Kapitel 3
Aaec allis, ut, dum dicis, audias ipse.
(Sage dies anderen, damit du, während du sprichst, es selber hörst)
Seneca
„Du denkst also, es ist notwendig mir ein Kindermädchen zuzuteilen, damit ich keine Dummheiten mache?", fuhr sie auf. Ihre dunklen Augen blitzten zornig. Raoul erschrak über ihre erneut heftige Reaktion auf seine gut gemeinte Fürsorglichkeit. Was hatte er nun wieder falsch gemacht? Er hatte ihr doch nur mitgeteilt, dass es Schwierigkeiten bei der Verlegung der Gasleitungen im Jagdschloss gab. Er musste sich dringend darum kümmern, da Phillipes Aufgaben ja nun auf ihn zurückfielen. Das Schloss lag am Rand von Paris und Raoul versprach sich dort nicht nur eine kleine Ablenkung von den Geschehnissen der vergangenen Wochen sondern auch ein neues Heim, in das er mit Christine ziehen wollte, sobald sie nur verheiratet waren.
„Nein, mein Liebling", lenkte er ein, „Ich mache mir nur einfach Sorgen, ob du ohne mich zurechtkommst. Sicherlich brauchst du keine Hilfe, aber nach allem was in den letzten Wochen geschehen ist, ist es mir unangenehm, dich so allein zu sehen. Wenn du schon nicht willst, dass ich dir helfe, dachte ich, Meg würde dir gut tun…" Er zögerte und brach dann ganz ab. Sie hatte den Blick wieder nach draußen gewandt. Beinahe regungslos saß sie in ihrem Sessel. Nur von Zeit zu Zeit hob und senkte sich ihre Brust kaum merklich. Er biss sich auf die Unterlippe. Wie sehr hatte er doch gehofft, Meg würde sie aus ihrer Lethargie reißen, die beste Freundin, der sie sich voll und ganz anvertrauen konnte. Scheinbar hatte er wieder einmal das Falsche getan.
Er beobachtete sie einen Augenblick und seufzte dann tief, in der Hoffnung, sie würde es bemerken und ihn endlich wieder ansehen. Nichts geschah. Dann wandte sie sich plötzlich doch an ihn. In ihren Augen lag eine tiefe Entschlossenheit.
„Du solltest fahren, Raoul. So schnell wie möglich. Es macht keinen guten Eindruck, wenn du zu spät kommst... Und wenn Meg sowieso schon hier ist, kann sie genauso gut auch zu mir kommen und sich mit mir unterhalten…" Sie sprach nicht weiter und so küsste er sie flüchtig auf die Stirn, wandte sich ab und öffnete die Tür. Sie rief ihn nicht einmal jetzt zurück, um sich von ihm zu verabschieden. Kein Wort kam über ihre bleichen Lippen. Er hätte vor Verzweiflung am liebsten laut aufgeschrieen. Sein Blick fiel auf Meg, die vor der Tür auf ihn gewartet hatte. Sie sah ihn erwartend an und er nickte. Vielleicht würde Christine ihr gegenüber offener sein, wenn sie nun schon mit ihm nicht über die Dinge reden konnte, die ihr im Kopf herumspukten. Mit einem hilflosen Kopfschütteln wandte er sich ab und schlurfte die Treppen nach unten. Christine hatte nicht einmal auf seinen Kuss reagiert.
Auf dem Kiesweg des Hofes stand die Kutsche, die er hatte richten lassen. Wenn sie nicht an diesem Ort glücklich sein konnten, warum dann nicht in dem kleineren Jagdschloss? Weit genug entfernt von der Oper und den Geistern der Vergangenheit. Ein Schlösschen im Grünen, wo sie vergessen könnte.
Sein Blick schweifte ab zu ihrem Fenster. Er hoffte, wenigstens ihre Hand dort zum Abschied winken zu sehen, nur als kleines Zeichen, dass er ihr nicht vollkommen gleichgültig war. Nichts geschah. Er wartete einige Sekunden und stieg dann in die Kutsche, wo er zum ersten Mal, ungesehen von Bediensteten oder gar ihr, bittere Tränen über ihre kühle Zurückhaltung vergießen konnte. Ein Ortswechsel wäre wohl wirklich das Beste für sie beide.
