Kapitel 4

Wir lernen die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen;

Wie müssen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen steht.

Goethe

Christine liebte das Jagdschloss vom ersten Augenblick an. Es sah aus, als wäre es dem alten Märchenbuch entsprungen, aus dem ihr Vater ihr vor dem Einschlafen stets vorgelesen hatte. Sie lächelte traurig, als die Erinnerung in ihr Gestalt annahm. Sie hatte es so geliebt, wenn er ihr vorlas. Sie hatten beide eine Vorliebe für die Märchen von Hans Christian Andersen und Vater Daaé war nie müde geworden, wenn seine Tochter um noch eine Geschichte bat. So hatte er ihr oft noch vorgelesen, als der Morgen bereits wieder dämmerte. Ja, das waren glückliche Zeiten gewesen, damals auf ihrem Hof in Schweden. Vater Daaé hatte versucht, ihre Mutter so gut es ging zu ersetzen. Später, in Frankreich, hatten ihn seine Freunde, Professor Valerius und seine Frau, tatkräftig dabei unterstützt. Schließlich war aus dem jungen verträumten Mädchen eine junge Frau geworden.

In all den Märchen, die ihr Vater ihr erzählt hatte, hatte das Schloss immer so malerisch ausgesehen wie dieses hier. Eigentlich war es nur ein Schlösschen, verwinkelt, mit einem großen Garten, der sich bis weit an den Horizont erstreckte, nur unterbrochen von einem See, auf dem sich eine Entenfamilie niedergelassen hatte. Umrankt von wildem Wein und Rosen. Weiße Rosen! Raoul hatte sie bestimmt nur für sie pflanzen lassen. Er wusste, wie sehr sie weiße Rosen liebte.

Das Haus, von dem Erik gesprochen hatte, lag etwa hundert Meter vom Jagdschloss entfernt und sah sehr alt aus. Raoul erklärte ihr im Vorübergehen, dass es wohl zu Zeiten seines Großvaters die Angestellten beherbergt hatte und seit vielen Jahren leer stand.

Christine hatte bis zu dem Tag, an dem sie in das Jagdschloss zogen, jeden Gedanken an Eriks verrückten Plan verdrängt und sie hatte ihn auch seit jenem Abend auf dem Friedhof beunruhigenderweisenicht mehr gesehen. Wie Raoul ihr versprochen hatte, besaß das Zimmer unter ihrem eigenen einen Flügel und den schönsten Ausblick auf den See, den man in diesem Haus haben konnte.

Es war schon dunkel, als Christine von Louise aus ihrem Zimmer gebeten wurde, weil Raoul mit dem Essen und einem Überraschungsgast auf sie wartete. Eigentlich hatte sie nicht die geringste Lust, ihr Zimmer zu verlassen, bisher hatte sie die Zeit damit verbracht, auf ihrem Balkon zu stehen und auf das Haus neben dem See zu blicken. Noch war kein Fenster erhellt. Ein Frösteln überkam sie. Wenn man Erik nun entdeckt hatte? Wieso nur war er auf eine solch dumme Idee gekommen? Ein einziger Moment der Unachtsamkeit und Raoul wüsste alles. Am meisten fürchtete sie sich vor seiner Eifersucht. Wenn Raoul erführe, dass Erik noch am Leben und ihnen viel näher als gekommen war als er es jemals zu denken gewagt hätte, wenn Raoul erführe, dass sie sich mit Erik treffen würde, wann immer es ihr möglich war… sie war sich sicher, dass Raoul unbedachte Dinge tun würde. Wenn er Erik nicht selbst stellen würde, würde er ihn der Öffentlichkeit aussetzen.

Mit einem entschiedenen Kopfschütteln schob sie die Angst beiseiteund zwang sich zu einem freundlichen Gesicht. Eigentlich stand ihr niemals der Sinn nach Überraschungsgästen. Vielleicht war es nur Meg oder schlimmstenfalls einer von Raouls zahlreichen Geschäftspartnern die sie „unbedingt kennen lernen musste".

Sie öffnete die Tür zum Speisezimmer und war nicht wenig überrascht, eine alte, eingefallene Gestalt zu erkennen, die sich erhob, als sie eintrat. Raoul sprang auf und griff ihre Hand.

„Monsieur Thafir, was tun Sie denn hier?", rief sie erstaunt aus. Augenblicklich schossen ihr eine Reihe von Fragen durch den Kopf, die sie unmöglich in Raouls Gegenwart stellen konnte.

