Prolog 1925

Es war kalt. Die Sonne war schon verschwunden, als das Taxi vor den Gemäuern des Anwesens hielt. Raoul hatte auf dem Weg dorthin kein Wort gesprochen und der junge Priester hatte es ihm gleich getan. Es war seltsam, nach so langer Zeit wieder an diesen Ort zurückzukehren. Fast glaubte er, sie zu hören, wie sie im Haus nach ihm rief. Obwohl seine Erinnerungen noch lebhafte Bilder vor seinen Augen auftauchen ließen, schienen ihn dennoch Ewigkeiten von diesen Ereignissen zu trennen. Er wünschte sich, dass auch er seine Reise nun beendet hatte.

Das Anwesen sah so alt aus, wie er sich fühlte. Alt und verlassen. Und ein wenig traurig. Seit vielen Jahren stand das Chateau leer, früher hatte er es einige Zeit vermietet, später als Ort genutzt, wo er die Sommermonate verbrachte, wenn es in London einmal wieder unerträglich regnerisch war. Doch ohne sie wirkte dieser Ort unvollkommen, so wie alles ohne sie unvollkommen war.

Wie oft war er früher mit der Equipage über den weißen Kies gefahren, aus dem nun vertrocknete Sträucher wucherten? Wie wunderschön und märchenhaft hatte dieses Anwesen einst ausgesehen. Ein Märchenschloss hatte sie es genannt. Wie sehr vermisste er sie doch, Christine, seinen Engel!

Das rötliche Licht des anbrechenden Abends verlieh dem Balkon, der einmal ihrer gewesen war, einen seltsamen, beinahe unheimlichen Glanz. Hier und da huschten blasse Flecken über die verwitterte Fassade des Chateaus, wenn die Wellen auf der Oberfläche des nahen Sees die letzten Strahlen der Sonne auf sie warfen.

Seine Hand klammerte sich an die Armlehnen seines Rollstuhles, während sein Blick liebevoll auf das Beet fiel, in dem er vor so vielen Jahren Rosen hatte einpflanzen lassen. Weiße Rosen waren schon immer ihre Lieblingsblumen gewesen und sie hatte es sich nicht nehmen lassen, sich selbst um die Pflege des Blumenbeetes zu kümmern. Nach mehr als vierzig Jahren ohne Pflege war nichts geblieben als ein verwahrloster Erdhügel, auf dem Unkraut wucherte. Er seufzte. Es schmerzte ihn zu sehen, was aus ihrem Zuhause geworden war. Und sie fehlte ihm.

Kopfschüttelnd wandte er den Blick ab zu den verrosteten Gittern der Hofeinfahrt, die das Familienwappen zierte. Seine Finger waren steif von der feuchten Kälte des regnerischen Herbsttages und er verzog das Gesicht als er versuchte, sie von den Armlehnen zu lösen, um sich dem jungen Priester zuzuwenden. Sébastien würde sich darum kümmern, dachte er zuversichtlich. Er würde noch an diesem Abend einen Brief an ihn aufsetzen und dafür sorgen lassen, dass man aus diesem Chateau wieder das machte, was es gewesen war. Und dann würde er diesen Ort anderen Menschen zur Verfügung stellen, vielleicht als Hotel. Es wäre ein gutes Hotel mit einer nahezu perfekten Lage, am Rand von Paris. Er seufzte tief und beobachtete den Priester eine Weile, der schweigend neben ihm stand und den grünlichen See anstarrte. Einmal, nicht lange, hatten Christine und er geglaubt, in diesem Haus neu beginnen zu können, bis der Alptraum sie erneut eingeholt hatte. Aber das war 1881 gewesen und mit einem Mal kam Raoul sich alt vor.

Er merkte wie die Hand des Priesters sich um seine Schulter schloss und spürte das besorgte Lächeln, dass der junge Mann ihm zuwarf. Der Junge, der ihn zurück nach Paris begleitet hatte. Es war sein Wunsch gewesen und Raoul hatte es nicht vermocht, ihn umzustimmen. Insgeheim war er aber dankbar, diesen letzten Besuch nicht allein machen zu müssen.

„Es ist kalt, Monsieur le Comte", sagte der Priester schließlich und brach damit ein Schweigen, das fast so etwas wie heilig gewesen war. „Ich denke, es ist besser, wenn wir zurück in unser Hotel fahren. Sie müssen für die Fahrt zurück nach London ausgeruht sein!"