Meg sah Raoul einen Moment unsicher nach, beobachtete, wie er mit leichten Schritten die Treppe herabstieg und scheinbar völlig in Gedanken versunken war. Nach allem, was er ihr erzählt hatte, fürchtete sie den Augenblick, Christine wiederzutreffen. Es war einige Zeit vergangen, seit sie die Freundin zuletzt gesehen hatte und sie konnte nicht verleugnen, dass sie diese Zeit gebraucht hatte, um wieder zur Ruhe zu kommen. Zu viel war geschehen.
Als Meg zögerlich eintrat und die Tür hinter sich schloss, drehte sich Christine zum ersten Mal vom Fenster weg und lächelte. Meg sah blass aus, als hätte sie eine lange Zeit nicht mehr geschlafen. Unter ihren grau-blauen Augen hatten sich Ringe gebildet, die beinahe schwarz waren. Ihr honigblondes Haar war wie gewöhnlich zu einem engen Knoten zusammengebunden. Christine fragte sich nicht zum ersten Mal, ob es Meg nicht viel besser stehen würde, wenn sie ihr Haar offen trug. Natürlich war das für eine Ballerina sehr unpraktisch.
„Hat Raoul dich aus der Oper kommen lassen?" Meg nickte. Christines Stimme klang tonlos und kühl, als sei jegliches Gefühl aus ihr gewichen. Was hatte man ihr nur angetan?
Christine seufzte. „Er hat es also tatsächlich gewagt, deine Privatstunden zu unterbrechen!"
Meg nahm ihre Freundin in die Arme und zog sie an sich.
„Ist nicht tragisch. Wirklich nicht!", flüsterte sie und fuhr liebevoll durch die dunklen Locken der Freundin. Christine schloss die Augen. Wie sehr hatte sie sich doch wirklich nach der Freundin gesehnt. Das war etwas, das sie jedoch vor Raoul nie zugeben würde, hatte sie sich doch noch vor wenigen Minuten deswegen aufgeregt.
Meg war es gewesen, die immer zu ihr gehalten hatte, schon vom ersten Tag an. Vielleicht hatte sie einfach nur das Gefühl gehabt, Christine sei schwach und müsse von jemandem beschützt werden. Jedenfalls tat es unglaublich gut, dass sie nun wieder für sie da war, wie vor drei Jahren, beim Tod ihres Vaters. Schreckliche Erinnerungen waren das. Bilder an den Abend tauchten vor ihren Augen auf, an dem sie ihren Vertrag als Mitglied des Chores und stolz ihrem Vater zeigen wollte. Sein ganzes Leben lang hatte er davon geträumt, seine einzige Tochter auf der Bühne der Pariser Oper stehen zu sehen. Er sollte es nie erleben. Vater Daaé starb an jenem Tag, an dem Christine in die Oper eintrat. Von diesem Tag an schien sie jegliches Gefühl verloren zu haben. Ihre früher so klare Stimme klang nun leblos, ja fast kalt. Man hätte meinen können ihr ganzer Kummer läge wie eine Kette um ihre Stimmbänder. In dieser Zeit war Meg schon für sie da gewesen und sie hatte beinahe ganz vergessen, wie wichtig die Freundin doch immer für sie gewesen war. Eine Verbündete, eine Beschützerin. Meg drückte sie mit sanfter Gewalt ein Stück von sich und betrachtete sie prüfend.
„Was ist los, Christine… Nein, erzähl mir nicht, was du Raoul erzählst, oder den anderen. Du kannst mir nichts vormachen!"
Christine löste sich von Meg und stand auf. Ihr Körper war schwer und sie fühlte sich leer und kraftlos. Sie lachte leise.
„Nein, das kann ich wohl nicht. Vielleicht kennst du mich besser als alle anderen."
Megs Blick wurde ernst und sie schüttelte so heftig den Kopf, dass einige blonde Strähnen sich aus dem Knoten lösten und ihr eigensinnig ins Gesicht fielen. Mit einer mechanisch wirkenden Handbewegung strich sie sich die Strähnen hinters Ohr.
