?"
„Varya!"
„Schon gut. Also, wo liegt das Problem?"
„Estel", stieß die junge Ithildrim hervor. „Jetzt hab ich ihn wieder getroffen und ich versteh nicht mehr so ganz, warum ich unbedingt zu ihm wollte."
Mit leichtem Bedauern verabschiedete sich Varya von der genussvollen Betrachtung ihres Königs und seines nackten Oberkörpers, auf dem noch einige Wassertropfen wie Diamanten glitzerten. Hier bahnte sich hoffentlich keine neue Komplikation an. „Das hab ich sowieso nie verstanden, Leilo. Estel ist sehr nett, er ist sogar recht anziehend, wenn man ihn eingeweicht und neu eingekleidet hat, aber er ist auch sehr gebunden. Und außerdem kann er mit jemandem wie Thranduil oder Legolas oder meinetwegen auch Elladan nicht mithalten, wenn ich mal ganz ehrlich bin. Innere Werte hin oder her."
„Ja." Äußerst betrübt rupfte Leiloss eine Wiesenblume aus und drehte den Stängel um ihren Zeigefinger. „Und jetzt?"
„Wie? Und jetzt?" Worauf wollte das Mädchen denn nun hinaus? Varya runzelte verwundert die Stirn.
„Wie sag ich es ihm bloß?"
Nur nicht lachen, beschwor Varya ihre eigene Selbstbeherrschung. Die Lippen fest zusammengepresst, wandte sie sich etwas ab. Thranduil stand wie eine Statue am Ufer. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Fäuste in die Seiten gestützt beobachtete er offenbar, was sich da oben auf dem Felsen so abspielte. Auf seinen hinreißend schönen Zügen spiegelte sich unverhohlene Schadenfreude wider.
„Ich mach das", bot sich Varya an, um dem Trauerspiel von Leiloss' erster Liebe ein Ende zu bereiten und endlich das Mädchen loszuwerden. Die Abgeschiedenheit hier am See war einfach zu perfekt, um sie sich entgehen zu lassen. Alle anderen waren im Nachtlager...
„Du bist viel netter als Galen behauptet hat", strahlte Leiloss, ohne die geringsten Anstalten zu machen, endlich zu verschwinden.
Varya runzelte die Stirn. „Was hat Galen denn behauptet?"
„Das wäre mein Problem und du würdest es bestimmt nicht zu deinem machen, aber ich könnte dich ja mal fragen."
Sie würde aber Galen zu ihrem Problem machen und ihn dafür bei der nächsten Gelegenheit steinigen. „Tja, Männer oder Elben oder was auch immer für eine Sorte dieses Geschlechts sind eben echte Trottel."
„Alle?" Leiloss blickte jetzt auch zu Thranduil. Aus der Wiesenblume in ihrer Hand wurde langsam eine undefinierbare Masse von Blütenblättern und zerquetschten Stücken des Stängels. „Wie ist das so?"
„Was?" Varya spielte auf Zeit. Sie wusste ganz genau, worauf die andere jetzt zu allem Überfluss auch noch hinaus wollte. Warum konnte sie nicht einfach Glorfindel fragen? Der hatte Erfahrungen aus ganzen Jahrtausenden!
„Du weißt schon."
Thranduil grinste inzwischen und machte keinerlei Anstalten, Varya zu Hilfe zu kommen.
„Äh..."
„Komm schon, Varya, Galen wollte mit mir nicht darüber reden. Er behauptet, ich wäre zu jung dafür, dabei bin ich erwachsen." Leiloss schnaubte etwas empört. „Ich will wissen, wie das funktioniert."
Unwillkürlich tauchten eigentlich sehr angenehme Erinnerungen an unterschiedlichste Gelegenheiten vor Varyas innerem Auge auf. Allein der Gedanke daran verursachte ein angenehmes Kribbeln auf ihrer Haut. Was nicht hieß, dass sie ausgerechnet Leiloss jetzt an diesen Erinnerungen teilhaben lassen wollte. „Du wirst es selber rausfinden, sobald du einen Gefährten gefunden hast. Leilo, ich kann dir da wenig erzählen, es ergibt sich eben. Mehr lässt sich nicht dazu sagen."
„Dann frag ich eben Elladan", verkündete die Jüngere deutlich beleidigt.
Es sollte wohl eine Drohung sein, aber das war Varya jetzt wirklich egal. „Mach das, aber er soll es dir nur erklären und nicht sofort am praktischen Beispiel demonstrieren. Du kannst ihm Grüße von mir ausrichten. Versucht er es trotzdem, kastrier ich ihn. Oder noch besser, ich verrate es Indaris."