Raoul zuckte zusammen. Dieser Junge behandelte ihn mit einer Wärme und umsorgte ihn, als wäre es sein eigener Sohn. Er lächelte traurig. Ein Sohn... Christine hatte ihn so behandelt. Jedes Mal, wenn sie das Gefühl hatte, ihn zu vernachlässigen. Und er hatte Christine so behandelt, in den letzten schweren Wochen ihrer Krankheit. Vor seinem inneren Auge tauchte ihr bleiches Gesicht in den weißen Kissen auf, dunkle traurige Augen, die ihm trotz allem noch voller Liebe zulächelten. Er erinnerte sich gut daran, dass sie ihm bis zum Schluss versprochen hatte, ihn niemals zu verlassen – für immer bei ihm zu bleiben. Und dann war sie gestorben – viel zu jung. Durch diese Erinnerung vollkommen verwirrt, blinzelte er eine lästige Träne aus dem Auge und nickte dem Priester schließlich zu.

„Sie haben Recht, ich bin nicht mehr so jung wie Sie. Um diese Zeit sollte ich mich wohl nicht mehr hier draußen aufhalten."

Tatsächlich hätte es ihm nichts ausgemacht, noch einige Stunden hier zu verbringen, aber in seinem Alter vergaß man anscheinend häufiger die Zeit. Schließlich hatte er nur den Wunsch geäußert, sein altes Jagdschloss noch einmal zu sehen und nicht, den gesamten Abend dort zu verbringen. Und er hatte nicht einmal geahnt, wie viele Erinnerungen sein kurzer Aufenthalt in Paris aufwirbeln würde. In der Tat, dieser Tag hatte ihn angestrengt, mehr angestrengt als er es jemals zugeben würde. Zuerst diese Ausstellung in den oberen Stockwerken der Oper und sein Besuch bei Sébastien auf dem alten Familienfriedhof. Nun dieser Anblick seines früheren Zuhauses… vollkommen verwahrlost. Er schüttelte den Kopf und ließ es zu, dass der Priester die Bremsen des Rollstuhls löste und ihn über den weißen Kies mit den vielen Gräsern, die mittlerweile durch ihn wucherten, zurück schob. Er warf dem Chateau einen letzten traurigen Blick zu, als ihn Priester und Chauffeur gemeinsam in das Taxi hoben, das sie schließlich zurück in ihr Hotel bringen sollte.

Der Priester stellte keine Fragen. Er hatte es sich abgewöhnt, denn er wusste, dass es den Comte aufregte. Wenn er über seine Frau erzählen wollte, dann tat er das für gewöhnlich ungefragt. So hatte der Priester auch vor einiger Zeit von den seltsamen Vorfällen erfahren, die sich 1881 an der Pariser Oper zugetragen hatten. Ein entstelltes Genie hatte die Keller des Opernhauses bezogen und erpresste die Direktion um Geld, mischte sich in Besetzungsfragen ein. Das alles nur weil es eine Frau begehrte, die der Comte liebte. Am Ende entführte das so genannte Phantom der Oper Christine und drohte, Raoul zu töten, wenn sie sich nicht für ein Leben mit ihm entscheide. Der Priester konnte nicht verstehen, warum der Comte freiwillig eine Ausstellung in der Oper besuchte, die für ihn doch ein Ort des Grauens sein musste - schließlich hatte er in jener Nacht vor über vierzig Jahren beinahe sein Leben lassen müssen. Alles was der Priester wusste war, dass Raoul nur mit Hilfe von Christine überlebt hatte. Er bewunderte den Mut dieser Frau, einen Menschen wie das Phantom zu berühren und gar zu küssen, nur um den Mann, den sie liebte, zu retten. Dieser Kuss hatte ihnen beiden das Leben geschenkt. Er wusste, dass Christine und Raoul mit einem Boot in die Freiheit gelangt waren und dass der Mob damals nur die leeren Katakomben der Oper vorfand und alles zerstörte. Was aus dem Phantom geworden war, wusste er nicht. Sicher war nur, dass Raoul und Christine schließlich doch heirateten und eine kurze, aber dennoch glückliche Ehe geführt hatten.