„Weich mir nicht aus. Ich weiß, was geschehen ist in jener Nacht. Was wirklich geschah. Christine, ich war dort unten!"
Christine betrachtete sie aufmerksam. Das hatte sie nicht gewusst. Sie hatte eigentlich gar nichts gewusst von dem, was geschehen war, nachdem sie und Raoul die Katakomben verlassen hatten. Sie umfasste Megs Hände, die eiskalt waren und sah sie mit glänzenden Augen an.
„Du warst dort? Bitte Meg, du musst mir erzählen, was dort unten geschehen ist. Alles, was dort unten geschehen ist!", flehte sie.
Meg zögerte sichtlich, als habe sie Angst weiterzureden. Erst, als sie Christines Blick fing, schien sie sich zu entschließen, auf ihr Flehen einzugehen.
„Ich sah, wie du mit Raoul davongerudert bist. Ich war die erste, die in den Kellergewölben das Reich des Phantoms betreten hat. Und ich habe den Perser getroffen, der mich bat, ich solle die Menschen aufhalten. Christine, ich weiß nicht warum ich es tat, aber in dieser Nacht habe ich diesem Phantom zur Flucht verholfen. Ich weiß, es ist unverantwortlich, nach allem was er euch angetan hat, aber Mutter hat mich so erzogen dass meiner Meinung nach kein Mensch den Tod verdient hat, wenn Gott es nicht bestimmt. Verzeih mir bitte!"
Christine konnte nicht anders und nahm die Freundin, der Tränen in den Augen standen, in den Arm. Wahrscheinlich hatte Meg zum ersten Mal mit jemandem über diese Erlebnisse gesprochen.
„Oh Meg! Nein, ich muss dir nicht verzeihen. Ich muss dir danken, dass du Erik den Tod erspart hast. Die Stunden, in denen ich glauben musste, man hätte ihn getötet, dachte ich, ich könnte auch nicht überleben." Plötzlich ließ sie sich mit einem eigenartig zufriedenen Lächeln in ihren Sessel zurückgleiten und ihre Augen blitzten Meg glücklich an.
„Nun möchte ich dir auch etwas erzählen. Aber versprich mir, dass du niemandem etwas sagst… auch nicht Raoul! Vor allem nicht ihm!" Sie wartete nur einen Sekundenbruchteil, bevor sie fortfuhr: „Es war vielleicht eine Woche, nachdem wir aus den Katakomben zurückgekehrt waren. Ich stand wie seitdem wohl jeden Abend dort" – sie deutete mit ihrem schmalen Zeigefinger auf die Brüstung des Balkons – „und sah in den Garten. Und plötzlich erkannte ich seinen Schatten. Ich wusste im gleichen Augenblick, in dem ich den Schatten zum ersten Mal sah, dass er es sein musste, dass man ihn nicht getötet hatte. Er stand einfach bei dem alten Eichenbaum, in den Raoul als kleiner Junge seinen Namen geritzt hat, und blickte zu mir auf. Mein Herz jubelte und gleichzeitig wurde mir bewusst, wie gefährlich es für ihn gewesen sein musste, in diesen Zeiten zu mir zu kommen. Ich hatte Angst ihn zu verraten und ging zurück in mein Zimmer, um das Licht zu löschen, das in den Garten fiel. Als ich zurück auf den Balkon trat, war er verschwunden und ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet. Aber am nächsten Abend stand er wieder unter meinem Balkon und sah zu mir auf. Er tat es von da an jeden Abend, ohne etwas zu sagen. Dann erschien er plötzlich nicht mehr, aber ich fand auf meinem Balkon eine Nachricht von ihm. Gott weiß, wie er dorthin gelangt ist. In der Nachricht stand nur, dass er mich sehen müsse, an Vaters Grab. Ich verbarg den Brief vor Raoul und den Bediensteten und verbrannte ihn am nächsten Morgen, als das Mädchen das Feuer im Kamin entzündete. Und er wartete tatsächlich am Grab meines Vaters auf mich. Er hat mir das Leben gerettet. Wäre er nicht mehr aufgetaucht, hätte ich sicherlich den Verstand verloren."
