Kapitel 1

Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne,

Du bist mir nah!

Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.

O wärst du da!

Goethe

Zwei Tage vergingen friedlich nach ihrer Flucht aus den Katakomben des Opernhauses. Christine kehrte nicht mehr zurück an die Oper und Raoul schickte einen Dienstboten, der ihre Garderobe räumte. Die Direktoren waren selbst dabei, sich nach Ersatz umzusehen. Niemand, der von den Ereignissen erfahren, oder sie gar miterlebt hatte, war noch dazu bereit, länger an dieser Oper zu bleiben. Im Grunde hatte Erik seine Drohung wahr gemacht. Er hatte die Oper ruiniert, nachdem man nicht bereit gewesen war, auf seine Forderungen einzugehen.

Von dem Dienstboten erfuhr Raoul schließlich, dass der Mob in Eriks Reich eingedrungen war und all sein Hab und Gut zerstört hatte. Erik war jedoch nie gefunden worden. Das versetzte Raoul augenblicklich in einen Alarmzustand. Wenn Erik nicht tot war, würde er früher oder später wieder auftauchen. Was hatte Christine damals gesagt?

Wenn er mich findet, wird es nie aufhören. Er wird immer da sein und für mich singen."

Tatsächlich hatte sie Recht, doch das hatte er damals nicht wahrhaben wollen.

Da Raoul sich um Christines Gesundheit sorgte, schickte er nach seinem Hausarzt, der die junge Frau untersuchen sollte. Obwohl er wusste, dass es seinem Bruder ganz und gar nicht Recht gewesen wäre, lies er Christine ein Zimmer im Chateau de Chagny herrichten. Phillipe war bereits seit einigen Tagen nicht mehr im Schloss gewesen und Raoul befürchtete, dass er den Reizen einer Ballerina erlegen war.

Der Arzt verordnete Christine Ruhe, doch schon nach drei Tagen verfiel sie in einen seltsamen Zustand:

Als Raoul eines Morgens ihr Zimmer betrat, ertappte er sie dabei, wie sie sämtliche Ankleidespiegel mit dunklen Tüchern zuhängte. Eine Weile beobachtete er sie verwirrt, ohne etwas zu sagen. Sie schien ihn im Übrigen auch gar nicht zu bemerken. Wie ein mechanischer Apparat bewegte sie sich durch den Raum, blieb vor dem großen Ankleidespiegel stehen und hängte eines der Tücher darüber. Dann hielt sie einen Augenblick lang inne, als betrachte sie ihr Werk, oder als würde sie intensiv nachdenken. Wollte sie die Geister der Vergangenheit so ausschalten? Raoul zuckte hilflos mit den Schultern und räusperte sich leise. Hastig wandte sie sich zu ihm und sah ihn mit leeren Augen an, sodass er sich fragen musste, ob sie ihn überhaupt erkannte.

„Was tust du da?", fragte er sie leise, ohne seinen Schrecken ganz vor ihr verbergen zu können.

Sie blickte ihn nur schweigend an, gab ihm jedoch keine Antwort. Ein seltsames Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Nervös begann er, mit seinen Händen zu spielen. „Kannst du es nicht ertragen, all diese Spiegel? Fürchtest du, er könnte in einem von ihnen erscheinen und dich wieder in sein Reich holen?" Er erschauerte bei dem bloßen Gedanken daran. Mehr als einmal hatte Erik sie entführt, durch den Spiegel in ihrer Garderobe, der für ihn eine Art Tor zur Außenwelt gewesen war. Doch das was sie nun tat, war absurd. Erik würde es niemals wagen, an diesem Ort aufzutauchen, er hatte sie beide freigegeben nachdem sie ihn geküsst hatte. Sie waren frei!

Besorgt ließ er sie nicht aus den Augen, ließ sie ihr Werk vollenden, ohne einzugreifen. Vielleicht war es tatsächlich besser, noch einmal nach dem Arzt zu schicken. Sie hatte Furchtbares erlebt und vielleicht brauchte sie Hilfe von einem Spezialisten, um all die schrecklichen Dinge verarbeiten zu können.

Als sie alle Spiegel verhangen hatte, wandte sie sich ab und nahm stumm auf dem Sessel Platz, den sie sich vor das große Fenster hatte stellen lassen. Er ging ihr nach, wagte aber nicht, sie zu berühren. Sie wirkte so weit entfernt, als sei sie in einer anderen Welt gefangen, in der er keinen Platz hatte. Und er fühlte sich zu hilflos um sie daraus zu befreien.

Im Zimmer roch es seltsam muffig; ein Geruch, den er so gar nicht mit Christine in Verbindung bringen konnte. Scheinbar hatte sie schon seit Tagen kein Fenster mehr geöffnet. Irgendwie erinnerte ihn all das plötzlich mit einer unheimlichen Intensität an die Katakomben der Oper, an Eriks Reich. Er war nur ein einziges Mal dort gewesen, vor wenigen Tagen erst, Christine hatte viele Wochen dort verbracht. Auch dort war es dunkel gewesen, der einzige Spiegel, den es gegeben hatte, war verhangen gewesen... es hatte nach Moder gerochen. Er erschauerte und trat kurz entschlossen an die Tür, die zu dem kleinen Balkon führte. Mit einem kräftigen Ruck öffnete er sie. Im selben Augenblick verblasste die Ähnlichkeit mit den Kellergewölben. Das helle Tageslicht durchflutete das Zimmer und einen Moment fühlte er sich geblendet. Die frische Luft eines Wintertages strömte in den Raum und Raoul sog sie begierig ein. Nein, der Alptraum war vorbei und er würde nicht zulassen, dass Christine sich in ihren ängstlichen Erinnerungen an das, was sie beide erlebt hatten, verlor.

„Falls du reden möchtest, ich bin immer für dich da.", sagte er leise und wandte sich ihr zu. Sie reagierte nicht, sondern starrte an ihm vorbei aus dem Fenster, als nähme sie seine Anwesenheit überhaupt nicht wahr. Er schloss für einen kurzen Augenblick lang die Augen, rief sich zu Ruhe, zwang sich geduldig mit ihr zu sein. „Ich werde jetzt in den Salon gehen und dort die Korrespondenz verrichten. - Du weißt nicht zufällig, wo mein Bruder ist?"

Sie drehte langsam ihren Kopf zu ihm und sah ihn mit trüben, desinteressierten Augen an. Ein kalter Schauer jagte ihm über den Rücken. So kannte er sie nicht… seine Christine sah niemals so gefühllos aus.

