"When the rain is blowing in your face
And the whole world is on your case
I could offer you a warm embrace
To make you feel my love"
Prolog: Verabredung mit einem Geist
Es sah nach Regen aus. Dunkle Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben und der ohnehin schon trübe Tag wurde noch finstrer. So eine Gemeinheit! Wo man uns doch schon genug Tageslicht stahl. So kurz vor der Jahreswende wurden die Tage immer kürzer und vielleicht wären die Menschen fröhlicher gewesen, wenn man ihnen ein wenig Schnee versprochen hätte. Aber die Temperatur wollte und wollte nicht fallen, also würde der Niederschlag wohl in seiner unangenehmsten Variante bleiben: Regen.
Und das kurz vor Weihnachten.
Weihnachten...
Das würde das zweite Fest der Liebe für mich werden, an dem er nicht da sein würde. Gesagt hatte er es zwar noch nicht, aber ich ahnte, daß ihn wohl noch immer dieser eine Fall beschäftigte und er es wahrscheinlich auch dieses Jahr nicht schaffen würde, über die Feiertage zurück nach Tokio zu kommen. Weil er sich irgendwo in Japan aufhielt. Irgendwo weit weg von seiner - und meiner - Heimatstadt. Oder gar irgendwo in der großen, weiten Welt.
Weihnachten...
Fest der Liebe. Pah! Dabei hatte ich ihm bereits ein so schönes Geschenk gekauft. Gut, ich könnte es Professor Agasa geben, der würde es weiter leiten. Aber dann könnte ich sein Gesicht nicht sehen, wenn er das Geschenkpapier ungeduldig, so wie er es immer getan hat, aufreißt. Nein, dann würde ich nur seine Stimme am Telefon hören und die klang in der letzten Zeit immer ein wenig seltsam. So abweisend.
In der letzten Zeit?
Mittlerweile war ein ganzes Jahr vergangen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Richtig gesehen - für mehr als nur einen kleinen Augenblick, wo er auftauchte, einen Fall löste und gleich wieder verschwand, ohne sich weiter mit mir zu befassen. Zu Heiji hatte er einmal gesagt, ich sei eine fürchterliche Nervensage. Zu mir hatte er so etwas noch nie gesagt, aber ich wußte, daß ich mittlerweile so verzweifelt war, daß ich mich sogar über diesen eigentlich total bescheuerten Kommentar gefreut hätte. Über irgend etwas anderes als seine lahmen Entschuldigungen, warum er mal wieder nicht kommen konnte und was ihn alles dieses Mal davon ab hielt, mich zu sehen.
Du warst aber nicht seine Freundin!
Ärgerlich verzog ich mein Gesicht und seufzte leise. Dabei beschlug die Fensterscheibe ein wenig, durch die ich schon die ganze Zeit den Himmel hindurch anstarrte. Nein, ich war nicht seine Freundin. Obwohl ich wohl alles dafür getan hätte, es zu sein. So wie ich wohl alles getan hätte, um ihn endlich wieder in meiner Nähe haben zu dürfen.
Meinen Shinichi...
Verdammt, ich vermißte ihn so sehr, es tat beinahe körperlich weh. Früher war mir nicht bewußt gewesen, wieviel mir dieser arrogante, Sherlock Holmes besessene, hoch intelligente und immerzu grinsende Schülerdetektiv bedeutete. Nun, damals war er ständig um mich herum gewesen, wenn er nicht wieder einen seiner großen Fälle zu lösen hatte. Wir hatten viel gemeinsam unternommen, so wie wir das schon seit unserer Kindheit taten. Am Wochenende gingen wir oft ins Kino - meist zu den Krimis, die er sich aussuchte und die er im Anschluß bis ins kleinste Detail auseinander nehmen mußte. Die Woche unter sahen wir uns in der Schule, aßen, wenn es die Zeit zwischen seines Fußballteams und meines Karateclubs erlaubte, zu Mittag und ab und an konnte ich ihn sogar dazu überreden, mich in den nahegelegenen Vergnügungspark einzuladen. Wie auch damals an jenem Tag vor über einem Jahr. Achterbahn waren wir gefahren und wie nebenbei löste er auch gleich ein Verbrechen auf. Kurz darauf verschwand er und bis auf flüchtige Augenblicke habe ich ihn nie wieder gesehen.