Er betrachtete den Comte. Er war alt geworden, sehr alt. Früher hätte niemand gedacht, dass aus ihm einmal das werden konnte, was der Priester nun vor sich sah: ein zusammengefallener, grauer, trauriger Mann mit von tiefen Sorgenfalten zerfurchtem Gesicht. Als Christine starb, hatte er über Nacht alles verloren, wofür er gelebt hatte. Von diesem Tag an war er älter geworden. Älter und mit der Zeit auch sehr krank. Aber er war unerschütterlich geblieben. Der Priester erinnerte sich, dass ihn sogar der Ausbruch des Krieges nicht so tief bestürzt hatte, wie der Tod seiner Frau. Schon zu diesem Zeitpunkt war der Comte an den Rollstuhl gebunden gewesen und aus diesem Grunde wollte niemand mehr etwas von dem Absolventen der Militärakademie hören.

Nach einiger Zeit waren sie am Hotel angekommen. Der Priester brachte Raoul auf sein Zimmer und half ihm, sich zu entkleiden und auf das Bett zu legen. Nachdem er das zusammengerollte Plakat irgendeiner Oper, die er nicht kannte, neben Raoul gestellt hatte, wollte er das Zimmer verlassen, doch Raoul hielt ihn mit ungewöhnlich festem Griff am Arm und zwang ihn, sich erneut zu ihm zu wenden.

„Warten Sie!" Langsam löste Raoul seine knochigen Finger vom Arm des Priesters. „Geben Sie es mir!"

Der Priester runzelte die Stirn und warf dem Gegenstand, auf den der Comte nun deutete, einen zweifelnden Blick zu. Mittlerweile hätte er Raoul gut genug kennen sollen, um zu wissen, wie es enden würde. Seit er denken konnte, sammelte Raoul alles, was mit der Opéra Garnier zur Zeit 1881 zu tun hatte, der Zeit also, in der seine Frau dort gesungen hatte. Er hatte in seiner Londoner Wohnung ein ganzes Zimmer eingerichtet, nur um dort Erinnerungsstücke an seine Frau und ihre einstige Opernkarriere zusammenzutragen. Dieses Plakat schien nur eine weitere Errungenschaft in der umfangsreichen Sammlung des Comtes zu sein. Manchmal hatte er das Gefühl dass Raoul in Wahrheit nach etwas suchte, einer ganz bestimmten Erinnerung und sie doch bisher nicht hatte finden können. Entschieden schüttelte er den Kopf. Ihm sollte es egal sein. Alles was zählte war, Raoul klar zu machen, dass die katholische Kirche als einziger würdiger Erbe für das Vermögen des letzten Chagny in Betracht kam. Er bemühte sich schon seit Jahren um Raouls Sympathie und allein das war der Grund gewesen, den alten Mann nach Paris zu begleiten und sich all die verwirrenden Geschichten anzuhören. Zugegeben, die Geschichte mit diesem Phantom war tatsächlich interessant gewesen. Aber die Zeit lief ihm langsam davon. Der Comte wurde alt und soweit ihm bekannt war, hatte er noch immer keinen Erben benannt. Seufzend griff er in seine Manteltasche und tat schließlich doch, was ihm der Comte aufgetragen hatte. Mit zitternden Händen zog er das schmutzige, ehemals weiße Ding hervor, was der Comte seit ihrem Besuch in der Opéra nicht hatte hergeben wollen. Erstaunlicherweise erinnerte man sich in der Oper auch nach so vielen Jahren an Raoul und was noch viel bemerkenswerter war, man überließ ihm die gewünschten Dinge zu einem wirklich niedrigen Preis. Wie in all den Jahren zuvor, hatte Raoul Unsummen von Geld geopfert, um alte Kulissenteile, Requisiten alter Opern und Kostümteile zu kaufen, die ihn alle an seine verstorbene Frau erinnerten. Seit ihrem Tod schien er vernarrter den je in die Oper zu sein. Alle Erlöse dieser Ausstellung, die man zu Ehren von Charles Garnier, ihrem Erbauer, veranstaltete, der in diesem Jahr seinen einhundertsten Geburtstag gefeiert hätte, sollten einem guten Zweck zukommen. Außer ein paar Plakaten und alten Notenblättern hatte man Kostümteile verkauft, die teilweise in einem wirklich bedauernswerten Zustand gewesen waren. Nichts wofür es sich gelohnt hätte, Geld auszugeben, dachte der Priester. Und für all das war er bis aus London mit dem Comte angereist. Nachdenklich zog der Priester zog die Stirn kraus und blickte den alten Mann an. Mit kalten, zitternden Händen griff Raoul nach dem unförmigen Gegenstand und betrachtete ihn eine Weile.

„Es ist seltsam, nicht wahr? Es ist als hätte sie all die Jahre dort unten auf mich gewartet. Man sagte mir, sie sei 1907 gefunden worden, als man die phonografischen Aufzeichnungen verschloss", erklärte Raoul schwach. „Christine hat oft von ihr gesprochen. Von ihr und von ihm..."