„Ist Phillipe noch immer nicht zurück? Nun, wahrscheinlich vergnügt er sich mit der Sorelli. Hat er sie nicht früher oft besucht? Vielleicht solltest du Jean-Paul an die Oper schicken und sich nach ihm erkundigen lassen." Ihre Stimme klang nicht wirklich besorgt. Es war mehr die Höflichkeit, die sie veranlasste sich nach dem verschwunden Bruder zu erkundigen. Das verwunderte Raoul nicht weiter, Christine hatte seinen Bruder nie wirklich kennengelernt. Phillipe hatte sich strikt dagegen ausgesprochen, dass sein Bruder sich mit einer einfachen Sängerin verlobte, die ganz und gar nicht Raouls gesellschaftlichen Stand entsprach. So hatte er sich auch geweigert, häufiger als notwendig Zeit mit ihr zu verbringen. Vielleicht hätte gerade das ihrem kühlen Verhältnis gut getan.

Was ihn deutlich mehr erschreckte war ihre ungewöhnlich leise und brüchige Stimme, beinahe wie die einer alten Frau. Er wusste, sie konnte singen wie ein Engel – wie konnte es nur sein, dass sie plötzlich krächzte? Nur schwer widerstand er dem Drang die Hand auszustrecken und ihre Stirn zu befühlen. Vielleicht war sie krank… In den feuchten Kellern hätte sie sich den Tod holen können. Erst jetzt bemerkte er ihren trotzigen Blick, der ihn davon abhielt, ihr in irgendeiner Weise näher zu kommen. Es verletzte ihn. Hatte sie ihm nicht versichert, dass sie ihn liebte, dass sie nur ihn heiraten wollte? Nun gab sie ihm das Gefühl, nicht zu ihr zu gehören.

Enttäuscht zuckte Raoul mit den Schultern und wandte sich zum Gehen.

„Ich sollte wohl wirklich besser jemanden zur Oper schicken und nach Phillipe fragen lassen." Er erwähnte nicht, dass er das bereits vor drei Tagen getan hatte und dass niemand etwas über den Verbleib Phillipes hatte sagen können. Nicht einmal die Sorelli, bei der er seinen Bruder natürlich zuerst vermutet hatte.

„Bitte lass mich jetzt ein wenig allein, ich würde gerne nachdenken!", bat sie ihn schließlich und ihr Anblick stimmte ihn so weich, dass ihr Zimmer verließ. Raoul fragte sie nicht, worüber sie nachdenken wollte, er gestattete nicht einmal sich selbst diese Frage. Auch weigerte er sich seit Tagen darüber nachzudenken, was geschehen war, wie knapp er selbst mit dem Leben davon gekommen war. Ihn hatten nur wenige Augenblicke vor dem sicheren Tod getrennt. Wäre Christine nicht so selbstlos gewesen…

Nachdenklich schlenderte er die Treppen von ihrem Zimmer hinunter zum Salon. Vorbei an den Fotografien und Gemälden seiner Ahnen. Seit er ein kleiner Junge gewesen war, hatten unzählige dieser Portraits die Wände neben der Treppe geziert, von denen er nicht einmal mehr die Hälfte mit Namen kannte, obwohl sein Hauslehrer großen Wert darauf gelegt hatte, dass er sie ihm einmal am Tag auswendig aufsagte. Mittlerweile waren noch einige Bilder dazu gekommen. Soweit er sich erinnern konnte, hatten sein Vater und später Philipe dafür gesorgte dass eine solche Galerie in jedem ihrer Chateaus zu finden war. Eines Tages würden vielleicht auch seine Kinder staunend die Menschen auf den Portraits betrachten und dann würden Christine und er auch dort verewigt sein. Ein beinahe tröstlicher Gedanke.

Mit einigen Schwierigkeiten erkannte er auf zwei Fotografien seine Eltern. Graf Phillibert, der hochgewachsene Mann mit den hellen, blauen Augen, und dem Grübchen im Kinn, das er von ihm als einziger der beiden Chagny-Söhne geerbt hatte. Er hatte keinerlei Erinnerungen an diesen Mann, der ihn wohl die ersten drei Lebensjahre großgezogen hatte. Der Graf kümmerte sich, wie später sein ältester Sohn, liebevoll um den Nachzügler der Familie. Phillipe war bei Raouls Geburt bereits zwanzig Jahre, seine beiden Schwestern Amélie und Héléne waren auch schon „aus dem Gröbsten heraus" wie Philibert zu sagen pflegte. Als er starb, kümmerten sich die Geschwister um Raoul und als beide Schwestern heirateten, gab Phillipe ihn in die Obhut einer Schwester seiner Mutter, die am Meer lebte.

Raoul schloss die Augen und versuchte, sich an jene Zeit in der Bretagne zu erinnern. Dort war es gewesen, wo er Christine zum ersten Mal mit vierzehn Jahren getroffen hatte. Sie hatte ihren roten Schal verloren und er war es, der todesmutig in das eiskalte Meer gesprungen war, um dem jungen Mädchen ihr Kleidungsstück zu retten.

Lächelnd öffnete er die Tür zum Salon. Auf dem großen schweren Eichentisch stapelten sich Papiere, um die sich für gewöhnlich sein Bruder gekümmert hätte und die nun während dessen Abwesenheit auf ihn zurückfielen.

Eine Weile betrachtete er den Stapel mit gerunzelter Stirn. Irgendwie verschaffte die Abwesenheit seines Bruders ihm ein seltsames Gefühl in der Magengegend.

Er setzte sich, um die Briefe durchzusehen und zu beantworten. Kaum hatte er begonnen, klopfte es an der Salontür. Er sah auf. Jean-Paul, einer der ältesten Angestellten im Anwesen, der schon zu Zeiten seines Vaters gedient hatte, trat verlegen ein. Etwas an seinem ernsten Gesichtsausdruck ließ Raoul versteifen. Jean-Paul war gewöhnlicherweise die gute Laune in Person.

„Pardon, Monsieur le Vicomte. Vor der Tür steht ein Angestellter der Sûreté, der Sie sprechen möchte… Er sagt, es sei dringend…", fügte er hinzu. Raoul schob die Papiere von sich. Augenblicklich begann sich sein Magen zu verkrampfen. Nervös griff er nach seinem Füllfederhalter und ließ ihn durch die Finger gleiten. Die Sûreté… Sie war bestimmt gekommen, um Fragen zu stellen. Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf. Die Spiegelkammer… das Punjablasso an dem einastigen Baum… das Phantom war nie gefunden worden… Er spürte, dass Schweiß auf seine Stirn trat und seine Finger sich Hilfe suchend um den Füllfederhalter krallten, als könne er allein ihn vor den Erinnerungen beschützen.