Meg, die diese Beichte erschütterte, versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen. Nun glaubte sie verstanden zu haben, warum Christine Tag für Tag nur in ihrem Zimmer auf dem Sessel am Fenster saß und nach draußen blickte. Sie hoffte offenbar nur darauf, Erik zu sehen. Nervös biss sie auf ihre Unterlippe.
„Das ist es, was Raoul befürchtet. Er muss Tag für Tag ansehen, wie du dich immer weiter zurückziehst. Er macht sich Sorgen um dich. Ich nehme nicht an, dass du ihm erzählt hast, dass dieser Erik wieder aufgetaucht ist?"
Christine schüttelte den Kopf.
„Ich weiß, dass er sich Gedanken macht um mich. Aber jetzt wo Erik in meiner Nähe ist, weiß ich nicht mehr, ob ich noch mit Raoul zusammensein kann. Vielleicht sollte ich mich jetzt doch für Erik entscheiden."
Meg sprang auf und sah Christine entsetzt an. Sie legte ihr eine Hand auf die Schulter und sagte sehr leise und eindringlich: „Das wäre sein Tod. Du würdest ihn verraten, wenn du dich nun gegen Raoul entscheidest. Christine, die Polizei hat ihre Untersuchungen abgeschlossen. Offiziell ist Joseph Buquet für alles verantwortlich, für die Erpressungen und den Fall des Kronleuchters. Dann hat er sich in seiner Verzweiflung erhangen. Nun sieh mich nicht so an... Es ist besser, wenn die Polizei so etwas denkt. Dann suchen sie nicht weiter. Alles hat momentan eine schlüssige Erklärung. Wenn du nun zu Erik stehst und Raoul wegen ihm verlässt, werden sie wieder nach ihm suchen. Egal, ob du Raoul gegenüber zugibst, dass Erik noch lebt oder nicht. Was hat Erik dir damals gesagt? Doch sicher nicht, dass du zu ihm zurückkommen sollst, nachdem er selbst es war, er dich mit Raoul fortgeschickt hat! Und ausgerechnet du willst dich ihm jetzt widersetzen? Jeder würde wissen dass Erik noch lebt und dass er für die Unfälle und Morde verantwortlich war."
„Morde?"
„Carolus Fonta, Joseph Buquet und Raouls Bruder." Christines Gesichtsausdruck verriet Meg, dass sie scheinbar keine Ahnung gehabt hatte. Sofort breitete sich das lähmende Gefühl von schlechtem Gewissen aus.
„Hat Raoul nicht davon gesprochen? Oh - ich und mein loses Mundwerk! Mutter würde mir den Hals umdrehen…"
„Was ist mit Phillipe?", unterbrach sie Christine barsch. Jede Freundlichkeit war wieder aus ihrem Gesicht verschwunden und wieder war es zu einer starren weißen Maske geworden, die Meg ängstigte.
„Man hat einen Tag nach den Vorfällen im Keller eine männliche Leiche am Ufer des unterirdischen Sees gefunden. Sie trug den Siegelring der Chagny. Raoul hat ihn identifiziert und wollte ihn auf dem Familienfriedhof beisetzen. Hast du nichts davon in der Zeitung gelesen?"
„Ich lese keine Zeitung mehr. Ich hatte Angst, man würde von Erik berichten.", Christine stand auf und ging mit langsamen Schritten zum Kleiderschrank. legte ihren schwarzen Umhang an und gab Meg ein Zeichen ihr zu folgen. Meg gefiel die Freundin nicht. So schwarz gekleidet… das war sie zuletzt gewesen, als ihr Vater gestorben war. Danach hatte Christine fast drei Jahre schwarz getragen. Bis ihr plötzlich eines Tages der Engel der Musik erschienen war.