„Das ist nicht dein Ernst!"
Varya rutschte von dem Fels herunter und baute sich vor der Ithildrim auf. „Tödlicher Ernst."
„Elrohir wird mir sicher auch helfen." Leiloss erkannte offenbar gerade den Vorteil von Zwillingen.
„Für den gilt das gleiche. Und jetzt gehst du besser, ich muss noch etwas mit Thranduil besprechen."
„Sag doch sofort, dass ich störe."
„Jetzt ja, verschwinde also."
Mit ärgerlich gerunzelter Stirn sah sie der Elbin nach, wie diese offenkundig wütend davon stob. Das durfte nicht wahr sein! Galen konnte sich auf etwas gefasst machen, weil er sie ihr überhaupt auf den Hals gehetzt hatte. Sie war schließlich nicht Leiloss' Mutter oder eine sonstige Verwandte, die sie mit den eher körperlichen Verbindungen eines Paares vertraut zu machen hatte.
„Schade", meinte hinter ihr Thranduil und schlenderte langsam die letzten Meter zu ihrem erhöhten Beobachtungsplatz heran. „Ich hätte zu gerne gehört, was du ihr so erzählt hättest."
„Im Augenblick jedenfalls nur Erinnerungen", grollte sie. „Sie hat sich den denkbar schlechtesten Zeitpunkt ausgesucht, finde ich."
„Außerdem hast du dich gewunden wie ein Aal", lächelte er und zog sie an sich. „Zwar wie ein bildschöner, aber dennoch wie ein Aal."
„Meldest du dich etwa freiwillig?"
„Eru bewahre mich davor." Einen Arm um ihre Taille gelegt schlug er den Weg zurück zu den anderen ein. „Es ist zwar schon ewig her, aber ich erinnere mich noch an den Abend, an dem ich meinte, mit meinem Sohn dieses Gespräch führen zu müssen."
„Armer Legolas", kicherte Varya.
„Von wegen!" schnaubte Thranduil. „Er saß vor mir, die Augen groß wie blaue Glasperlen und hat mich rumstammeln lassen wie einen Idioten. Für sein Alter hatte der Junge eine erstaunliche Selbstbeherrschung. Es hat eine halbe Stunde gedauert, bis er sich vor Lachen nicht mehr halten konnte."
„Armer König."
„Allerdings. Der Bursche wusste schon seit ein paar Jahren, von was ich da rede. Legolas ist viel durchtriebener, als er sich immer den Anschein gibt." Thranduil schüttelte leicht den Kopf. Väterliche Zuneigung und Respekt, beides in fast unendlichem Ausmaß, sprachen aus jeder Silbe. Da war wenig, das diese Gefühle für seinen Sohn überhaupt trüben konnte.
Varya fiel auf Anhieb eigentlich nur eines ein und das war dieser rotschwarz-geringelte Verfolger, den sie bereits vor einigen Tagen entdeckt hatte. Sie war sich sicher, dass auch Legolas nicht entgangen war, dass Ionnin sich entgegen jede Absprache nicht in den Palast verzogen hatte, sondern seinem geliebten Elbenprinzen an den Fersen klebte. Es fragte sich, wann er sich endlich bemerkbar machte und wie Thranduil darauf reagierte, wenn sein Besuch in Bruchtal von einem recht großen, sehr anhänglichen Bergsalamander begleitet wurde.
„Forlos wollte schon eine Suchmannschaft ausschicken", wurden sie am Lagerplatz von Glorfindel begrüßt. „Ich hab ihm gesagt, er soll euch beiden nicht den Spaß verderben."
„Schade, dass nicht alle hier so sensibel sind", zischelte Varya in Galens Richtung.
Ihr Freund breitete nur betont harmlos die Arme aus. „Was hätte ich machen sollen?"
„Darüber reden wir noch." Eingedenk ihres Versprechens an Leiloss stapfte sie zu Estel, packte den überraschten Sterblichen am Handgelenk und schleifte ihn ein paar Meter mit sich an einen etwas ruhigeren Platz.
„Was ist?" wollte er beunruhigt wissen, ein etwas verunsichertes Funkeln in diesen ausdrucksvollen grauen Augen. „Ich hab sie nicht angerührt, das schwöre ich."