„Monsieur?", fragte der Hausdiener mit besorgtem Blick und riss Raoul so aus den Gedanken.

Er schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem höflichen Lächeln.

„Bitten Sie ihn herein!"

Nachdenklich legte Raoul seine Stirn in Falten. Vielleicht gab es andere Gründe, die die Sûreté zum Kommen bewegten. Es musste andere Gründe geben. Er wollte den Namen Erik so schnell wie möglich aus seinem Haus verbannen. Und er musste sich und Christine davor beschützen diesen Alptraum noch einmal durchzuleben, wenn auch nur um ihn einem Sicherheitsbeamten zu schildern. Er musste sie schützen!

Nach wenigen Minuten, die der alte Bedienstete mittlerweile brauchte, um den Raum zu durchqueren, trat mit Jean-Paul ein Mann mittleren Alters ein, unverkennbar ein Mitarbeiter der Sûreté, mit dem üblichen Anzug und Schnauzbart.

„Guten Morgen, Monsieur le Vicomte. Ich bedauere zutiefst, dass ich Sie zu dieser Zeit belästigen und von Ihrer Arbeit abhalten muss…"

Raoul verzog verärgert das Gesicht. Die üblichen Floskeln. Wie oft hatte dieser Mann die Sätze an diesem Tag bereits abgespult? Außerdem platzte er beinahe vor Ungeduld. Er wollte es schnell hinter sich bringen, was immer es auch sein mochte. Er hasste es zu warten. Außerdem befürchtete er, die Worte die er sich zurechtgelegt hatte, zu vergessen, wenn der Beamte noch länger brauchen würde, um den Grund für sein Kommen zu nennen.

„Das tun Sie in der Tat, Monsieur l'inspecteur. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie schnell zum Punkt kommen würden."

Der Mann nickte und auf ein Zeichen von Raoul verschwand Jean-Paul, ohne wie gewöhnlich jedem Besucher einen Tee anzubieten. Es war eine allseits bekannte Eigenart der de Chagny, dass in ihrem Haus nur Tee getrunken wurde. Selbst als Gast musste man sich fügen und bekam höchstens am Abend ein Glas Wasser oder Portwein ausgeschenkt.

„Selbstverständlich Monsieur…" Leicht nervös tänzelte er von einem Bein auf das andere und blickte erwartungsvoll auf den Stuhl, der vor ihm am Tisch stand. Raoul runzelte die Stirn. Dieses Verhalten war absolut unverschämt.

„Setzen Sie sich!", forderte er ihn schließlich etwas barscher als beabsichtigt auf.

Der Mann nahm hastig Platz. Einen Augenblick blieb sein Blick auf dem Füllfederhalter in Raouls Hand hängen. Er lächelte unsicher, wurde aber sofort wieder ernst, als Raoul sich räusperte und den Stift beiseite legte.

„Nun bin ich aber wirklich gespannt, Monsieur. Geht es um meine Geschäfte, oder hat sich die Direktion der Opéra Garnier nun doch bei Ihnen beschwert, weil meine Verlobte nicht vertragsgemäß gekündigt hat? Das wäre allerdings kein Grund für die Sûreté zu mir zu kommen, nicht wahr? Was immer es ist, hören Sie, der Arzt hat meiner Verlobten strenge Ruhe verordnet. Sie sollte sich wirklich nicht aufregen."

Der Mann schüttelte den Kopf.

„Nein, um Ihre Verlobte geht es nicht. Aber es ist merkwürdig, dass Sie so schnell auf die Oper zu sprechen kommen. Darum geht es tatsächlich. Meine Männer haben bis heute die Katakomben der Oper durchsucht um die Existenz dieses Mannes zu klären, der sich selbst das Phantom der Oper nennt. Angeblich soll er der Operndirektion eine beträchtliche Summe Geld abgepresst haben und für den Tod von mindestens einem Angestellten des Opernpersonals verantwortlich sein."

Raoul umklammerte so fest die Armlehnen seines Stuhls, dass sich seine Fingerknöchel weiß verfärbten. Angestrengt biss er sich auf die Zähne und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm ihm die Erwähnung Eriks war. Er versuchte die Bilder abzuwehren, die unweigerlich in ihm hochzusteigen versuchten, seine Gedanken und sein Handeln vollkommen lähmen wollten.

„Außerdem wirft man ihm die Entführung einer Sängerin, Ihrer Verlobten, vor.", fuhr der Beamte fort, während er mit dem Zeigefinger über seinen dunklen Schnauzbart strich, „Nun, wir konnten nicht die geringste Spur eines Lebewesens außer Ratten dort unten feststellen. Allerdings…"

„Und wie erklären Sie sich dann die ganzen Vorfälle?", unterbrach ihn Raoul gereizt, „Das würde mich wirklich interessieren, Monsieur!" Gott, er hatte nun wirkliche keine Lust auf diese Art von Gespräch. Ein Stockwerk über ihnen saß eine Frau, die der lebende Beweise für die Existenz dieses Verrückten war, doch konnte er ihr nicht zumuten, dass sie sich diesen Fragen stellte, die doch immer wieder auf das Gleich hinausliefen: Christine hatte den plötzlichen Erfolg an der Oper nicht verkraftet und Wahnvorstellungen bekommen. Vielleicht drückte dieser Angestellte der Sûréte es dieses Mal etwas anders aus….

Der Mann sah betreten auf seine Finger und begann nervös seine Brille zu putzen. Scheinbar war der Zeitpunkt gekommen, mit dem Raoul gerechnet hatte.

„Nun, wir sprechen hier von einer Oper. Es gibt Rivalen, Neider…Vielleicht wollte sich dieser Buquet bereichern und hat die Direktion selbst erpresst. Er war es schließlich auch, der diese Legende vom Phantom in Umlauf brachte. Als seine Erpressung unter der neuen Direktion nicht mehr recht laufen wollte, erhängte er sich. Und was Ihre Verlobte betrifft, war sie schon immer recht - verzeihen Sie dass ich das jetzt sage - naiv, wenn man den Erzählungen diverser Angestellter glauben darf. Und die letzte Zeit war für sie wohl recht anstrengend. Es war nicht leicht plötzlich vom einfachen Chormädchen zur Primadonna zu werden. Das kostet Kraft. Hat man sie nicht auch einmal von der Bühne tragen müssen, weil sie halb ohnmächtig war?"

Raoul sprang auf und funkelte den Mann wütend an. Wie konnte dieser Mann es nur wagen so etwas zu sagen. Das Maß war voll!