Der Perser erhob sich lächelnd und verbeugte sich. Sie erschrak. So hatte sie ihn nicht in Erinnerung gehabt. Der alte Bekannte Eriks, der Raoul geholfen hatte in die Katakomben vorzudringen, trug einen grauen Anzug, der sein Haar beinahe silbern erscheinen ließ. Seltsam, sie hätte schwören können, dass es beim letzten Mal noch fast vollkommen schwarz mit wenigen grauen Strähnen gewesen war. Ebenso grau waren sein Bart und die Augenbrauen. Nur die braunen Knopfaugen, die von einigen Lachfalten umrahmt wurden, blitzen sie spitzbübisch an.

„Christine, ich bin erfreut, Sie so gesund wiederzusehen. Ihr Mann war so freundlich, mich heute Abend einzuladen, und da ich bisher nicht die Gelegenheit hatte, Ihnen zu Ihrer Heirat zu gratulieren..." Er breitete vielsagend die Hände aus. Ein warmes Gefühl durchströmte Christine, hielt allerdings nicht lange an. Was war, wenn er von Erik nichts wusste und ihm erneut auf die Schliche kam? Wieder und wieder rief sie sich in Gedanken zur Ordnung, setzte erneut ein strahlendes Lächeln auf.

„Ach die Hochzeit… Nun, es war wirklich bedauerlich, unser Bote hat Sie nicht angetroffen. Wir hätten Sie sehr gerne bei uns gehabt, obwohl wir nur im engsten Kreis geheiratet haben. Sie erinnern sich sicherlich noch an Meg Giry! Sie war meine Brautjungfer. Nun ja, wir haben auch sehr plötzlich entschieden, mit der Hochzeit nicht länger zu warten. Nicht einmal die Zeitung wusste davon."

Der Perser blickte sie interessiert an und schüttelte den Kopf.

„Oh doch, man hat davon berichtet. Nur wahrscheinlich eine Woche zu spät. Es war nur ein sehr kurzer Bericht. Ich glaube die Überschrift war in etwa ‚Comte heiratet Opernsängerin'. Ich habe sie selbst nur gezeigt bekommen."

Christine fühlte sich bei seinen Worten, als hätte ihr jemand ein kaltes nasses Tuch ins Gesicht geworfen. Sie hatte Erik bis jetzt nicht mitteilen können, dass sie verheiratet war, hatte aber bis zu diesem Augenblick gehofft, es ihm persönlich sagen zu können. Nun hatte ihr die Presse dies wahrscheinlich abgenommen. Wie wütend würde er nur auf sie sein?

Das Essen war bereits aufgetragen worden und Raoul begleitete sie mit prüfenden Blicken an den Tisch.

„Geht es dir nicht gut? Du siehst so blass aus."

Sie schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln.

„Nein, Raoul. Du hast mich nur überrascht. Ich habe mit Meg gerechnet."

Über Raouls Gesicht breitete sich ein Leuchten aus, das sie schon lange Zeiten nicht mehr gesehen hatte.

„Ich wusste, dass ich dich damit wirklich überrasche." Er zog ihren Stuhl zurecht bevor er sich setzte. „Um ehrlich zu sein, dachte ich, dass es vielleicht sinnvoll wäre, wenn ihr beide euch unterhaltet… ohne mich. Dein Arzt hat mir dazu geraten…", gestand er leise, während er sich den Teller füllen ließ und hastig nach dem Glas Wein griff.

Christines Magen zog sich zusammen und sie hatte das Gefühl, dass das Band, das um ihren Brustkorb lag, immer enger wurde, und ihr keine Luft zum Atmen ließ.

„Mein Arzt? Warum? Es geht mir gut, Raoul…", protestierte sie lauter als beabsichtigt.

Er schüttelte den Kopf.

„Das ist nicht wahr. Manchmal sprichst du im Schlaf und ich weiß dass du immer noch Alpträume hast. Vielleicht kannst du nicht mit mir darüber reden. Ich möchte wahrscheinlich auch einiges nicht hören, aber vielleicht kann dir Monsieur Thafir helfen… oder Meg…"

Dem Perser war es sichtlich unangenehm, bei diesem Gespräch anwesend zu sein und so stocherte er nervös auf seinem Teller herum, bis Christine ihm sanft ihre kalte Hand auf die seine legte und lächelte.