Christine hatte Meg erzählt, dass ihr Vater ihr einst ein Märchen erzählt hatte. Dabei ging es um ein Mädchen, dem nachts einer von Gottes Engeln erschien und sie das Singen lehrte. Und durch diesen Engel der Musik wurde das Mädchen zu einer der größten Sängerinnen des Landes. Vater Daaé hatte seiner Tochter versprochen, sollte er sterben, würde er ihr aus dem Himmel diesen Engel schicken. Als Christine ihr dann erzählte, dass sie die Stimme von diesem Engel in ihrer Garderobe gehört hatte, strahlte sie dabei ein Glück aus, das Meg noch nie zuvor gesehen hatte. Zugleich tauchte auch Christines Jugendfreund Raoul wieder auf, den sie vor Jahren aus den Augen verloren hatte und Meg dachte, dass die Abwärtsspirale der Freundin nun beendet war. Jetzt wirkte sie jedoch fast wie damals.
Sie durchquerten den Garten und erreichten den Familienfriedhof, als es bereits dämmerte. Raoul würde sicherlich bald zurück sein.
Auf dem Friedhof waren seit Generationen Mitglieder der Chagny-Familie beerdigt worden und es gab eigens einen Gärtner, der nur für die Pflege dieser Gräber zuständig war. Jedenfalls hatte Raoul Christine das einmal voller Stolz erzählt. Sie hingegen fand das ein wenig seltsam, da sie sich persönlich um das Grab ihres Vaters kümmerte.
Vor einem sehr frischen Grab, nur wenige Tage alt, was man unschwer an dem Erdhügel erkennen konnte, blieben sie stehen.
„Deshalb hat er mich also mit der Kutsche fortgeschickt… Dabei kannte ich Phillipe nicht einmal richtig. Er war immer so streng und unnahbar. Das hat mir immer Angst gemacht. Ich mochte ihn nicht, vielleicht hätte ich ihn besser kennen müssen...", stammelte Christine.
Meg räusperte sich und sah die Freundin ernst an.
„Darf ich dich etwas fragen? Raoul erzählte mir, dass du keine Spiegel mehr ertragen kannst. Was hat es damit auf sich?"
Christine zuckte hilflos mit den Schultern und wandte den Blick auf die beinahe trockenen Blumen auf dem Grab.
„Als ich nicht wusste, dass Erik noch lebte, konnte ich keine Spiegel in meiner Nähe haben. Raoul hat vermutet, dass ich Angst habe, Erik könnte dadurch wieder erscheinen, aber es war genau das Gegenteil. Ich ertrug den Gedanken nicht, dass Erik durch keinen dieser Spiegel zu mir zurückkommen würde… Und jedes Mal wenn ich mich in ihnen sah, kam ich mir wie eine erbärmliche Lügnerin vor, die ihre wahren Gefühle vor allen geheim hält."
Meg wollte einen Arm um sie legen, als ihr hinter den Büschen eine Gestalt auffiel. Sie drückte Christines Hand etwas fester als beabsichtigt. Auch Christine hatte den Schatten bemerkt, der sich ihnen mit langsamen, beinahe schwebenden Schritten, näherte. Meg erbleichte.
„Ist er das?"
Christine nickte. Was veranlasste Erik nur, schon wieder auf Raouls Grund und Boden aufzutauchen? Es war mehr als gefährlich. Sie hatte gedacht, er wäre nicht so leichtsinnig, noch einmal das Risiko einzugehen, entdeckt zu werden. Sie wandte den Blick ab und griff beide Hände der Freundin.
„Meg, würdest du bitte gehen? Und versprich mir, Raoul nichts davon zu erzählen. Er darf nichts von Erik erfahren! Keinesfalls!" Meg überraschte Christines beschwörender Tonfall, aber schließlich hatte sie auch nicht vorgehabt, ihre Freundin zu hintergehen.
„Ich schwöre es bei meinem Leben!" Sie küsste flüchtig Christines Wange und verschwand dann im Halbdunkel. Hinter den Büschen erklang ein gedämpftes Lachen. Kurz darauf erschien Eriks hochgewachsene Gestalt.
„Die kleine Giry. Ich hätte ihr wohl danken müssen…Schön, dass sie sich noch immer um dich sorgt!"
Christine sah ihn an. Er wirkte wirklich fröhlich. Seine Worte klangen, als wäre jedes einzelne von ihnen Musik. Tatsächlich erstaunte sie seine Art, die sie nicht von ihm gewöhnt war.