„Das ist mir klar." Varya packte ihn an den Schultern, setzte eine fürchterlich ernste Miene auf und schüttelte ihn leicht. „Estel, ich weiß, es wird dir das Herz brechen, aber ich muss dir eine Mitteilung machen. Trag es wie ein Mann, auch wenn es eine Last ist, die kaum von einem einzelnen zu bewältigen ist."
„Ist das ein Trick von Elladan?" Sein Misstrauen konnte man fast greifen und in Flaschen abfüllen.
„Nein und wenn er das Gegenteil behauptet, lügt er", gluckste Varya. Sie räusperte sich. „Also, mein armer Freund, leider hat die liebe Leilo festgestellt, dass ihre Gefühle für dich erkaltet sind."
Er war gefasst, ziemlich jedenfalls. Die Art, wie er eine Hand zur Faust ballte und mit einem triumphierenden Laut etwas nach oben stieß, musste als Zeichen seiner Erschütterung gewertet werden. Auch das breite Lächeln und das Strahlen in seinen Augen durfte man nicht überbewerten. „Wirklich?"
„Wirklich", bestätigte Varya mit Grabesstimme. „Und wenn du nicht aufhörst, so breit zu grinsen, erzähl ich ihr, dass es dir das Herz gebrochen hat und sie es sich noch einmal überlegen sollte, bevor du dir was antust."
Das wirkte. Estel gab einen recht passablen Verlassenen ab. Da konnte man sogar verkraften, dass er den beorningschen Pfirsichlikör so ausgiebig kostete, bis er mit seinen Brüdern zusammen laut und auch noch falsch ‚Reise durch Mittelerde' durch die majestätische Stille des Nebelgebirges grölte. Es endete zum Glück, als Legolas in seltener Unbeherrschtheit ein Stück Feuerholz nach ihnen schmiss. Ein brennendes, wie Elladan empört feststellte.
Insgesamt war die Stimmung also so gelöst, wie sie unter dem Eindruck des Kampfes gegen die Orks eigentlich nur sein konnte. Der Schlaf der Elben, bewacht von Forlos' Kriegern, die sehr viel ausgeruhter waren als die Bruchtaler, war ungetrübt und so erholsam, dass sie am nächsten Morgen mit neuem Schwung die Reise nach Bruchtal antreten konnten.
Es gab keine neuen Gefahren mehr, nur die Ankündigung davon. So jedenfalls ließen sich die Gespräche zwischen Glorfindel und Thranduil deuten, kaum waren die Spuren der Trolle zu sehen, die sich gewaltsam ihren Weg durch das Gelände gebahnt hatten. Auch wenn die Elben zunächst nur Bruchtal ansteuerten, war für jeden klar, dass sich hier etwas eingeschlichen hatte, das so schnell wie möglich auch wieder beseitigt werden musste.
Varya verdrängte den Gedanken daran, dass Thranduil nicht der Charakter war, sich so eine Jagd entgehen zu lassen. Ein Blick in sein nachdenkliches Gesicht, kaum war die Rede von den Trollen, nahm ihr dennoch jede Illusion. Und auch Legolas schien einem derartigen Unternehmen nicht abgeneigt. Elronds Söhne waren sowieso für jeden Kampf zu haben, solange er sich nur gegen die dunklen Kreaturen richtete.
Da war es ein eher schwacher Trost, dass sich die Mienen von Forlos und dem Galadhrim zwar auch jedes Mal verdüsterten, kaum kamen die Trolle zur Sprache, nur aus anderen Gründen. Ihnen war wohl klar, dass sie unweigerlich mit von der Partie sein würden, um die Jäger selber zu schützen.
Trotz allem war es eine angenehme Reise und Varyas Vorfreude auf Bruchtal, von dem Galen so geschwärmt hatte, stieg mit jedem Meter, den sie sich Elronds Zuhause näherten. Schließlich überquerten sie in den frühen Morgenstunden den Bruinen und erreichten das Tal, als die aufgehende Sonne es mit Gold und warmen Rot übergoss.
Varya hatte Tränen in den Augen, so herrlich war der Anblick. Elrond hatte ein Wunder erschaffen.
o
o
Die Trollhöhen…verwundert war er jedenfalls nicht. Hier in der Nähe hatte es den Angriff auf die Lossidil gegeben und die Höhen waren der einzige Ort, an dem sich eine größere Gruppe Räuber so wirkungsvoll verstecken konnte, dass sie den stets wachsamen Augen Bruchtals entgehen konnte.