„Was erlauben Sie sich! Wollen Sie meiner Verlobten nun auch unterstellen, sie sei verrückt und habe sich das alles nur eingebildet? Wenn das alles war, was Sie mir zu sagen hatten, ist es besser, Sie gehen augenblicklich bevor ich mich vergesse und Sie hinaus werfen lasse!"

Der Mann hob beschwichtigend seine Arme.

„Bitte, Monsieur. Deshalb bin ich eigentlich überhaupt nicht gekommen." Er griff in seine Manteltasche und zog einen goldenen Siegelring hervor, den er auf den Tisch legte. Dorthin, wo Raoul gerade seine Korrespondenz verschoben hatte.

„Ich möchte, dass Sie sich das ansehen. Kennen Sie diesen Ring?"

Raoul nahm den goldenen Ring zitternd in die Hand. Natürlich kannte er ihn. Er war ein Erbstück und wurde von Generation zu Generation in ihrer Familie an den Comte de Chagny vererbt. Er erblasste.

„Woher haben Sie den Ring?"

„Sie kennen ihn also?", hakte der Beamte vorsichtig nach.

„Er gehörte meinem Bruder. Woher haben Sie ihn?" Langsam breitete sich Angst in ihm aus. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Hörte dieser Alptraum denn niemals auf? In seinem Kopf begann ein dumpfes Pochen, das immer lauter wurde. Lange würde er die Anwesenheit dieses Menschen nicht mehr aushalten können. Und er konnte keine Schwäche zeigen, niemand würde ihm dann seine Geschichte glauben, die er in den letzten Tagen so häufig jedem hatte erzählen müssen. Angestrengt fixierte er den Beamten während seine Hände noch immer nach etwas suchten, dass ihm Halt gab.

„Wie bereits erwähnt suchten wir in den Katakomben nach der Existenz dieses Phantoms. Heute Morgen wurde eine männlich Leiche an das Ufer dieses Sees gespült, die diesen Ring trug, Monsieur." Der Mann zog seine Dienstmütze ab und sah Raoul ernst in die Augen. „Ich bedaure Ihnen das mitteilen zu müssen, Monsieur le Vicomte, aber Ihr Bruder ist offensichtlich ertrunken. Können Sie mir vielleicht erklären, was er dort unten zu suchen hatte? Niemand hatte dort Zutritt außer dem Personal."

Das Pochen in seinem Kopf hatte nun eine unerträgliche Intensität erreicht. Phillipe… tot?

„Ich weiß nicht… er hat uns gesucht… meine Familie fördert diese Oper... er hat überall Zutritt… Christine und ich waren bei den Stallungen. Wir sind dort hingelaufen, als der Kronleuchter hinabstürzte. Sie wissen schon… Sie hatte solche Angst, ich wollte sie beruhigen…Phillipe hat uns sicher gesucht... vielleicht hat er sich vor dem Rattenfänger erschreckt und verlaufen…", stammelte Raoul und ließ sich auf den Stuhl fallen. Inständig hoffte er, dass dieser Mann ihm seine Lügen glaubte. Er hasste es, zu lügen, aber wahrscheinlich würde die Wahrheit nur alles schlimmer machen. Besser er erzählte auch ihm die Geschichte, die er auf Anraten von Christine und dem Perser jedem erzählte, der fragte, wo sie bei dem Kronleuchterunglück gewesen waren. Er vergrub das Gesicht in seinen Händen. Er konnte unmöglich erzählen, dass ein Wahnsinniger seine Frau entführt hatte und er ihm gefolgt war, nur um dort selbst in die Falle zu geraten. Christine durfte nicht wissen, dass Erik noch lebte. Wenn sie dachte er sei tot, könnte sie vielleicht mit der Zeit vergessen und alles würde so sein, wie früher.

„Bitte Monsieur, wenn Sie keine weiteren Fragen haben, dann würde ich Sie bitten, jetzt zu gehen."

Der Mann stand auf und warf Raoul einen mitleidigen Blick zu.

„Natürlich Monsieur. Wir werden Ihnen die Leiche sobald wie möglich zur Beerdigung freigeben. Ich nehme an, Sie wünschen ihn hier auf dem Familienfriedhof beizusetzen?"

Raoul nickte heftig und unterdrückte ein Schluchzen. Die Abschiedsfloskeln des Beamten verschwammen zu einem dumpfen Dröhnen in seinem Kopf, dass sich mit dem Schlag der Tür, die ins Schloss fiel, untrennbar vermischte. Er sah nicht noch einmal auf. Sein Bruder war tot. Gestorben im Reich des Phantoms während Christine und er im Haus am See um ihr Leben kämpften. Und niemand schien mehr an die Existenz des Phantoms zu glauben. Buquet sollte das Phantom gewesen sein… Einfach lächerlich, das Andenken an diesen liebenswerten alten Bühnenarbeiter so zu beschmutzen.

„Monsieur le Vicomte? Geht es Ihnen nicht gut?"

Unbemerkt war Jean-Paul wieder eingetreten und sah nun besorgt auf seinen Herren, der bittere Tränen auf seine Korrespondenz vergoss.

„Bringen Sie mir einen Cognac, Jean-Paul! Und geizen Sie nicht!"

Jean-Paul öffnete die Bar und goss die bräunliche Flüssigkeit in ein Glas. Er warf Raoul irritierte Blicke zu. Es war ungewöhnlich dass der junge Mann solch starke alkoholische Getränke zu sich nahm, besonders zu dieser Tagszeit.

„Soll ich Mademoiselle Daaé holen?"

Raoul sprang erschrocken auf. Vor Schreck ließ der alte Dienstbote fast das Glas fallen, das er seinem Herren gerade hatte reichen wollen.

„Nein!", rief Raoul aus, „Nein, Jean-Paul, Mademoiselle Daaé darf nichts davon erfahren. Hören Sie, mein Bruder hatte einen Unfall. Er ist ertrunken, deshalb war die Sûreté da. Aber Mademoiselle Daaé darf davon nichts wissen! Sie ist noch zu krank und schwach, es würde sie zu sehr aufregen. Sorgen Sie dafür, dass sie nichts erfährt und lassen Sie mir alle nötigen Menschen für eine Bestattung kommen. Aber Christine darf nichts erfahren!"

Jean-Paul, der nun ebenso entsetzt aussah, wie Raoul sich fühlte - schließlich hatte er die Chagny Söhne von Kindesbeinen an begleitet- nickte wie betäubt und verschwand dann.

