Kapitel 2
Schicksal mischt die Karten, und wir spielen.
Schopenhauer
Der Tag der Beerdigung brach an. Christine hatte die meiste Zeit allein in ihrem Zimmer verbracht, ganzallein. Nicht einmal Raoul hatte sie in ihrer Nähe erlaubt. Am Tag Tag der Beerdigung nun war es ihm irgendwie gelungen,sie zu einer Kutschfahrt zu überreden - wie, war ihm noch immer schleierhaft. Nachdem sie aufgebrochen war, zog er sich zurück und kleidete sich um. Er hatte seinem Kutscher den Auftrag gegeben, sie lange genug vom Château und dem Familienfriedhof fernzuhalten, um sie nichts von der Zeremonie merken zu lassen. Sie hatte in den vergangenen Tagen kaum ein Wort mit ihm gewechselt. Zuerst dachte Raoul, dass ihr der Streit noch im Kopf herumspukte und so versuchte er tagelang, sich ihr zu nähern. Ohne Erfolg. Er hatte wirklich Angst um sie, sie hatte Schreckliches erlebt und bis jetzt nicht darüber sprechen wollen. Und dann war auch noch die Tatsache, dass sie ihn beschuldigt hatte, verantwortlich für Buquets Tod zu sein. Er, der sie die ganze Zeit über nur hatte retten wollen! Beschützen vor diesem Monster, das sie aus unerklärlichen Gründen beim Namen nennen konnte. Aber wenn Raoul ehrlich war, hatte sie ihn nachdenklich gemacht. Was wäre gewesen, wenn er sich wirklich aus allem herausgehalten hätte, so wie sie ihn gebeten hatte.
„Raoul ich habe Angst es zu tun. Mir ist es, als müsste ich durchs Feuer gehen."
Er erinnerte sich so gut an die Worte, die sie sagte, als man sie bedrängte, in Faust aufzutreten, nur um Erik eine tödliche Falle zu stellen. Wäre alles gut gegangen, wäre Erik in seiner Loge erschienen, um Christine singen zu hören, die Sûréte hätte ihn endlich unschädlich machen können. Christine schien die einzige gewesen zu sein, die von Anfang an Zweifel an dem Gelingen dieses verrückten Plans hatte. Sie hatte ihn gebeten, es nicht tun zu müssen und Raoul hatte sie bedrängt.
„Wenn ich auftrete, ist alles vorbei!"
In jener Nacht hatte Raoul lange über diesen Satz nachgegrübelt. Was sollte vorbei sein und wieso hatte sie Angst davor? Man würde mit ihrer Hilfe den Mann fangen, der monatelang die Operndirektion um eine Loge und Geld erpresst hatte, der sie in sein Reich unterhalb der Oper entführt hatte und immer wieder beschwor, bei ihm zu bleiben und Raoul aufzugeben .Würde dann nichtendlich die Angst vor Erik zu Ende sein können? Mittlerweile war er jedoch zu dem Schluss gekommen, dass sie nicht diese Angst vor Erik belastet hatte.
In all den Jahren nach ihrem Tod war er sich darüber klar geworden, dass sie schon damals Angst gehabt hatte, Erik für immer zu verlieren. Wäre es ihnen damals gelungen Erik zu fassen, hätten sie ichn zweifelsohne getötet und das hätte sie nicht ertragen können. Doch sie war es, die bereits vor allen anderen ahnte, dass Erik sie zu sich holen würde, und wenn er sie dazu von der Bühne entführen musste. Und das hatte er schließlich auch getan. Hätte Raoul damals auf sie gehört und seinen verrückten Plan aufgegeben, würde dann nicht Buquet noch leben? Buquet, der sich todesmutig in den Weg stellte, um Erik den Zugang zur Bühne zu versperren? Hätte die Polizei ihn gefasst? Wäre diese schreckliche Nacht damals wirklich passiert? Oder hätte sie Erik mit der Zeit allein begreiflich machen können, dass sie Raoul liebte? Was wäre wenn er sich nie eingemischt hätte? Und Christine hatte ihn angefleht... Sie hatte solche Angst gehabt, aufzutreten an diesem Abend und Raoul fragte sich, was in ihn gefahren war, diese Bitten, diese Angst in ihren Augen zu ignorieren.