„Damit hast du wohl nicht gerechnet." Seine Begleiterin drehte sich im Sattel zu ihm um und warf ihm einen triumphierenden Blick zu.
„Erwartest du, dass ich jetzt überrascht bin?" Erestor gestattete sich ein überhebliches Lächeln. Sie hasste das nämlich, wie er inzwischen festgestellt hatte.
„Du denkst wohl, dich kann nichts mehr überraschen."
„Nur noch wenig."
„Wie wäre es damit?"
In den Büschen entlang des schmalen Waldweges raschelte es kurz und dann strömten von allen Seiten vermummte Gestalten auf den Weg. Sie waren bewaffnet. Erestor korrigierte sich: sie waren nicht nur bewaffnet, sie hatten die Waffen auch alle gezückt. So ähnlich musste es Gildor und den Lossidil ergangen sein. Erestor spürte leichten Ärger in seinem Innern aufkommen. Keineswegs etwa auf diese Wegelagerer, sondern auf sich selbst, weil er sie zuvor nicht bemerkt hatte. Es hätte ihm einfach nicht entgehen dürfen.
Äußerlich dennoch völlig ruhig ließ er seinen Blick über diese Figuren gleiten, bis er an einem Mann hängen blieb, der etwas hinter den anderen stand. Der einzige unter ihnen, der seine Waffen nicht gezogen hatte, elbische Waffen. Aus welchen toten Händen mochte er sie an sich genommen haben? „Ich nehme an, das hier soll meine Verabredung sein."
„Ich hab ihn gefunden, Marsden", rief Hestia jedenfalls zufrieden und lenkte ihr Pferd hinter die Linien der Räuber.
Erestor unterdrückte unwillkürlich ein Grinsen, als die Augen ihres Anführers bei der Nennung seines Namens verärgert aufblitzten. Scheinbar unbeeindruckt neigte er kaum merklich den Kopf. „Marsden also. Die Einladung ist von Euch. Das ist sie doch oder ist das hier nur ein zufälliger Hinterhalt, bei dem Ihr tatsächlich glaubt, einen Elben besiegen zu können?"
Hestias Anführer war nicht so dumm, sich sofort damit zu brüsten, dass es ihm wohl bereits mehrere Male gelungen sei. Stattdessen verließ er mit kraftvollen Schritten, die auf einen noch nicht sehr alten Mann hindeuteten, seinen erhöhten Aussichtspunkt und zog dabei das Halstuch herunter, mit dem er bislang seine Züge verborgen hatte. Ein anziehendes Gesicht enthüllte sich dem Betrachter: junge, gleichmäßige Linien eines blassen Gesichts, das verriet, wie wenig Zeit sein Besitzer im Sonnenlicht verbrachte. So wohlgeformt waren die Linien, so klar die hellgrauen Augen, dass sich Erestor fragte, ob nicht das Blut der Dunedain in Marsdens Adern floss. Seine Vorfahren würden nicht sehr stolz auf ihn sein, wahrlich nicht. Aber andererseits machte Marsden auch nicht den Eindruck, als würde ihn das sonderlich interessieren. Kälte lauerte am Grund seiner Augen und noch ein anderer Funke glomm darin, den man ohne großes Rätselraten als Hass bezeichnen konnte.
Gut zwei Schritte von Erestor blieb der Sterbliche stehen und sah zu ihm hoch. Es schien ihn nicht zu stören, dass der Elb immer noch auf dem Rücken seines Pferdes saß und auch keinerlei Anstalten machte, wenigstens aus Höflichkeit abzusteigen und sich auf die Höhe seines Gesprächspartners zu begeben.
„Man sagt, kein Elb erhebt die Waffe gegen einen seinesgleichen", begann er langsam.
„Man sagt viel, wenn die Winternächte kalt sind und die Ammenmärchen länger werden", entgegnete Erestor.
„Eine gute Antwort. Allerdings frage ich mich, ob man den Worten eines Diebes überhaupt trauen kann."
„Ich würde es sicher nicht. Ebenso wenig, wie ich den Worten eines Gesetzlosen traue, der hier in den Wäldern haust und Waffen trägt, die er sicher nicht für Gold erstanden hat."
„Noch eine gute Antwort." Marsden neigte den Kopf ein wenig zur Seite und musterte Erestor nachdenklich. „Eine unglückliche Situation, nicht wahr? Keiner traut dem anderen. Was also schlagt Ihr vor, Eren?"