Der Priester zuckte mit den Schultern. Ein Kostümteil, nichts weiter. Irgendjemand musste es dort unten verloren haben und es hatte schon lange Zeit dort unten im Schmutz gelegen, bis es endlich jemand fand. Tatsächlich war es in einem wirklich erbärmlichen Zustand, niemand schien sich die Mühe gemacht zu haben, es wenigstens zu reinigen.

„Das ist seine Maske, ich bin mir ganz sicher… Und diese Noten", er deutete auf ein einzelnes halb zerrissenes Blatt Papier, dass neben ihm auf dem Nachtschrank lag, „das ist Don Juans Triumph. Seine Oper… ein wahres Meisterwerk, das nie aufgeführt wurde und mit ihm verschwand."

Der Priester kam näher und setzte sich nach kurzem Zögern auf die Bettkante des Comtes. Seine Maske? Seine Oper? Wie konnte Raoul sich nur so sicher sein? Er war alt, seine Augen waren nicht mehr die besten und zwischen den Ereignissen von damals und heute lagen über vierzig Jahre. Es konnte genauso gut irgendeine Maske aus dem Kostümfundus sein... irgendeine Partitur, die ein Sänger verloren hat… der Versuch eines Musikers in seiner Freizeit zu komponieren. Nach über vierzig Jahren konnte sich niemand sicher sein, noch Überreste des Phantoms der Oper gefunden zu haben, oder? Sein Blick glitt auf den Papierfetzen, denn als etwas anderes konnte man das Blatt nicht bezeichnen und erkannte darauf Noten und Text eines Liedes. Stirnrunzelnd versucht er den Text zu entziffern, der ungewöhnlicherweise in roter Tinte mit der Hand geschrieben worden war. Vielleicht handelte es sich hierbei tatsächlich um ein wertvolles Original – ein Unikat. Er verstand nichts von Noten oder Musik, dennoch fiel ihm die Textstelle, die noch gut erhalten war, ins Auge:

In des Dämons Fängen

Umspielt mich die Stille…endlos

Furcht umklammert meine unfreie Seele

Im Innern erklingt die schweigende Sprache

Gedanken – Die Stille spricht…

In seinem Hals machte sich ein seltsames Brennen breit, er spürte dass er unruhig wurde, alles in ihm drängte danach, diese Noten hören zu können… diese Musik. Er kannte die Arie nicht – er hatte keine Ahnung von Opern und sie interessierten ihn auch nicht und trotzdem schien allein die Möglichkeit, die diese Musik bot, ihn gefangen zu nehmen. Energisch legte er das Stück Papier wieder aus der Hand. „Was war an diesem Überrest Papier so wichtig, um dafür nach Paris zu fahren? Sich räuspernd richtete er seinen Blick auf Raoul.

„Ich verstehe nicht ganz, warum Sie sich seine Musik holen. Sind Sie ihm nicht Ihr Leben lang aus dem Weg gegangen? Und nun freuen sie sich über ein altes Stück Papier mit Noten und eine Maske, die genauso gut aus irgendeiner anderen alten Oper sein könnte?", fragte er gereizt über seine eigene plötzliche Neugierde, diese Musik hören zu können. Aus diesem Grund war er nun wirklich nicht hier. „Wie können Sie sich so sicher sein? Wie können Sie sich freuen, nach allem was Sie mir über diesen… Menschen erzählt haben?" Der Priester schüttelte ungläubig den Kopf. Nie hatte Raoul von dem Phantom anders geredet als von einem Monster.

Zitternd ergriff der Comte seine Hand und drückte sie sanft.

„Es war sein Lebenswerk", sagte er zuversichtlich, „Einst wollte er, dass sie mit ihm begraben wird, doch diesen Wunsch konnte ich ihm nicht erfüllen. Er hat die Oper für sie geschrieben, noch bevor er sie kannte und nun werde ich das, was von ihr bleibt, an ihren rechten Platz zurückbringen. Er hätte es so gewollt… Christine hat so oft von Don Juan gesprochen und ich glaube, sie hat es bereut, niemals darin aufgetreten zu sein. Ich kenne diese Musik und ich werde sie niemals vergessen können. Ich höre sie an jeden Tag meines Lebens, seitdem ich in diesem Boot vor Erik geflohen bin." Der Comte verstummte und blickte auf die Maske. Sie hatte sich nicht verändert. Sie sah noch genauso aus wie an jenem Abend, als er sein Leben schon aufgegeben hatte. Leder, überzogen von weichem, weißen Stoff, der nun an einigen Ecken aufriss. Auch sie war mittlerweile der Zeit zum Opfer gefallen, doch sie und dieses eine Notenblatt waren das einzige, was von Eriks Existenz noch geblieben waren. Niemand sollte noch einmal die Gelegenheit haben, diese Oper zu hören oder gar zu veröffentlichen. Nicht, nach allem, was geschehen war.