„Ich fürchte mich jetzt vor dem, was ich mir einst so gewünscht habe. Er wird mich finden und in seine Dunkelheit entführen. Raoul, es wird nie vorbei sein und es wird ihn immer geben."
Ja, er hatte ihre Angst ignoriert... und er war unfähig gewesen, ihre geheime Sehnsucht dahinter zu erkennen Und beides, ihre Ahnungen und ihre Gefühle für Erik, hatten ihn nur viel zu bald wieder eingeholt.
Im Hof hörte er das Knirschen von Wagenrädern auf Kies und er warf hastig einen Blick nach draußen. Eine Equipage mit dem Familienwappen der Chagny. Sie waren zu früh, aber das sollte ihn nicht stören. Besser, sie kamen schon jetzt, dann wäre die Beerdigung rechtzeitig zu Ende und Christine würde tatsächlich nichts davon merken. Er musste sie beschützen Irgendwann, wenn es ihr besser ging, würde er ihr erzählen, dass Phillipe nicht verreist war, sondern in den Katakomben unterhalb der Oper sein Leben gelassen hatte. Doch jetzt fühlte er sich nicht in der Lage ihr das zu erzählen. Und der Arzt hatte ihm geraten, nach wie vor jegliche Aufregung von ihr fernzuhalten wenn er nicht beabsichtigte, sie vollkommen um den Verstand zu bringen.
Er zuckte mit den Schultern und griff nach dem schwarzen Mantel, bevor er sein Zimmer verlies und die Treppen nach unten eilte. Die beiden Frauen, die eingetreten waren, musterten ihn interessiert, beinahe mütterlich, als er völlig außer Atem zum Stehen kam. Obwohl sie sich schon seit über einem Jahr nicht mehr gesehen hatten, konnten sie sich zu keiner herzlichen Begrüßung hinreißen, wie es unter Geschwistern üblich gewesen wäre. Amélie war es, die sich als erstes rührte und auf ihren Bruder zutrat. Sie umarmte ihn steif und küsste seine Wange, betrachtete ihn dann von oben bis unten und zog skeptisch die Augenbrauen hoch.
„Raoul, mon petit, schön dich wiederzusehen. Ich wünschte nur, es wären erfreulichere Umstände, die uns zusammenbringen würden!", seufzte sie und begann seinen Mantel zu richten, so wie sie es schon getan hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Raoul wehrte sie nur schwach ab und wandte sich seiner ältesten Schwester zu, die ihn mit ernstem Blick beobachtete.
„Und wo ist sie?", fragte sie und sparte sich jegliche Begrüßungsfloskel. Raoul runzelte die Stirn, trat auf Hélène zu und küsste ihre Wange. Ihm war der scharfe Unterton in ihrer Stimme nicht entgangen.
„Sie weiß nichts davon. Ich hielt es für besser, es ihr später zu erzählen. Sie ist noch zu krank. Ich habe sie mit meinem Kutscher fortgeschickt.", erklärte er leise, bot seinen Schwestern den Arm an und führte sie nach draußen. Während sie den Weg zum Friedhof langsam nebeneinander hergingen, hatte Raoul Zeit, die beiden zu betrachten. Ohne Frage, man konnte ihnen schon von weitem ansehen, dass sie von höherem Stand waren. Beide trugen Kleider der letzten Pariser Mode, dazu Hochsteckfrisuren, für die das Mädchen sicherlich Stunden aufgewandt hatte. Beide sahen ihm etwas zu modisch aus, als dass sie auf eine Beerdigung gehen würden. Amélie war die kleinere und jüngere der beiden Schwestern. Phillipe hatte oft erwähnt dass sie das Ebenbild ihrer Mutter sei. Die Comtesse war bei Raouls Geburt gestorben und so kannte er sie nur von dem Portrait, dass in der Ahnengalerie zu finden war. Verglich er Amélie nun mit diesem, musste er Phillipe Recht geben. Ihr schmales, kantiges Gesicht verschwand beinahe gänzlich im Schatten des Hutes, den sie trug und sie wirkte älter als sie eigentlich war. Hélène war groß gewachsen, etwas kräftiger und die einzige der Chagny-Linie, die dunkles Haar hatte. Mit dem schwarzen Schleier erinnerte sie Raoul nun auf seltsame Weise an seine einstige Gouvernante. Er schüttelte den Gedanken ab.