Erestor seufzte leicht. „Gar nichts, Marsden. Es war Eure Idee, mich hierher zu bitten durch Eure Botin, die nebenbei bemerkt, eine ausgesprochen schlechte Gesellschafterin ist. Es hieß, Ihr hättet ein durchaus lukratives Angebot für mich."
„Das stimmt allerdings."
„Dann nennt es und wir werden sehen, ob sich der Weg für mich gelohnt hat."
„Aber doch nicht hier", meinte Marsden mit einem charmanten, aber nichtsdestotrotz sehr falschen Lächeln. „Betrachtet Euch erst einmal als meinen Gast und begleitet mich an einen Ort, der sehr viel besser geeignet ist, unser Geschäft zu besprechen."
Erestors Begeisterung hielt sich in Grenzen. Andererseits hatte er sich schon zu weit vorgewagt, um jetzt noch einen Rückzieher machen zu können. Wenn er wirklich etwas über Marsden erfahren wollte, musste er ihn nun begleiten. Stumm neigte er zum Zeichen seiner Zustimmung den Kopf.
Er hatte eigentlich damit gerechnet, dass Marsden und seine Männer nun ihre Pferde holen würden, aber nichts dergleichen geschah. Der Anführer der Räuberbande blieb zu Erestors Rechten und deutete nur mit einer Handbewegung an, dem Weg weiter zu folgen. Hestia hatte sich als einzige weitere Person mit einem Reittier an die Spitze gesetzt, während alle anderen sich vor und hinter dem Elben einsortierten wie in eine Prozession. Marsden marschierte an Erestors Seite, als wollte er ganz sicher gehen, dass der Elb auch bei ihm blieb.
Eine ganze Weile wurde kein Wort gesprochen. Sie hielten sich auf einem kaum erkennbaren Pfad durch dieses dichte Waldgebiet, das an seinem Südrand von dem Weg durchschnitten wurde, auf dem alle Reisenden zwischen Bruchtal und dem Westen mit all seinen Ansiedlungen früher oder später herkamen. Es war ein idealer Platz und eigentlich sehr verwunderlich, dass vor Marsden noch niemand auf die Idee gekommen war, sich hier zwecks gelegentlicher Überfälle auf harmlose Reisende einzunisten.
Marsden musste Erestors Gedanken erraten, denn er schmunzelte richtig vergnügt. „Eine echte Erwerbslücke, die wir hier gefunden haben. Wisst Ihr, was das Schönste daran ist?"
„Ich habe nicht die geringste Ahnung", log Erestor. Es lag dabei auf der Hand, was den Sterblichen so amüsierte.
„Keiner merkt etwas", triumphierte Marsden dann auch prompt. „Wir suchen unser Wild sehr sorgfältig aus. Wer hier entlangkommt und von uns gejagt wird, hat niemanden mehr, der noch eine Nachricht von ihm erwartet. Man weiß nicht einmal, dass wir hier sind."
Denkst du also. Irrtümer sind in deinem Geschäft leider tödlich, du Ratte. Erestor runzelte jedoch zweifelnd die Stirn. „Bruchtal ist noch sehr nah. Ihr lauft in Gefahr, dass sie Euch ihre Krieger auf den Hals hetzen."
„Nur wenn sie erfahren, dass es uns gibt." Marsden wollte noch etwas sagen, aber einer seiner Männer trat an ihn heran und tuschelte kurz mit ihm. „Entschuldigt mich einen Moment."
Erestor beobachtete ihn, wie er etwas unwillig weiter nach vorne marschierte und mit einem seiner Männer sprach. Eigentlich sprach Marsden nicht wirklich mit ihm, sondern hörte zu, wie der andere lebhaft auf ihn einredete. Viel konnte der Elb nicht von diesem Kerl erkennen, aber an den Bewegungen war etwas, das tief in seinen Erinnerungen für Unruhe sorgte. Erestors Anspannung wuchs.
Anstatt jedoch Alarm zu schreien, schüttelte Marsden grinsend den Kopf und kam wieder zu ihm zurück. „Wir werden Euch wohl ein paar Leibwächter geben müssen. Meine Männer sind nicht sehr begeistert, dass ich einen Elb hier unter uns dulde."
„Verständlich", murmelte Erestor und blickte nochmals zu dem Wegelagerer, dem trotz seiner nach wie vor bestehenden Vermummung der Ärger anzumerken war. „Was hat er gegen Elben?"
„Was hat er gegen Elben?" wiederholte Marsden, während er Mornens Flanke tätschelte. „Könnt Ihr Euch das nicht selber beantworten?"
