Zwielicht
Prolog
Dunkelheit umfing ihn.
Wieder einmal war er schreiend erwacht, lag schweißnass auf dem Rücken und versuchte, seinen rasenden Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen. Wieder einmal wollte es ihm nicht gelingen. Und wie jedes Mal trocknete der Schweiß kalt auf seiner geschundenen Haut, ließ ihn frösteln. Wie immer brauchte er all seine Selbstbeherrschung, um nicht die winzige Kerze anzuzünden, die er besaß, und sich so ein wenig Wärme und Licht zu spenden. Wie so oft half es nicht viel, wenn er versuchte sich einzureden, dass er das wenige Licht für schlimmere Zeiten brauchen würde, denn sein Verstand weigerte sich zu akzeptieren, dass es schlimmere Zeiten geben würde. Seine Vorstellungskraft reicht nicht dafür aus eine Idee davon zu bekommen, was quälender sein konnte als das, was ihm bis jetzt wiederfahren war.
Als sein Atem sich wieder ein wenig beruhigt hatte, schlug er die Augen auf.
Dunkelheit umfing ihn.
Es dauerte, bis seine Augen sich soweit an die Schwärze gewöhnt hatten, dass er den schmalen grauen Streifen unter der Tür erkennen konnte, der ihm zeigte, dass es Tag war – außerhalb seiner engen, lichtlosen Zelle. Sehnsucht begann an seinem Herzen zu zerren und das Verlangen danach, den winzigen Kerzenstummel anzuzünden, wurde beinahe unerträglich.
Doch obwohl er nur anhand der Kälte und Feuchtigkeit in seiner Zelle fühlen konnte, ob es Sommer oder Winter war, obwohl er nicht mehr wusste, wie lange er schon hier, wie er hierher gekommen war, warum und weshalb – obwohl er sich an nichts mehr erinnern konnte, gelang es ihm Tag für Tag, diesen letzten Rest an Selbstbeherrschung aufrecht zu erhalten, die Kerze kalt und dunkel zu belassen, auszuharren in der Schwärze, die ihn zu ersticken drohte.
Vergessen, ja, das hatte er. Vergessen wie der Himmel aussah, wie Regen roch, wie sich der Wind auf der Haut anfühlte und wie Licht schmeckte, wenn man den Kopf in Richtung Sonne drehte. Er wusste nicht einmal mehr, wer er selbst war. Zwar kannte er seinen Namen, doch er fühlte sich nicht mehr. Erinnerte sich nicht an seine Kindheit, seine Freunde, sein Leben.
Manchmal hatte er das Gefühl, dass er schon tot war. Gestorben, ohne es zu merken. Einfach eines Morgens nicht mehr aufgewacht zu sein...
Und er war tot. Denn es war kein Leben, dass er führte. Sein Leben war ihm gestohlen worden, alles, wofür er gelebt hatte, war in Vergessenheit geraten... es war ein Leben an der Grenze, auf halber Strecke zwischen Leben und Sterben, dass er führte. Die Dunkelheit der Zelle war auch die Dunkelheit seiner Seele geworden; er spürte nicht mehr, wo er selbst endete und wo die Schwärze und die Kälte und die Schmerzen begannen, er spürte nichts, er dachte nichts, lebte nicht mehr.
Dämmerte vor sich hin im Zwielicht, Ewigkeit für Ewigkeit.
TBC...
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