„Sag, beherrbergst du sie noch immer unter deinem Dach?", erkundigte Hélène sich schließlich spitz. Raoul missfiel ihr Tonfall, aber der kleine Junge in ihm weigerte sich, sich ihr zu widersetzen und ebenso scharf zu antworten. So nickte er steif und wandte den Blick auf den steinigen Weg, beschämt wie früher wenn sie ihn für einen Streich getadelt hatte.
„Natürlich. Ich kann Christine unmöglich allein in ihre Wohnung zurückkehren lassen. Sie ist krank und der Arzt meint, man muss sich um sie kümmern!", erklärte er kleinlaut.
Eine seltsame Erinnerung stieg in diesem Augenblick in ihm auf. Als kleiner Junge hatte er einmal einen jungen Sperling gefunden, der aus dem Nest gefallen war. Der Kutscher hatte ihm erklärt, dass der Vogel mit ein wenig Pflege überleben könnte und Raoul hatte damals voller Stolz verkündet dass er persönlich dafür sorgen würde. Hélène war es gewesen, die das zu verhindern wusste. Sie weigerte sich das ‚schmutzige, kranke Ding' im Schloss aufzunehmen, nicht einmal in den Stallungen wollte sie, dass Raoul sich darum kümmerte. Er habe wichtigere Dinge zu tun, hatte sie gesagt. Wichtigere Dinge waren für sie unter anderem das Lernen der Ahnengalerie gewesen. Selbst Raouls Flehen hatte sie nicht erweichen können. „Es schickt sich nicht für einen von deinem gesellschaftlichen Stand, sich um kranke Tiere zu kümmern, als seist du ein Bürgerlicher, Raoul!" Der Sperling war gestorben.
Raoul blinzelte und schüttelte den Kopf. Dieses Mal würde er nicht zulassen, dass Hélène entschied, wem er zu helfen hatte oder nicht.
„Raoul", warf nun Amélie zaghaft ein, „Es ist sicherlich löblich, dass du dich um diese kranke Frau kümmerst. Ich verstehe auch, dass du dich ihr in irgendeiner Weise verbunden fühlst, aber…"
„Aber was?", entfuhr es Raoul aufgebracht, „Ich fühle mich ihr nicht in irgendeiner Weiseverbunden – Ich liebe sie!"
Amélie seufzte tief und warf ihrer Schwester einen Hilfe suchenden Blick zu. Diese räusperte sich und sah Raoul eindringlich an.
„Hör zu Raoul, du klammerst dich an eine alte Kinderfreundschaft. Du weißt, dass es schon damals nicht vernünftig war, dich mit einem Bauern und seinem Kind abzugeben…"
„Musiker", unterbrach Raoul sie gereizt.
Hélène runzelte die Stirn und schüttelte verwirrt den Kopf.
„Was?"
„Christines Vater war Musiker – Geiger.", korrigierte sie Raoul aufgeregt, „Das wisst ihr doch. Er hat mich damals Geigespielen gelehrt!"
„Noch so etwas!", versetzte Hélène in Rage, „Geigespielen. Du hattest einen guten Klavierlehrer und hast dich nie für Musik interessiert bis sie dir über den Weg gelaufen ist.Raoul, es wird langsam Zeit, dass du erwachsen wirst. Du musst einsehen, dass du diese kleine Sängerin vergessen musst!"
„Vergessen? Ich weiß nicht, ob du meine Briefe nicht erhalten hast, ma soeur, aber wir sind verlobt. Ich werde Christine heiraten!" stieß Raoul hervor und trat wütend einen Kieselstein vor sich her. Er spürte dass Amélie seine Hand beruhigend drückte und rief sich zur Ruhe.
„Raoul, sie hat Recht.", sagte Amélie zu seiner Linken leise, „Das mit dieser Sängerin, das muss aufhören. Wenn sie ein vernünftiges, junges Mädchen ist, dann wird sie das verstehen. Sie kann dich nicht heiraten."