„Nein."
„Vielleicht liegt genau darin der Grund."
Die Bewegung kam sehr schnell und Erestor erfasste sie auch nur aus dem Augenwinkel. Es reichte, um wenigstens noch leicht zu Seite auszuweichen, aber dennoch spürte er sofort danach einen siedenden Schmerz an seiner rechten Hüfte. Beinahe ungläubig starrte er einen Moment auf den Griff eines Messers, das dort in seinem Fleisch steckte.
„Ihr haltet euch einfach für zu schlau, Lord Erestor, ihr alle", zischelte Marsden und machte Anstalten, erneut nach dem Messer zu greifen.
Es war ein Reflex, der Erestor trotz der Schmerzen nach ihm treten ließ und den Sterblichen an den Wegrand beförderte. Zu Erestors Glück hatte Marsden wohl keine Zeit gehabt, auch noch die anderen Spießgesellen zu benachrichtigen. Aber es konnte nur noch wenige Atemzüge dauern, bis sie es begriffen. Zumal nun auch der, der Erestor wohl kannte, sich umgedreht hatte und zu ihnen gerannt kam. Er kämpfte sich durch seine noch nichts ahnenden Kumpane durch und das Halstuch vor seinem Gesicht verrutschte. Erestor erhaschte einen flüchtigen Blick auf nicht wirklich fremde Gesichtszüge, die er jedoch noch nicht richtig einordnen konnte.
Er hatte auch keine Zeit zu weiteren Fragen. Jede Sekunde, die er länger hier verharrte, verringerte seine Chancen, jemals lebend aus den Trollhöhen wieder herauszukommen. Mornen dachte wohl ähnlich und nahm ihm einfach die Entscheidung ab. Gerade als Erestor sein Schwert zog, drehte sich das Tier auf der Stelle um und jagte rücksichtslos zwischen den Männern Marsdens den schmalen Pfad herunter. Manche sprangen noch rechtzeitig zur Seite, andere hatten nicht soviel Glück. Erestor hörte die Schmerzensschreie, die hinter ihm die vorher so angenehme Stille des Waldes störten. Er hörte aber auch noch andere Rufe, die nach Pferden schrieen und voller Wut waren.
Noch war er mit Mornen im Vorteil, aber das würde nicht lange anhalten. Er war drei Tagesreisen von Bruchtal entfernt und seine Verfolger würden genau wissen, welche Richtung er nun einschlug. Erestor machte sich keine Illusionen. Diese Zeit im Sattel bei einer wilden Flucht zu verbringen, würde ihm nicht gelingen. Schon jetzt spürte er, wie sich das Messer bei jeder Bewegung tiefer in seine Hüfte bohrte und dort noch größeren Schaden anrichtete als ohnehin schon. Mit einem entschlossenen Ruck zog er es heraus. Seine Hand krampfte sich um den Griff, während ein Schmerzensschrei seine Kehle verließ. Dem folgte ein Fluch, weil der Schmerz seine Muskeln zum Zucken brachte und sein Schwert ihm aus den krampfenden Fingern der anderen Hand glitt. Er hörte nicht, wie es auf den weichen Waldboden prallte, er sah sich nicht einmal danach um. Es war mühsam genug, sich auf Mornens Rücken zu halten.
Wie lange würde Marsden brauchen, bis er genügend Reittiere herangeschafft hatte, um endgültig die Verfolgung aufzunehmen? Und wie lange würde es dauern, bis Erestor einfach nicht mehr weiterreiten konnte und diese Meuchelmörder ihn aufspürten?
Sie brauchten nur dem Weg nach Bruchtal folgen und seinem Blut, das nun ungehemmt aus der Wunde strömte. Erestor verdrängte den Gedanken, welche Verletzungen diese Klinge angerichtet hatte. Sie war zwar nur kurz, dafür aber recht breit und zu beiden Seiten geschärft.
Mornen nahm ihm die Entscheidung ab. Noch vor dem Waldrand machte der Hengst auf einmal eine völlig unvorbereitete Bewegung und warf seinen geschwächten Reiter einfach ab. Erestor hatte das Gefühl, von Schmerz überschwemmt zu werden, als er auf dem Boden auftraf. Ungläubig hob er den Blick zu seinem vierbeinigen Begleiter, der kurz stehen geblieben war und ihn aufmerksam und irgendwie ungeduldig musterte.