Tatsächlich gelang es ihm, Christine die Ereignisse zu verheimlichen. Spätestens als Jean-Paul nur einen Tag nach dem Besuch des Inspektors klopfte und mit bleichem Gesicht zu Raoul in den Salon trat, wusste er, dass seine Entscheidung richtig gewesen war.

„Was haben Sie Jean-Paul? Ist Ihnen ein Gespenst begegnet?" Raouls aufgesetztes Lächeln gefror augenblicklich wieder und er stand auf um zu Jean-Paul zu gehen.

„Monsieur le Vi…,", er unterbrach sich selbst, als ihm sein Fehler bewusst wurde. Nun, da Phillipe, der Comte de Chagny tot war, der keine Kinder hatte, an die er seinen Titel weitergeben konnte, war Raoul es, der den Titel des Comte de Chagny von nun an tragen würde. „Monsieur le Comte, wir sorgen uns um Mademoiselle Daaé. Sie rief gerade Louise zu sich und bat sie, sämtliche Spiegel in ihrem Zimmer entfernen zu lassen. Ich dachte, wir sollten Sie davon in Kenntnis setzen." Der alte Mann sah betreten drein und trat nervös von einem Bein auf das andere.

Raoul erbleichte. Er hätte damit rechnen müssen, dass so etwas passieren würde. Er hatte Christines Wunsch nachgegeben und sie allein gelassen und das war nun der Preis, den er zu zahlen hatte. Er nickte.

„Ich werde sofort nach ihr sehen. Vielen Dank, Jean-Paul!"

Er verließ den Salon und stieg die unzähligen Treppen nach oben, bis er schließlich in dem Stockwerk ankam, in dem die privaten Räume der Familie lagen. Er hatte Christine sein Zimmer herrichten lassen und war selbst in das Schlafzimmer seiner Eltern gezogen, das seit deren Tod leer stand.

Es war seltsam, an seinem eigenen Zimmer zu klopfen und er wartete nicht ab, bis sie ihn hereinbat, sondern trat gleich ein. Christine saß am Fenster. Eine kleine gebeugte Gestalt, die blicklos nach draußen sah. Hatte sie sein Kommen überhaupt bemerkt?

„Christine?"

Sie erschrak und drehte sich um. Ihr Anblick ließ Raoul einen eiskalten Schauer den Rücken herunterlaufen. Ihr dunkles Haar war ohne Glanz und fiel sonderbar leblos auf ihre Schultern. Unter ihren Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Wie sie sonst leuchteten, waren sie nun angeschwollen und gerötet, als hätte sie geweint.

Raoul seufzte und nahm sie in die Arme. Sie ließ es über sich ergehen, erwiderte seine Umarmung jedoch nicht.

„Mein Engel, ich mache mir Sorgen um dich!", gestand er ihr leise.

Sie befreite sich aus seinen Armen und wandte sich wieder dem Fenster zu. Hilflos stand er neben ihr und sah sich nun erst in diesem Zimmer um. Dort, wo einst seine Ankleidespiegel gewesen waren, entdeckte er jetzt dunkle Ränder. Man hätte das Zimmer wohl schon vor einiger Zeit weißen lassen sollen. Neben dem Schreibtisch gegenüber des Fensters lag ein Handspiegel dessen Glas zersplittert war. Es sah so aus, als hätte man ihn mit sehr großer Kraft gegen die Wand geschleudert. Das Bett, rechts neben ihr, war offenbar schon einige Zeit nicht mehr gemacht worden. Wie auch? Sie lehnte jeglichen Kontakt zu ihm oder den Dienstmädchen ab.

„Es ist nichts, Raoul. Ich bin nur müde!" Ihre Stimme klang leise und schwach. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass Tage vergangen sein mussten, seit sie zuletzt gesungen hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass das jemals zuvor der Fall gewesen war. Christine hatte an jedem Tag ihres Lebens gesungen. Als er sie am Strand von Perros kennenlernte, hatte sie alte schwedische Volkslieder gesungen, begleitet von ihrem Vater auf der Violine. Er hatte sich sofort in sie verliebt. Sie war die Frau mit den größten und schönsten grünen Augen und mit der faszinierendsten Stimme gewesen. Niemals zuvor und auch nicht nach ihrem Tod hatte er eine Frau getroffen, die so war wie sie.

Leicht verärgert über ihre Art, ihn zu behandeln, drehte er sich um, ging mit eiligen Schritten zur Tür, neben der der Rahmen des Handspiegels lag und griff nach ihm. Fast ebenso schnell war er wieder an Christines Seite und hielt ihn ihr vor das Gesicht.

„Nichts, Christine? Das ist nichts? Es geht dir nicht gut und ich möchte dir helfen. Warum sagst du nicht, was ich für dich tun kann?"

Wie an jedem Tag seit der Flucht aus den Katakomben trug sie schwarz. Die dunkle Farbe ließ sie nur noch blasser und zerbrechlicher erscheinen.

„Bitte, Raoul", unterbrach sie ihn und zum ersten Mal seit Tagen konnte Raoul den Anflug eines Lächelns bei ihr entdecken. „Ich brauche keinen Arzt und ich brauche keine Gesellschaft." Sie zögerte, wandte ihren Blick wieder nach draußen. Er fürchtete, dass sie nun wieder in diesen apathischen Zustand verfallen und auf keines seiner Worte reagieren würde. Doch dann drehte sie sich plötzlich wieder zu ihm und in ihren Augen lag ein Glanz, den er schon beinahe vergessen hatte. Er erinnerte ihn an die Zeit, in der sie noch kein Phantom getrennt hatte. Mit diesen leuchtenden Augen blickte sie ihn an.

„Vielleicht würde mir frische Luft gut tun. Ja, Raoul. Würdest du mir eine Kutsche richten lassen? Ich würde so gerne zum Friedhof fahren. Ich war so lange nicht dort und mein Vater..." Sie stockte und sprach nicht weiter. Ein seltsames Gefühl überkam Raoul bei dem Gedanken, sie zum Friedhof fahren zu lassen. Seit Tagen hatte sie dieses Zimmer nicht mehr verlassen und nun wollte sie ausgerechnet an den Ort, an dem Erik ihr nur vor ein paar Wochen aufgelauert hatte und er sie gerade noch retten konnte.

„Christine, ich weiß nicht, ob das wirklich gut wäre, in deinem Zustand…", warf er schwach ein. Dieses Leuchten in ihren Augen wurde wieder schwächer und drohte ganz zu erlöschen. Vielleicht verlor sie jedes Gefühl, wenn er dieser einzigen Bitte nicht nachgab. Und außerdem, was war schon dabei, wenn sie das Grab ihres Vaters besuchen wollte? ‚Das letzte Mal ist er dort gewesen', wiederholte die gehässige Stimme in ihm. Es gelang ihm nicht, die Zweifel zum Schweigen zu bringen.