„Natürlich werde ich mich mit Monsieur Thafir unterhalten. Worüber, das musst du schon mir überlassen. Ich freue mich jedenfalls, einen guten Freund wiederzusehen." Sie wandte sich nun an Thafir. „Sagen Sie, wohnen Sie noch immer mit Darius in Ihrer kleinen Wohnung?"

Der Perser verschluckte sich und griff mit zittrigen Händen nach dem Glas Wasser vor ihm. Christine warf Raoul einen erschrockenen Blick zu und stellte erstaunt fest, dass Raoul zu wissen schien, was den Perser so entsetzt hatte.

„Pardon Monsieur… habe ich etwas Falsches gesagt?"

Der Perser schüttelte den Kopf und ergriff ihre Hand.

„Nein, es ist nicht Ihre Schuld. Darius ist nicht mehr bei mir und ich habe mich dazu entschlossen, meine Wohnung aufzugeben. Das war auch Teil der Überraschung von der Ihr Mann sprach." Er warf Raoul einen fragenden Blick zu. Raoul lächelte.

„Ich habe dafür gesorgt, dass er in das Haus gegenüber ziehen kann. Du weißt schon, wir haben darüber gesprochen, das ehemalige Haus des Stallburschen."

Mit einer hastigen Bewegung sprang Christine auf und warf das Glas Wein um, als sie ihre Serviette auf den Tisch knallte. Der Rotwein färbte das weiße Tischtuch und erinnerte Raoul sehr an einen Blutfleck. Erstaunt sah er seiner Frau nach, die mit einem leisen „Entschuldigt mich!" das Zimmer verließ. Er seufzte tief.

„Was bitteschön habe ich jetzt schon wieder falsch gemacht!", fragte er den Perser. „Sehen Sie, genau das meine ich. So reagiert sie immer, wenn ich ihr versuche eine Freude zu machen. Deshalb bin ich umso glücklicher, Sie auch als meinen Freund in meiner Nähe zu wissen. Meinen Sie, ich sollte ihr nachgehen?"

Der Perser schüttelte den Kopf und erhob sich.

„Lassen Sie nur, ich versuche, mit ihr zu reden."

Christine stand am See und wurde von eisigen Schauern geschüttelt. Wie sollte sie Erik nur wissen lassen, dass Raoul sein Haus bereits vergeben hatte? Wenn es nicht ohnehin schon zu spät war, wenn sie ihn nicht schon gefunden hatten. Sie warf dem Haus einen ängstlichen Blick zu. Beinahe majestätisch ragte es aus der Dämmerung und dem Schatten der Bäume. Es strahlte in diesem Licht die Würde aus, die Erik gebührte.

Die Entenfamilie auf dem See schnatterte sie aufgeregt an, als sie sich in die Hocke sinken ließ und begann, Steine ins Wasser zu werfen.

„Christine?"

Erschrocken fuhr sie um und erkannte den Perser.

„Kann ich mit Ihnen reden?"

Sie zuckte mit den Schultern.

„Was macht Ihnen solche Angst? Möchten Sie nicht, dass wir uns häufiger begegnen?", versuchte er zu scherzen. Er legte den Arm väterlich um sie und führte sie weg vom Schloss und näher auf das Dienstbotenhaus zu.

Alles in ihr verkrampfte sich.

„Nein, Monsieur… das ist es nicht…" Sie sah sich ängstlich um.

„Sorgen Sie sich nicht, Ihr Mann ist uns nicht gefolgt. Er weiß nicht mehr, wie er mit Ihnen reden soll…Er sorgt sich."

Sie nickte.

„Natürlich. Was meinen Sie wie oft ich das in der letzten Zeit gehört habe. Ich habe ihm schon sooft gesagt er soll sich nicht sorgen." Wieder warf sie dem Haus, dem sie immer näher kamen, ängstliche Blicke zu und verlangsamte ihre Schritte.

„Es ist das Haus, Christine", stellte der Perser fest. „Sie fürchten das Haus." Langsam breitete sich ein Lächeln über seinem Gesicht aus. „Oder fürchten Sie Erik?"

Sie blieb abrupt stehen und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.

„Wie kommen Sie auf solche Gedanken? Erik ist tot… Man hat ihn getötet in jener Nacht dort unten…", stammelte sie leise.

Er ergriff ihre Hand.

„Sie brauchen mich nicht zu belügen. Sie wissen so gut wie ich, dass Erik nicht tot ist. Und ich glaube auch, das Sie genau wissen, wo er ist." Er warf einen kurzen Blick zum Haus, bevor er sie wieder prüfend ansah.