Es dauerte einen Moment, bis der Elb begriff, was das Tier ihm überhaupt mitteilen wollte. Dann nickte er nur zum Zeichen seines Verstehens und schleppte sich mit nachlassender Kraft vom Weg tiefer in den immer dichteren Wald. Hinter sich hörte er, wie Mornen erneut mit hohem Tempo den Weg weiter herunterstürmte. Er würde sie ablenken. Eru allein wusste, um welchen Preis.
Erestor fand schließlich eine tiefe Mulde, in der er wohl eine Weile sicher sein würde. Verkrochen, um zu sterben, dachte er in einem Anflug von bitterer Ironie. Du endest wie ein elender Schuft. Deine eigene Rolle hier draußen holt dich ein.
Schatten schienen lebendig zu werden und langsam nach ihm zu greifen. Der Schmerz ließ seltsamerweise nach. Erestor fragte sich, ob Schmerz eine Frage des Blutes war. Lagen darin die Seele und das Wesen eines jeden lebenden Dings eingebetet? Je mehr dieser leuchtend roten Essenz ihn verließ, desto weniger schien auch von ihm zu bleiben. Beinahe gelassen bemerkte er, dass Reiter den Weg entlang donnerten. Nach den erbosten Stimmen zu urteilen, handelte es sich um Marsden und seine Männer. Sie folgten Mornen, der nicht nur klüger als sein Reiter war, sondern ohne ihn auch noch sehr viel schneller.
Trotzdem war es vergeblich, entschied Erestor. Selbst wenn Mornen Bruchtal heil erreichte und man dort verstand, was geschehen war, würde Hilfe nicht mehr rechtzeitig bei ihm anlangen. Natürlich hatte er die Möglichkeit, sich zu Fuß auf den Weg zu machen, wenn erstmal wieder Ruhe eingekehrt war, doch so ganz glaubte Erestor nicht an diese Lösung. Marsden war nicht dumm, er würde Posten entlang der Straße zum Bruinen aufstellen, gegen die der Noldo keine Chance hatte. Kein Schwert, geschwächt, kein Pferd – er war zu leichte Beute.
Erestor verfiel in einen leichten Dämmer, in dem Bilder aus seiner Vergangenheit sich mit solchen abwechselten, die ihre Quelle an einem anderen Ort haben mussten. Unheilvolle Szenen aufkommender Unwetter jagten vor seinem inneren Auge heran. Das Grollen starker Gewitter mischte sich in seiner Schwäche mit dem Geräusch der zurückkehrenden Wegelagerer. Er hatte Mühe, Vorstellung und Wirklichkeit auseinander zu halten. Noch mehr Mühe machte es ihm, die Zeit abzuschätzen, die er nun schon hier zusammengekauert lag und den Blutfluss durch den Druck seiner Hand zu verlangsamen versuchte.
Dunkelheit umfing ihn, als in seiner Nähe Geräusche erklangen, die einen herannahenden Wanderer verrieten. Erestor rappelte sich auf und umfasste den Griff von Marsdens Messer mit der einen Hand, den seines eigenen Dolches mit der anderen. Wenn er schon sterben musste, dann wie ein Krieger und nicht wie ein heulender Schwächling.
Der Neuankömmling war vorsichtig. Langsam näherte er sich Erestors Mulde, verharrte gelegentlich und blieb schließlich an ihrem Rand stehen. Erestor hob den Kopf, bereit, aufzuspringen, aber eigentlich kaum noch fähig dazu. Er wäre fast zusammengebrochen, als er den großen Pferdeschädel erblickte, der in der Dunkelheit nur allmählich auszumachen war.
„Mornen", flüsterte er heiser. „Freund, du solltest dich in Sicherheit bringen."
Offenbar war sein langjähriger Begleiter zu dem Schluss gekommen, dass er wenigstens in diesem Fall seine eigenen Entscheidungen zu treffen hatte. Ohne auch nur den Anflug eines schlechten Gewissens blieb er weiterhin am Rande der Mulde stehen. Das einzige Anzeichen, dass ihm das Zögern seines Herrn langsam auf die Nerven ging, bestand darin, dass er mit dem rechten Vorderhuf scharrte.
„Du könntest mir etwas entgegenkommen", ächzte Erestor und versuchte dabei, sich sehr mühsam aufzurappeln. „Es soll Pferde geben, die das machen."
Aber ich sicher nicht, besagte Mornens Gesichtsausdruck.
„Asfaloth würde es bestimmt machen", grollte Erestor mit neuer Kraft und zog sich auf die Beine.