„Erik …war das Phantom?", fragte der Priester und riss Raoul aus seinen Gedanken.

„Ja, das war er. Aber ich habe mit der Zeit gelernt, ihn bei seinem Namen zu nennen, so wie Christine es auch getan hat." Er seufzte. „Und diese Arie war das letzte was ich hörte, als wir mit dem Boot aus den Katakomben flohen. Er sang sie zum Abschied für Christine. Wie ein Wehklagen schallte sie durch die Katakomben. Seither habe ich sie nicht mehr vernommen, aber mein Kopf hat es nie vergessen... und Christine hat es nicht... Sie hat es oft gesungen, heimlich, wenn sie dachte, ich würde es nicht mitbekommen. Höllenfeuer nannte er sie … Christine hat sie nur ein einziges Mal auf der Bühne gesungen…" Sein Blick wurde wehmütig, als er die Maske beinahe zärtlich streichelte. Doch sie konnte unmöglich das sein, was er all die Jahre gesucht hatte.

Der Priester erhob sich und trat zum Fenster. Er öffnete die Vorhänge und sah auf die Straßen von Paris.

„Sicherlich ging es ihr wie Ihnen. Sie hat die Melodie ihr Leben lang im Ohr gehabt. Ich habe gehört, dass man sich besonders intensiv an die schlimmsten Minuten in seinem Leben erinnern kann."

Der Comte schüttelte den Kopf.

„Nein, das war nicht so. Sicherlich waren es nicht die schlimmsten Minuten in ihrem Leben. Sie hat Erik jeden Tag ihres Lebens vermisst. Und falls Sie tatsächlich glauben, dass Christine Erik geküsst hat, um mich zu befreien, muss ich Sie enttäuschen. Sie hat bis zu ihrem Tod nicht aufgehört, ihn zu lieben und ich habe lange Zeit gebraucht, um das einzusehen. Ich höre noch immer seine klagende Stimme zu diesem Lied..."

Der Priester zog die Vorhänge wieder zu und wandte sich ab. Es war ihm unangenehm, so tief in das Leben des Comte einzudringen. Außerdem hatte er sich bis jetzt sein Bild von Christine gemacht. Dieser schönen, jungen Frau. Das, was der Comte nun sagte, passte rein gar nicht in seine Vorstellungen. Doch er wollte den Comte nicht weiter belasten und machte Anstalten zu gehen.

„Bitte bleiben Sie!" rief Raoul aus.

„Monsieur le Comte, ich möchte Sie wirklich nicht... ich meine, Sie brauchen jetzt wirklich Ruhe. Der Zug geht morgen sehr früh und die Fahrt nach England wird anstrengend werden für Sie!"

„Schweigen Sie und setzen Sie sich!", befahl Raoul ihm grob. „Wenn ich es heute niemandem erzähle, werde ich es nie tun. Ich möchte, dass endlich jemand erfährt, was damals passiert ist."

Der Priester setzte sich erneut. Er wusste, dass er sich besser fügen sollte. Der Comte hatte die Eigenart entwickelt, sehr beleidigt zu werden, wenn man seinem Willen nicht nachkam. Und wer wollte schon denjenigen beleidigen, von dem sich die katholische Kirche eine beträchtliche Summe Geld versprach?

„Ich weiß doch, was damals passiert ist…", warf er schwach ein. Wenn er ehrlich war, hatte er nicht einmal Lust, sich die Erlebnisse des Comtes zum wiederholten Male anzuhören, ganz gleich wie sehr sie ihn faszinierte.

Doch Raoul schüttelte bestimmt den Kopf.

„Nichts wissen Sie! Sie haben keine Ahnung was geschah, nachdem Christine und ich geflohen waren..."

Der Comte holte noch einmal schwer rasselnd Luft und umklammerte mit der Hand ängstlich seine Brust. Dann begann er, die Geschichte zu erzählen, die so lange schwer auf ihm gelastet hatte. Eine Geschichte, die ganz anders war, als es der Priester erwartet hatte.