„Nun gut, aber ich werde dich begleiten." Eine kurze Weile sah er zu ihr, verzweifelt, weil sie ihn nun, wo endlich alles vorbei war, wo sie nicht mehr in Angst leben mussten, nicht mehr an sich heranließ. Könnte sie nicht einfach lächeln, nur ein wenig, und ihm sagen, wie dankbar sie war, dass alles vorüber war? Ihm sagen, wie sehr sie ihn liebte? Nichts, nicht einmal ein Lächeln, seit jener Nacht in den Katakomben. Er wandte sich ab und trat aus ihrem Zimmer. Das erstbeste Mädchen, was ihm über den Weg lief hielt er grob am Arm fest, sodass dieses vor Schrecken zusammenzuckte. Sie hatte wohl mit einem der anderen Dienstboten gerechnet und so zwang sie sich zu einem erleichterten Lächeln, als sie ihren Herren erkannte.

„Monsieur le Comte?"

Er lockerte seinen Griff und zwang sich zur Ruhe. Schließlich konnte dieses arme Mädchen nichts dafür, dass sich seine Verlobte von ihm zurückzog.

„Verzeihen Sie bitte, ich wollte Sie nicht erschrecken. Könnten Sie bitte meinem Kutscher ausrichten, dass Mademoiselle Daaé und ich einen kleinen… Ausflug machen möchten?" Alles in ihm weigerte sich. Seine innere Stimme riet ihm, sie nicht fahren zu lassen. Besser sie blieb in diesem Zimmer, ließ sich von einem Arzt und ihm helfen, als an einen Ort zu fahren, der sie mit dem Tod und Erinnerungen konfrontierte, die sie unmöglich schon ertragen konnte. Vielleicht konnte er selbst es nicht einmal. Doch er hatte seinen Befehl bereits ausgesprochen, und die Angst, Christine ihre Bitte zu verweigern, war eben so groß wie die, sie gehen zu lassen.

Das Mädchen nickte und verschwand hastig.

Raoul sah ihr nach und runzelte die Stirn. Womöglich war auch er es, der nicht auf den Friedhof fahren wollte. Dort würde er sicherlich wieder selbst Opfer seiner düsteren Gedanken werden, und Christine gegenüber musste er doch stark sein. Was sollte sie von ihm denken, wenn er selbst nicht mit dem, was er erlebt hatte, zurechtkam. Wie könnte er ihr helfen, wenn er sich selbst nicht einmal helfen konnte zu vergessen? Er schüttelte den Kopf und trat erneut, und dieses Mal ohne Anzuklopfen, in Christines Zimmer ein. Sie saß noch immer unverändert auf ihrem Platz und starrte blicklos vor sich hin. Mit einem Seufzer trat er trat neben sie.

„Die Kutsche wird gleich warten. Vielleicht solltest du dich zurechtmachen…", schlug er vor. Er begann mit seinen Händen zu spielen, nur um etwas zu tun.

Wie in Trance erhob sie sich und ging an ihm vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Sehr langsam öffnete sie den Schrank und griff nach einem schwarzen Umhang und ihrem schwarzen Schal. Als sie beides angelegt hatte, wirkte sie wie ein Gespenst.

„Musst du mich wirklich begleiten?", fragte sie leise. Ihre Worte versetzten ihm einen Stich in der Brust. Er hatte geahnt, dass es ihr nicht Recht war, dass er sie begleitete, aber er hatte gehofft, sie würde es wenigstens nicht aussprechen. Egal wie sehr ihm vor diesem Ort graute, er würde es nicht zulassen, dass sie allein dorthin fuhr.

Energisch nickte er und stellte nun erst erschrocken fest, dass sie in den wenigen Tagen wohl auch an Gewicht verloren haben musste.

Als sie schließlich vor den Toren des Friedhofes anhielten, bat Christine Raoul darum, in der Kutsche zu warten und sie allein gehen zu lassen. Ihr flehender Blick stimmte ihn weicher als es ihm Recht war. Nur zaghaft widersprach er.

„Christine, das halte ich für keine gute Idee. Ich glaube nicht, dass du schon soweit bist."

Sie stieg, ohne Raouls helfende Hand zu ergreifen, aus der Kutsche und sah ihn an. Das Bittende in ihrem Blick war einem ungewohnt harten, beinahe schon grausamen Ausdruck gewichen. War das wirklich die Frau, die er seit Kindertagen liebte?

„Und ich glaube nicht, Raoul, dass du in der Position bist, mir meine Entscheidungen abzunehmen! Ich bin alt genug um zu wissen, wann ich was allein tue!"

Er sog scharf die Luft ein und blickte Christine erschüttert an. So hatte sie noch nie mit ihm gesprochen. Stirnrunzelnd betrachtete er sie, beschloss sie nun ganz sicher nicht allein auf den Friedhof gehen zu lassen, egal wie sehr sie ihn auch anflehen mochte.

„Aber das letzte Mal als du hier warst…" Er verstummte. Besser er sprach nicht aus, was ihm im Kopf herumschwirrte.

„Erik ist tot!" stieß sie hervor und funkelte ihn böse an.

Kopfschüttelnd senkte er den Blick. Er hatte gehofft Namen Erik nicht mehr zu hören, nach allem was geschehen war. Er hasste es, wenn sie ihn beim Namen nannte und er hasste sich dafür, dass sich auf diese Diskussion eingelassen hatte, dass er ihr gegenüber nicht härter sein und sie einfach zwingen konnte, ihn mitzunehmen.

„Er hätte dich entführt!", erinnerte er sie verzweifelt, „Wäre ich nicht gewesen..."

„Dann hätte er kein zweites Mal versucht, dich zu töten. Dann wäre Buquet niemals gestorben, dann wäre ich…" Sie brach wütend ab und ärgerte sich, dass sie Raoul versucht hatte zu erklären, was in ihr vorging. Doch es war zu spät.

„Gibst du mir die Schuld an Buquets Tod? Ich hätte das unterirdische Reich sowieso gefunden. Nur in jener Nacht halfen mir Madame Giry und ..."

„Die Verräterin", warf Christine ein, „Nach allem, was Erik für sie und Meg getan hat, hätte sie lieber den Mund gehalten, statt Eriks Geheimnis auszuplaudern. Sie hatte nicht das Recht dazu, ihn an dich oder irgendwen sonst zu verraten. Und du hattest nicht das Recht dich einzumischen!"