Träum weiter, schien es von Mornen zu kommen.
Der Gedanke, dass er nun ernsthaft unter Halluzinationen litt, blitzte kurz in Erestor auf, verschwand aber wieder, da er für solche Überlegungen nicht mehr wirklich die Kraft hatte. Äußerst unelegant brachte der Noldo es schließlich fertig, sich in den Sattel zu ziehen. Er lag mehr auf Mornens Rücken als dass er saß, doch es musste reichen. Stilfragen waren im Augenblick nicht wirklich entscheidend.
„Wir müssen nach Bruchtal kommen", flüsterte er seinem vierbeinigen Begleiter zu, der sich so vorsichtig in Bewegung setzte, wie es überhaupt möglich war. „Irgendwie."
o
tbc
serena: Na, schönen Urlaub gehabt? Dann bist du ja erholt für den Weihnachtsstress gönn mir die Rache als Nicht-in-Urlaub-Fahrerin. Hm, tja Erestor, wie es scheint, ist es nicht wirklich gut gegangen. Elrond wird seine wahre Freude daran haben.
Lord elo: Ich hoffe, sie hat nix gemerkt. Also, Westen oder Osten. Kommt auf den Standpunkt an (grins). Aber Bruchtal liegt im Westen, wenn man im Nebelgebirge ist. Im Osten liegt dann Düsterwald und Rhûn. Südöstlich noch Lothlorien und der Rest, der auf dem Weg nach Gondor so anfällt. Steht man natürlich im Auenland, liegt Bruchtal im Osten. Ja, ehm,…du verstehst, worauf ich hinaus will.
Feanen: Auf Isländisch? (erstmal Kaffe zur Beruhigung braucht) Andererseits hat es bestimmt mal enormen Sammlerwert, so hoch dürfte die Auflage nicht sein. Menno, ich hab die SEE doch noch nicht. Ist ein Weihnachtsgeschenk und ich will dem Schenker nicht die Freude verderben (schluchz).
Sarah0683: Das erklärt natürlich einiges!
Sei stolz auf mich – hier hat es diesmal nicht einen einzigen Rothemden erwischt. Nur Erestor, aber der lebt wenigstens noch. Alles Hestias Schuld! Sie ist hinterlistig, die junge Dame. Wird schon noch sehen, was sie davon hat. Andererseits war Erestor auch leichtsinnig. Selbst er muss damit rechnen, dass ihn mal irgendjemand erkennt.
Hm, ich schätze schon, dass Legolas die beiden auseinander halten kann. Und nicht nur er. Sie sollen sich zwar ungewöhnlich ähnlich sein, aber Elben sind ja nu sehr feinsinnig (denk ich mir zumindest) und da die beiden charakterlich nicht gerade gleich sind, dürfte sich das in ihrer Ausstrahlung bemerkbar machen. Gilt übrigens auch für zweijährige Zwillingspäarchen, bei denen einer ein Teufel und einer ein Engel ist (aus Erfahrungsschatz schöpfe)
Ich schätze, Elladan hat sich einfach diesen Ruf zugelegt, um nicht dauernd mit seinem Vater verglichen zu werden. Könnte ich mir vorstellen (reine Spekulation – ich weiß ja)
Iary: Für Haldir ist das ganze wohl so was Ähnliches wie ein Vergnügungs-Abenteuerurlaub. Der Dia-Abend später in Lorien dürfte eine Menge Publikum anziehen. Allein Celeborn hat wohl den meisten Spaß, was diese umtriebige Brut da so alles anstellt.
Figwit und Gilnín im Team – wir werden sehen, was sie da zustande bringen.
Ithiliell: Psst, in den nächsten Kapiteln fechten Thranduil und Varya noch das ein oder andere Gefecht miteinander aus. Macht mir doch auch immer den meisten Spaß. Obwohl Erestor sich langsam aber sicher zu einem meiner Favoriten entwickelt. Man merkt es wahrscheinlich daran, dass er erst einmal was drüber kriegt (seufz)
Donnfindel: Schöne Grüße an den Sekretär (kicher). Ja, man sieht ja, was Erestor davon hat. Andererseits dachte ich mir, er ist ja nicht irgendein Hilfsarbeiter sondern Führungspersönlichkeit, da trifft man eben selbständige Entscheidungen, auch wenn sie ins Auge gehen. So richtig (autsch). Doch Thranduil und Elrond treffen sich. Gleich im nächsten Kapitel.