„Warum nicht? Mein Gott, es gibt niemanden, der mir vorschreiben kann, wen ich lieben soll. Und Phillipe selbst hat es aufgegeben, mich mit einer Adligen zu verkuppeln. Ich bin alt genug, um selbst entscheiden zu können, wie meine Zukunft aussehen wird!"
„Offenbar nicht!" unterbrach ihn Hélène barsch, „Raoul, du wirst diese Frau nicht heiraten. Phillipe selbst war dagegen. Jemand wie sie hat kein aufrichtiges Interesse an dir... nur an deinem Geld. Es hätte ernsthafte Konsequenzen, wenn du sie heiratest."
„Drohst du mir?", rief Raoul aus und blieb stehen. Er stemmte die Hand in die Seite und sah seine älteste Schwester herausfordernd an. Sie schüttelte den Kopf als müsse sie mit einem kleinen, uneinsichtigen Kind, über seine Fehler diskutieren.
„Wenn es sein muss, ja, Raoul", seufzte sie schließlich ohne seinem Blick auszuweichen, „Wenn du sie heiratest leidet nicht nur dein Ruf, sondern der Ruf unserer ganzen Familie darunter. Wir sind eine der ältesten und angesehensten Familien in ganz Frankreich. Und du könntest jede Frau haben. Was meinst du, was geschieht, wenn du nun eine Bürgerliche heiratest? Man wird unseren Namen durch den Schmutz ziehen. Ich kann das einfach nicht zulassen."
„Und sie hätte nichts davon, Raoul", fuhr nun Amélie fort und sah ihn flehend an, „Sieh einmal, wenn sie dich nun tatsächlich heiraten würde, hätte sie nicht einmal ein Anrecht auf den Titel Comtesse und eure Kinder hätten es auch nicht. Sie wird immer die kleine Bürgerliche bleiben."
„Umso besser. Wenn sie mich dennoch heiratet, dann kann ich mir sicher sein, dass sie mich wirklich liebt!"
„Raoul, sei doch nicht so töricht!" stieß Hélène wütend aus und ging die letzten Schritte zu dem frisch ausgehobenen Grab, an dessen Seite die Kutsche bereits mit dem Sarg stand. „Wenn du sie heiratest, dann bleibt uns keine andere Wahl als uns öffentlich von dir zu distanzieren. Willst du wirklich deine Familie aufgeben um eine solch dumme Ehe zu führen?"
Raoul zuckte mit den Schultern, trat an das Grab und warf Amélie einen Blick zu, die nun zu ihnen ging und neben Raoul zum Stehen kam. Ihre großen blauen Augen blickten ihn flehend an.
„Bitte Raoul, denk doch einmal nach. Wenn du es nicht für uns tust, dann doch für Phillipe! Du weißt genau, er hat so gedacht wie Hélène und ich. Und es würde mir sehr weh tun, noch einen Bruder zu verlieren!"
Es schmerzte Raoul sie so zu sehen, Er wandte sich ihr ganz zu, drehte bewusst Hélène den Rücken zu und umfasste beide Schultern von Amélie.
„Es würde mir auch wehtun dich – euch - zu verlieren. Aber Christine noch einmal gehen zu lassen… nein. Nein, ich werde sie heiraten, wenn sie mich noch will. Auch wenn das bedeutet, dass ich dann keine Familie mehr haben werde!"
Der Priester erschien und die Sargträger hoben den Sarg aus der Kutsche. Raoul wandte sich von Amélie ab, der nun Tränen über die Wangen liefen. Dieses Mal würde ihn niemand zwingen etwas zu tun, was er nicht wollte. Wie konnten sie sich erdreisten über Christine zu urteilen, die sie nicht einmal kannten? Ihm war klar, was er durch diese Hochzeit riskieren würde, er hatte es immer gewusst, aber vielleicht hatte ihn dieses Gespräch mit seinen Schwestern erst vollkommen sicher gemacht, dass er Christine genug sehr liebte, um all das aufzugeben, was seiner Familie am Herzen gelegen hatte.