„Du hast Phillipe de Chagny getötet!", sagte sie ohne Umschweife. Sie ließ ihre Stimme etwas härter und schärfer als nötig klingen, nur um ihm zu zeigen, wie sehr er sie damit verletzt hatte. Er machte nicht einmal den Versuch ihr zu widersprechen und nickte. Nur ein Nicken, kein Wort des Bedauerns, kein ‚Verzeih mir bitte. Ich wollte mein Versprechen an dich nicht brechen.' Wenn er sich doch wenigstens versuchen würde zu verteidigen. Alles wäre besser, als dieses Schweigen.
„Warum, Erik? Hattest du mir nicht versprochen, nie wieder zu töten? Hattest du es nicht auch dem Daroga versprochen?" Ihre Stimme war leise und voller Vorwürfe. Es versetzte ihm einen Stich sie so enttäuscht zu haben.
„Es galt mich zu schützen. Und mein Reich. In dieser Nacht sind zu viele Menschen hinter mein Geheimnis gekommen, zu viele betraten mein Reich. Sie zerstörten es… Phillipe de Chagny hätte nie so leicht aufgegeben wie sein Bruder…"
Christine verzog das Gesicht. Wenigstens sprach er nun mit ihr. Fast so grausam wie die Macht seiner Stimme war sein Schweigen. Ihn einfach nur zu sehen und nicht hören zu können. Seine Worte riefen die Wut wieder hervor, die sie bei Meg gerade noch unter Kontrolle hatte. Warum nur hatte Raoul sie hintergangen? Sie biss sich wütend auf die Lippen und platzte schließlich leise mit dem heraus, was auf ihrer Zunge brannte.
„Raoul hat mir nicht einmal davon erzählt!" Sie deutete mit dem Zeigefinger auf das frische Grab.
„Ich nehme an, er wollte dich schonen…" Seltsam diese Worte ausgerechnet aus Eriks Mund zu hören. Er betrachtete sie missbilligend.
„Bitte hör auf, auf deinen Lippen herumzukauen, du machst mich ganz nervös! Du weißt ganz genau, dass ich es nicht ertrage, wenn du das tust!"
Beschämt sah sie zu Boden, befeuchtete ihre spröden Lippen mit der Zunge und blickte ihn dann störrisch an.
„Er hätte es mir erzählen müssen. Wie kann ich ihn heiraten, wenn er schon jetzt Geheimnisse wie dieses vor mir hat!"
Er lachte dieses seltsam melodische Lachen, das gleichzeitig wie das Läuten zahlreicher kleiner Metallglöckchen und doch dröhnend wie ein Bass klang.
„Oh Christine, verheimlichst du ihm nicht auch etwas sehr wichtiges?"
Sie wollte ihm etwas entgegnen, brach dann jedoch ab und sah ihn eine Weile an. Er sprach wieder zu ihr, als sei er ihr Vater. Wieso verteidigte er Raoul, den er hassen sollte? Wieso hatte er Recht? Sie hasste es, wenn er mit Dingen, die sie ärgerten, Recht hatte. Sie entschied, dass eine Antwort wenig sinnvoll wäre.
„Wo lebst du?"
Unter seiner Maske lächelte er. Sie wechselte also wieder das Thema. Das tat sie grundsätzlich, seit er sie kannte. Und es amüsierte ihn. Normalerweise hätte er nun auf dem alten Thema beharrt, nur um zu sehen wie sie sich eine Weile wand, um die richtigen Gegenargumente zu finden, die er dann wie Seifenblasen platzen ließ. Ach, wie er diese Spiele liebte. Nein, heute beließ er es dabei. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihnen bleiben würde. Es hatte schon zu dunkeln begonnen, vielleicht müsste er bald den Rückzug antreten.
„Ich werde bald ganz in deiner Nähe sein. Tag und Nacht für dich da sein können, wenn du mich brauchst…"
„Das Jagdschloss?", entfuhr es ihr. Er nickte.
„Ich habe mein Reich unterhalb der Oper entworfen und Architekten und Bauarbeiter sind so bestechlich. Dieses Jagdschloss wird nach meinen Entwürfen umgebaut und ich habe in dem kleinen Haus nebenan ein neues Zuhause gefunden."