Noch nie hatte Raoul sie so erlebt. Niemals zuvor hatte sie etwas Derartiges zu ihm gesagt. Sie war plötzlich wie eine andere Person. Raoul erkannte sie nicht wieder. Es machte ihn wütend, dass sie ihn so behandelte. Nach allem was er getan hatte, um sie von ihrer Last zu befreien, tat sie nun so, als sei er der Schuldige.

„Wenn ich mich nicht eingemischt hätte", zischte er leise, in der Hoffnung der Kutscher würde nicht alles hören, denn dann würden die Bediensteten zweifelsohne hinter seinem Rücken zu tratschen beginnen, „dann hätte er dir sicherlich etwas angetan. Dann wärst du auch jetzt noch nicht frei."

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Gesichtszüge veränderten sich. Fast schien es, als müsse sie mit sich kämpfen, um nicht in Tränen auszubrechen.

„Es tut mir leid, Raoul.", sagte sie schließlich kleinlaut, „Vergib mir, ich..."

Raoul atmete erleichtert auf. Natürlich wusste er, dass sie nach allem was geschehen war, noch unter Schock stand. Sie hätte sonst nie so heftig reagiert und dass sie sich jetzt entschuldigte, war ein sicheres Zeichen dafür, dass sie die Erlebnisse noch nicht verarbeitet hatte. Er würde gleich nachher mit ihrem Hausarzt darüber reden. Er hatte ihm versprechen müssen, dass man sich rund um die Uhr um Christine kümmerte und ihn bei jeder noch so kleinen Veränderung rief. Dies war eindeutig eine Angelegenheit, die er mit ihm besprechen musste.

„Ich dachte, du hättest begriffen. Ich bin auch jetzt noch nicht frei. Ich werde nie von ihm befreit sein. Und niemand wird das ändern können. Nicht du, nicht Madame Giry und auch nicht irgendein Perser, der vorgibt unser Freund zu sein. Es endet niemals!"

Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging durch die Tore des Friedhofs. Allein.

Raoul starrte ihr unschlüssig hinterher, wurde sich dann der Blicke seines Kutschers bewusst und trat wütend gegen den Torpfosten des Friedhofes. Ein leiser Fluch entglitt ihm, nicht gerade etwas, das seinem Stand angemessen gewesen wäre, und schließlich ließ er sich kopfschüttelnd auf seinem Platz in der Kutsche nieder. Ungeduldig blickte er auf die Taschenuhr, die er von seinem Großvater geerbt hatte. Er gab ihr zehn Minuten, dann würde er ihr nachgehen, ob es ihr Recht war oder nicht.

Der Friedhof lag verlassen vor ihr. Nicht eine Menschenseele hatte sich hierher verirrt. Er schien sich unendlich weit zu erstrecken, umrahmt von schweren Eisengittern, bewacht von den Augen steinerner Engel. Christine zog fröstelnd das schwere Eingangstor auf, das die Ruhestätte von der Straße trennte, und betrat den Friedhof. Mit langsamen, beinahe schlurfenden Schritten ging sie weiter und sah sich ängstlich immer wieder um. Durch das wenige Licht, das durch die umliegenden Bäume auf den Friedhof fiel, erschien ihr dieser Ort noch viel gespenstischer. Sie lauschte in die Dämmerung hinein: Stille! Raoul war nicht zu sehen, was sie mit einer gewissen Genugtuung feststellte. Das sollte sie beruhigen. Aber sie zuckte dennoch bei jedem kleinen Geräusch erschrocken zusammen. Obwohl es windstill war, fror sie so stark, dass sie ihren Mantel fester zuzog als sie ihren Weg fortsetzte.

Sie kannte den Weg. Vor nicht allzu langer Zeit war sie ihn fast täglich gegangen. Sie hatte das Grab ihres Vaters besucht und dort um den Engel der Musik gebeten, den zu schicken er ihr vor seinem Tod versprochen hatte. Er sollte ihre Stimme schulen. Dann war plötzlich Eriks Stimme in ihrer Garderobe gewesen und sie hatte geglaubt, ihre Gebete seien erhört worden. Wie hätte sie damals nur wissen sollen, dass diese himmlische Stimme keinem himmlischen Wesen gehörte?

Das Grab ihres Vaters lag versteckt hinter großen Bäumen. Der Stein war von Efeu umrankt. Den ganzen Weg über hoffte Christine, dass Raoul ihr nicht folgen würde und er tat es nicht. Er war viel zu erschrocken über die Dinge die sie eben gesagt hatte. Sie entzündete die Kerze auf dem Grab und kniete sich nieder, als würde sie beten. Doch das tat sie nicht. Sie wartete. Und wirklich hörte sie nach kurzer Zeit den vertrauten Klang seiner Stimme.

„Du bist tatsächlich zurückgekommen!"

Ihr Herz machte einen freudigen Hüpfer, doch sie gestattete sich kein Lächeln. Langsam drehte sie sich und versuchte die Richtung, aus der seine Stimme kam, auszumachen.

„Du schriebst, du müsstest mich sehen.", sagte sie in die Leere hinein. Ihr Blick blieb schließlich auf den Bäumen unweit des Grabes hängen. Sie waren dicht und dunkel genug, um sich dort zu verstecken. Langsam nahm der Schatten dieser Bäume Gestalt an. Es war Erik. Im schwachen Licht, das durch die Kronen fiel, wirkte seine Gestalt noch dunkler und größer und seine Maske leuchtete so unnatürlich weiß, als wolle sie mit dem Mond, der langsam am Himmel auftauchte, konkurrieren. Sie betrachtete ihn mit unverhohlener Faszination. Es war nicht nur seine Stimme, die sie durch ihr tiefes, vertrautes Timbre schon wieder in ihren Bann zog, seine ganze Erscheinung ließ sie erschauern. Doch sie kannte sein Geheimnis. Sie wusste welche Schrecken er hinter seiner Maske verbarg, zu welchen Taten diese Stimme verleiten konnte, wenn er es wollte. Und diese Hände, mit den ungewöhnlich langen dürren Fingern, die sie schon früher eher an die Hand eines Leichnams erinnert hatten, an diesen Händen klebte Blut. Erik hatte gemordet - nicht nur einmal. Sie vertraute und hoffte darauf, dass er sein Versprechen, das er ihr einst gegeben hatte, nicht brach und dass diese Gräueltaten ein Ende hatten.