„Wer schickt Sie? Die Sûreté oder Raoul?"

Er lachte. Es war ein lautes aber herzliches und warmes Lachen. Sollte sie dieser Mann, dem sie immer vertraut hatte, der zu einem wahren Freund geworden war, nun misstrauen müssen? Dieses Lachen klang so ehrlich.

„Keiner von beiden. Ich war es, der Ihrem Mann den Vorschlag unterbreitet hat, allein mit Ihnen zu reden. Und da Sie einen durchaus vernünftigen jungen Mann geheiratet haben, war ihm das sehr Recht. Warum glauben Sie, ziehe ich in dieses Haus dort drüben?"

Sie zuckte mit den Schultern. Allmählich begann sie zu frieren. Ihre Zähne klapperten und die Tatsache, dass sie mit einem falschen Wort Erik verraten könnte, machte es nicht besser.

„Sie sagten doch bereits dass Darius fort ist. Ich nehme an, dass Sie aus Ihrer Zeit als Sicherheitsbeamter in Persien noch etwas Geld haben, um sich eine größere Bleibe leisten zu können." Ihre Stimme war tonlos und ihre Finger krampften sich in den Stoff ihres Kleides.

Der Perser sah sich um, stellte fest dass sie in der Tatganz und gar allein waren und wandte sich dann wieder an die junge Frau.

„Darius ist vor ein paar Wochen gestorben. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen versichern kann, dass Sie mir noch immer voll und ganz vertrauen können. Und ich verstehe das... Schließlich hat Ihr Mann nur durch Madame Girys und meine Hilfe Eriks unterirdisches Reich gefunden. Ich weiß, dass Meg Giry es war, die Erik zur Flucht verholfen hat. Ein wirklich mutiges junges Ding." Er stockte, warf Christine einen prüfenden Blick zu und stellte wohl fest, dass beide Frauen dasselbe Alter hatten. „Verzeihen Sie, bitte… Erik hat es mir erzählt. Ich weiß alles, was dort unten geschehen ist. Was Sie für ihn getan haben. Ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, dass Sie das alles nicht nur getan haben, um Raoul das Leben zu retten. Aber da Sie Erik noch immer treffen… Bitte glauben Sie mir, ich werde Sie nicht an Ihren Mann verraten. Wir sind uns wohl alle einig, dass ein falsches Wort Eriks Tod bedeuten könnte. Ehrlich gesagt halte ich nichts von diesem verrückten Plan, aber Sie kennen Erik. Er ist geradezu besessen von dieser Idee, in Ihrer Nähe zu wohnen…Und ganz nebenbei", fuhr er nach einer kurzen Pause fort, „Er hält mich für gebrechlich. Er meint, seit Darius tot ist, kann niemand mehr auf mich aufpassen und deshalb besteht er darauf, dass ich in seinem Haus wohne. Ich mache wie in alten Zeiten seine Besorgungen und er achtet auf mich… Schon seltsam, zwei alte Narren, die beide Pflege brauchen würden."

Christine wartete, dass er weitersprach, aber das tat er nicht. Sie versuchte, sich ihre Erleichterung nicht zu sehr anmerken zu lassen.

„Bitte verzeihen Sie, ich wollte nicht an Ihnen zweifeln. Ich dachte nur, weil Raoul auch Ihr Freund ist…"

„Ich lüge ihn nur ungern an, aber besser, er glaubt Erik sei tot, als ihm durch die Wahrheit unnötigen Kummer zu bereiten. Es ist sogar besser für Sie. So können sie immer in dieses Haus kommen, ohne dass Ihr Mann Verdacht schöpft. Er wird denken, Sie besuchen einen guten alten Freund. Und so ist es doch auch oder!" Er sah sie prüfend an, doch sie wich seinem Blick sofort aus.

Der Anblick des Sees beruhigte ihr klopfendes Herz. Sie schüttelte den Kopf.

„Mehr als das. Es wäre eine Lüge zu sagen, Erik sei nur ein guter alter Freund, ein Lehrer und väterlicher Berater…Erik ist für mich mehr. Wissen Sie, in der Zeit in der ich Angst haben musste, dass sie ihn getötet haben, dass er diesen unwürdigen Tod gestorben ist, dachte ich, ich könnte keinen einzigen Tag mehr überleben. Es war wie damals, als mein Vater starb. Ich hatte das Gefühl die Welt ist zu groß und lässt mir doch keine Luft zum atmen." Sie fuhr herum und erkannte im Schatten des HausesUmrisse.