„Du bist verrückt!"
„Nein! Verstehst du nicht, wenn wir nicht anders zusammensein können, ist das die sicherste Möglichkeit. Keine Folterkammer, keine Fallen. Aus deinem Zimmer wirst du immer auf mein neues Zuhause blicken können und mich jederzeit sehen, wenn du das wünschst."
Christine, die nicht wusste, ob sie sich nun freuen sollte, kam nun wirklich zu dem Schluss, dass Erik über ihren Verlust und dem Verlust des einzigen Zuhauses, das er jemals hatte, den Verstand verloren hatte.
Raouls Stimme riss sie aus ihrer Erstarrung. Er schien schon mehrmals ihren Namen gerufen zu haben und seine Stimme wurde von Mal zu Mal lauter als er rief.
„Schnell, du musst gehen, er darf dich nicht finden!"
Erik war bereits verschwunden, als sie die Worte aussprach und wenige Sekunden später stand Raoul an ihrer Seite.
„Ich habe nach dir gesucht. Du weißt es also…" Er deutete auf das Grab seines Bruders.
Sie nickte steif. Jetzt wo sie wirklich wusste, dass Erik noch ganz in ihrer Nähe war, war sie zu keinerlei Zärtlichkeiten fähig und wich Raouls Armen aus. Dieser deutete ihre Ablehnung falsch und dachte sie, wäre böse auf ihn.
„Du bist wütend… ich verstehe dich. Aber bitte glaub mir, der Arzt meinte, du dürftest dich nicht aufregen und nur deshalb habe ich dir nichts davon erzählt. Ich hätte es ohnehin nicht mehr länger vor dir geheim halten können. Bitte verzeih."
Sie zwang sich zu einem Lächeln, was Raoul veranlasste, sie glücklich in den Arm zu nehmen und zu küssen. Sie konnte ihm nicht ausweichen und irgendwie war sie es ihm nach all der Zurückweisung schuldig. Hinter einem der Büsche hörte sie ein vertrautes Seufzen.
„Hast du das auch gehört?" Raoul fuhr auf. Dieses Geräusch. Es war viel zu vertraut… vertraut aus jenen Nächten der Angst. Jenen Nächten, in denen sie beide wie zwei ängstliche Kinder umklammert auf dem Dach der Oper gestanden hatten um zu fliehen…
Sie versteifte sich und lächelte ihn nun nur noch gezwungen an.
„Das musst du dir einbilden. Es wird eine Eule gewesen sein."
Er schüttelte den Kopf und sah sie forschend an. Krampfhaft versuchte sie, seinem Blick stand zu halten. Er durfte keinesfalls Verdacht schöpfen.
„Keine Eule, Christine. Ich kenne dieses Geräusch. Und mein Gott, wie fürchte ich den Augenblick in dem uns das Grauen wieder einholen wird. Ich fürchte den Moment in dem er wieder zurückkehrt und dich mir endgültig raubt." Er schlug die Hände bei diesem Gedanken vor die Augen und wandte sich ab.
Christine lief ein eisiger Schauer den Rücken herunter. Nie hatte sie sich auch nur Gedanken darüber gemacht, was es Raoul wirklich bedeuten könnte, sie an Erik zu verlieren. Immer hatte sie sich versucht einzureden, dass Raoul sie als eine Art Trophäe betrachtete, etwas das man dem Gegner nicht gönnt. Sanft strich sie über seine Arme. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie wieder etwas von den Gefühlen, die sie schon mit vierzehn am Strand von Perros Guirec für diesen Jungen empfunden hatte. Oder war es Mitleid? Mitleid, weil sie ihn so abweisend behandelte? Weil sie ihn hinterging, während er nur versuchte ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen?
„Liebster, fürchte dich nicht. Wie könnte ich dich verlassen für einen Toten?" Wieder ein leises Seufzen. Warum nur konnte Erik nicht einfach gehen oder wenigstens schweigen? Er würde sich noch selbst verraten.
„Oh wie ich Friedhöfe hasse. Seit jener Nacht in der er kam und uns überfiel. Du warst ihm beinahe vollkommen ergeben. Was soll ich tun, wenn er nun wiederkommt und dich holt?"