Seine Stimme hatte sie in ihren Bann gezogen und seine Stimme war es auch, die sie daraus wieder unsanft entließ und in die Wirklichkeit des Friedhofes zurückstieß.

„Ich habe nicht damit gerechnet dass du kommst."

Sie trat zögerlich auf ihn zu.

„Und was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Es ist zu gefährlich, wenn du nachts um das Haus schleichst. Die Dienstboten könnten dich sehen. Raoul könnte es!" Sie schlug die Hände vors Gesicht bei dem Gedanken daran. Die Vorstellung, Raoul könnte entdecken, dass Erik ihr noch immer auflauerte, erschütterte sie zutiefst.

Raoul… Ist er gut zu dir?" Erik verspürte den Drang, sie in den Arm zu nehmen, doch er wagte es nicht, sie zu berühren. Stattdessen lehnte er sich an einen Baum und beobachtete sie verstohlen.

Sie nickte heftig.

„Er liebt mich. Er versucht ständig mir mit irgendwelchen Dingen eine Freude zu bereiten. Ich möchte ihn nicht enttäuschen. Und ich habe das Gefühl, ich hintergehe ihn."

Erik seufzte. Als sie aufsah, entdeckte sie den goldenen Ring, den sie ihm in jener Nacht zurückgegeben hatte, an seinem kleinen Finger.

„Ihr werdet heiraten… Aber du musst dir ganz sicher sein, mein Kind. Ich möchte nicht, dass er dich unglücklich macht!"

Sie schüttelte den Kopf.

„Das tut er nicht. Er ist so gut zu mir. Und wenn ich unglücklich bin, dann sicherlich nicht wegen ihm." Sie sah sich ängstlich um, als erwarte sie, dass Raoul ihr gefolgt sei oder irgendjemand sonst sie beobachtete. „Mein Gott, es ist einfach lächerlich, dass wir uns hier treffen müssen. Zwischen all den Gräbern, nur weil ich mich hier sicher fühle. Ich werde Raoul heiraten und schon jetzt habe ich Geheimnisse wie dieses hier vor ihm!"

„Warum ist er nicht bei dir? Er hat versprochen, auf dich aufzupassen!" Erik trat auf sie zu. Immer stärker wurde das Bedürfnis, sie in seine Arme zu schließen und ihre Nähe zu genießen. Obwohl sie so dicht bei ihm stand, schien sie plötzlich unerreichbar entfernt für ihn zu sein. Beinahe wie damals, als er für sie der Engel der Musik gewesen war.

Gerade als er die hand heben wollte, drehte Christine sich plötzlich hastig zum Friedhofstor um. Ihre Augen forschten nach einer Bewegung im Schatten. Als sie nichts entdeckte, wandte sie sich wieder Erik zu. Der Moment, in dem er den Mut gehabt hätte sie zu berühren, war verflogen und sie erschien ihm wieder unendlich weit entfernt.

„Er wartetet in der Kutsche. Wir müssen uns beeilen, er wird unruhig werden, wenn ich zu lange fort bin. Warum sollte ich kommen? Du beobachtest mich jede Nacht von draußen, also siehst du mich. Warum wolltest du mich sprechen?"

Erik zögerte. Er kratzte sich am Hinterkopf während Christine erneut unruhig umhersah.

„Ich möchte nicht, dass man dich findet!", flüsterte sie.

„Deine Stimme, Christine. Ich muss sie hören. Sie ist das einzige, was mich noch am Leben hält. Willst du, dass ich dich in Ruhe lasse? Dann werde ich gehen. Aber ohne deine Nähe, ohne deine Stimme, sterbe ich. Ich möchte sehen, dass es dir gut geht und über dich wachen. Willst du dass ich gehe? Dass ich jetzt aus deinem Leben verschwinde?"

Sie antwortete nicht gleich aber als sie es tat, lag eine Entschlossenheit in ihrer Stimme, die sie selbst erstaunte.

„Nein, das will ich nicht… Aber.. Wo werde ich dich finden, wenn ich dich suche? In den Katakomben?"

Erik schüttelte den Kopf.

„Nein, es ist nicht mehr sicher dort unten. Nicht in den nächsten Wochen jedenfalls. Ich habe etwas Passendes gefunden. Ich werde zu dir kommen. Mach dir keine Sorgen, mein Kind!"

„Bitte sei vorsichtig! Ich... ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustößt... " Mit diesen Worten wandte sie sich ab und verschwand in der Dunkelheit, während Erik ihr ungläubig hinterher sah. Hatte sie das tatsächlich gerade gesagt? Oder war es wieder nur einmal Wunschdenken gewesen, hatte er nur hören wollen, dass sie es sagte? Seine Hand schloss sich in seinem Umhang und er blickte ihr nach, bis ihre zierliche Gestalt von der Dunkelheit vollkommen verschluckt wurde.

Wenn sie nur wüsste, was mit ihm geschehen war, nachdem sie gegangen war und er gedacht hatte, dass es für immer war. Nein, sie sollte es nicht wissen, sollte nie erfahren, welche neuen Abgründe er selbst entdeckt hatte, dass die Nadel, die einst seine Schmerzen von Zeit zu Zeit gelindert hatte, nun zu einem unumgänglichen Mittel geworden war, um seinen Hass auf die Menschen zu betäuben. Hass auf die, die dafür gesorgt hatten, dass er ein Leben im Untergrund führte, die ihm Christine genommen hatten und ihn auf noch andere Art und Weise grausam beraubt hatten. Die Dosen waren in den letzten Wochen rasch angewachsen und er wusste, eines Tages würde er sich trotz seines Versprechens nicht mehr beherrschen können, dann würde selbst ihre Nähe und ihr Vertrauen ihn nicht davon abhalten können noch einmal Blut zu vergießen. Seufzend wandte er sich zum Gehen.

Sie selbst hatte nie gedacht, dass sie diese Worte einmal zu Erik sagen würde. Als sie zur Kutsche zurückkam, war sie leichenblass. Raoul hatte sich gerade entschlossen, ihr nachzugehen, auch wenn er damit einen weiteren Streit riskierte, da stand sie plötzlich wieder vor ihm. Er erschrak, als er sie sah und ärgerte sich im selben Moment, dass er sie allein hatte gehen lassen und ihr nicht gefolgt war.

„Mein Engel, ist alles in Ordnung?"

Sie nickte schwach und ließ sich nun von Raoul beim Einsteigen helfen.

„Er fehlt mir so sehr!", sagte sie leise, als sie losfuhren.

Raoul lächelte mitfühlend und ergriff ihre Hand, denn er dachte damals, dass sie über ihren Vater sprach.