Der Perser lächelte sie an.

„Ich verstehe Sie. Auch ich habe Menschen verloren, die mir wichtig waren und ich wurde aus meiner Heimat vertrieben. Paris ist wirklich nicht mit meiner Heimat zu vergleichen, aber vielleicht war Eriks Idee doch nicht so schlecht, mit ihm hierher zu ziehen." Er warf Eriks Schemen einen flüchtigen Blick zu und wandte sich dann wieder an Christine.

„Hören Sie, da ist noch etwas das Sie wissen sollten. Erinnern Sie sich an ‚Don Juans Triumph'?"

„Das Stück das Erik schrieb?" Sie nickte. „Natürlich erinnere ich mich daran. Es war sein Lebenswerk. Er erzählte mir einmal, dass er seit seiner Jugend daran arbeitet."

Der Perser nickte.

„Ich weiß. In der letzten Nacht dort unten wurde sein Reich vollkommen verwüstet und zerstört. Alles, was noch von Wert war wurde mitgenommen und wie eine Trophäe ausgestellt. Seit jener Nacht ist ‚Don Juans Triumph' verschwunden. Erik sagte, er habe die Noten immer bei sich gehabt, es gibt keine Abschrift davon. Als er zurückkehrte, um danach zu suchen..."

„Er ist zurückgekehrt? Wie konnte er nur? Sie hätten ihn finden können!"

Der Perser legte ihr eine Hand auf die Schulter und schüttelte beruhigend den Kopf.

„Sorgen Sie sich nicht! Es war dieses eine Mal und mitten in der Nacht. Ich habe ihm schon genügend Vorwürfe wegen seiner Leichtsinnigkeit gemacht. Nur er wusste, wo die Noten sein konnten, doch sie waren verschwunden. Er ist wie besessen. Er versucht herauszufinden, wo sich die Oper befindet. Er hat Angst, dass jemand ‚Don Juans Triumph' unter anderem Namen aufführen lässt und sich mit seinen Federn schmückt."

Sie nickte. Sie konnte sich gut daran erinnern, wie eigen Erik war, wenn es um sein Werk ging. Selbst sie hatte es nie ganz zu Gesicht bekommen.

„Hören Sie, ich habe Angst, dass er etwas Unbedachtes tut und sich verrät."

Eriks Schatten verschwand und noch während sie mit den Augen verzweifelt nach ihm suchte, hörte sie in der Ferne ihren Namen und zuckte zusammen.

„Still jetzt!", mahnte sie der Perser und nur wenige Momente später tauchten Raouls Umrisse aus der Dunkelheit auf.

„Muss ich mich sorgen? Ihr seid schon so lang verschwunden", sagte er entschuldigend und warf dem Perser einen fragenden Blick zu, den dieser mit einem Schulterzucken beantwortete.

Diesmal war es Christine, die seine Hand ergriff und seine Nähe suchte.

„Nein, ich wollte nur eine Weile den wunderschönen Ausblick genießen. Verzeih mir bitte! Als ihr erzählt habt, dass Monsieur Thafir in dieses Haus zieht, habe ich mich einfach etwas überfordert gefühlt. Aber ich freue mich, zwei meiner liebsten Männer in meiner Nähe zu haben." Sie küsste Raoul flüchtig und zwang sich zu einem Lächeln.

„Und nun wird mir kalt. Wir sollten zurückgehen." Sie zog Raoul hinter sich her und der Perser folgte ihnen.

Aus dem Schatten des Hauses klang ein Seufzen. Raoul blieb stehen, sah sich erschrocken um und erschauerte.

„Ist es möglich, dass ich ihn noch immer höre?", fragte er den Perser. „Ich weiß, es kann nicht sein und dennoch ist es mir, als würde er mich immer noch verfolgen. Nicht nur in meinen Träumen, auch in der Dämmerung, wenn ich wach bin. Manchmal meine ich, dass er ganz in meiner Nähe ist - dass ich ihn hören kann."

Der Perser blieb seltsam gelassen, legte ihm den Arm auf die Schulter und sagte. „Ich bin mir sicher, das wird bald hinter Ihnen liegen. Sie haben Schlimmes erlebt."

Raoul zuckte mit den Schultern. Er war keineswegs davon überzeugt, dennoch folgte er Christine zurück in den Salon des Schlosses.