„Erik ist tot, Raoul. Er wird dich nie wieder heimsuchen, nur in deinen Träumen. Zuerst noch häufig aber bald schon wirst du ihn vergessen haben"
Er zog sie an sich und atmete ihren Geruch ein. Warm und süßlich.
„Und was ist mit dir? Wirst du ihn je vergessen?"
Sie konnte ihn nicht anlügen, zog ihn nur fester an sich und schüttelte sanft den Kopf.
„Er wird immer da sein in mir. Ich werde seine Stimme nie vergessen und seine Musik wird ewig in meinem Kopf sein."
Langsam begannen sie den Friedhof zu verlassen. Es war eine sternenklare Nacht.
„Besteht trotzdem die Möglichkeit, dass du mich heiraten wirst?" Seine Stimme klang ungewöhnlich rau und tief.
„Raoul, ich habe dir mein Versprechen gegeben…"
„Es geht nicht um irgendein Versprechen, Christine. Ich möchte wissen, ob du mich eines Tages mehr lieben wirst als die Erinnerung an diesen Mann.."
Tränen traten ihr in die Augen. Wieso fragte er sie so etwas? Konnte er nicht einfach damit leben, dass sie ihm versprochen hatte, ihn zu heiraten? Wieso stellte er sie nun noch einmal vor diese Entscheidung?
„Raoul…"
„Nein, ich möchte keine Frau haben, die mich repräsentieren soll. Dann hätte ich auch alle anderen Adligen heiraten können, die mir Phillipe damals vorschlug. Wenn du meine Frau wirst, Christine, möchte ich, dass du es vollkommen wirst."
Sie zwang sie zu einem Lächeln. Im Mondlicht sahen ihre ineinander verschränkten Hände unnatürlich klein aus.
„Ich liebe dich, Raoul. Und ich vertraue dir. Genügt dir das nicht als Antwort?"
Er blieb stehen und umfasste ihre beiden Hände.
„Eines Tages möchte ich Kinder mit dir haben. Ich will nicht, dass sie unter den Gefühlen ihrer Eltern leiden müssen. Wenn du mich nur wie einen Bruder liebtest… Du bist die einzige Frau, die ich jemals geliebt habe, aber ich könnte es nicht ertragen, wenn ich dich zu einer Ehe zwinge."
Genauso wenig könnte er es allerdings auch ertragen, sie an Erik zu verlieren, dachte sie bei sich. Sie wollte Raoul nicht verletzen und auch Megs Worte gingen ihr im Kopf herum. Aber bis zu diesem Augenblick hatte sie sich nie Gedanken über Kinder gemacht. Sie war doch erst einundzwanzig. Und Raoul war ebenso alt. Sollte dies etwa ihr ganzer Lebensinhalt gewesen sein?
„Ich werde dich heiraten Raoul, wenn du mich nicht zu etwas zwingst. Ich möchte singen können, wann immer ich es wünsche und ich möchte selbst entscheiden können, ob ich noch einmal eine Bühne betrete. Ich weiß, dass es sich für eine Adlige nicht schickt so etwas zu tun…"
„Wenn dir danach ist, sollst du singen können. Wir könnten einen Gesangslehrer verpflichten, damit deine Stimme geübt bleibt. Und ich werde ein Klavierzimmer nur für dich einrichten lassen. Es gibt ein wunderschönes Zimmer, ein Stockwerk unter deinem. Man hat einen wundervollen Blick hinaus zum See!" In seinen Augen erschien jenes begeisterte Leuchten, das sie schon aus Jugendzeiten kannte. Wie schlecht fühlte sie sich gerade in diesem Augenblick! Was war sie nur für eine Frau, diesen Mann der sie so offensichtlich anbetete so zu belügen? Doch die Angst, Erik zu verraten war viel größer, als die Angst vor einer Ehe, von der sie sich nicht einmal sicher war, dass sie sie führen wollte. So schlang sie ihre Arme um seinen Hals und ließ es zum ersten Mal zu, dass er ihr Gesicht mit stürmischen Küssen überhäufte.