Ja, bis dahin war ich mir über meine Gefühle noch nicht im Klaren gewesen, aber je länger er fort blieb, je seltener er anrief, desto mehr vermißte ich ihn. Sagen konnte ich ihm das nicht. Wie so vieles andere nicht. Schließlich macht man seinem Kindergartenfreund doch auch keine Liebeserklärung am Telefon! Totgelacht hätte er sich, dessen war ich mir sicher. Oder er hätte vor Schreck den Hörer auf gehangen.
Ob er genauso fühlte wie ich?
Ich wußte es nicht. Aber ich wußte, daß ich ihn liebte. Aus tiefstem Herzen. Und ich wollte, daß er zurück kam. Zurück nach Tokio, zurück zu mir.
Verdammt!
Ich wollte meinen Shinichi zurück!
"... und gegen Mitternacht steigt dort meist noch einmal eine extra Fete. So mit... Hey, Ran-kun! Hörst du mir überhaupt zu?"
Erschrocken riß ich mich vom Anblick der dunklen Regenwolken los und drehte mich zu meiner besten Freundin um. Es war später Nachmittag und vor etwa einer halben Stunde waren wir aus der Schule gekommen. Seitdem saßen wir hier auf meinem Bett und Sonoko lag mir in den Ohren, daß ich heute abend mit ihr auf eine echt megacoole Party , wie sie es nannte, mitkommen sollte. Eigentlich hatte ich ja keine größere Lust. Natürlich, es war Freitag und jeder Jugendliche ging irgendwo hin. Aber mir stand nicht der Sinn nach derlei Dingen. Viel lieber wollte ich mich in ein paar Decken kuscheln und einen romantischen Film im Fernsehen anschauen. Hinter der grünen Lagune wollte Tokio3, ein für Schnulzen bekannter Privatsender, bringen. Paps hatte heute sowieso seinen Skatabend mit ein paar ehemaligen Arbeitskollegen und so könnte ich mich ungestört mit Chips vollstopfen und ein paar Taschentücher verbrauchen.
"Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, um Mitternacht wird's dann noch viel lustiger, Ran-kun. Außerdem sind die Jungs dort soooooooooo süß!" fuhr Sonoko unbeirrt fort, als sie sich sicher sein konnte, wieder meine vollste Aufmerksamkeit zu genießen. Nein, meine beste Freundin sah nicht so aus, als würde sie von meinem Vorhaben begeistert sein. Außerdem schuldete ich ihr noch einen Gefallen. Die letzten beiden Male, wo wir etwas zusammen unternehmen wollten, hatte Paps einen äußerst schwierigen Fall übernommen und ich mußte ihm helfen. Lösen konnte Paps die Fälle sehr gut, aber irgend jemand mußte sich ja um den kleinen Conan kümmern, der immer mit wollte. Ja, der Junge spielte gerne Detektiv und Paps war sichtlich überfordert, einen Fall zu lösen und gleichzeitig auf diesen Sack Flöhe aufzupassen. Also hatte ich Sonoko jedes Mal kurzfristig absagen müssen. Ich wollte sie nicht wieder enttäuschen, auch wenn ich ihre Vorstellungen von süßen Jungs nur all zu gut kannte. Nein, diese Jungs waren nicht mein Fall. Keiner von denen kam auch nur in die Reichweite von meinem Shinichi. Ich brauchte keinen von denen. Nur schade, daß Sonoko das auch nach einem langen Jahr noch nicht begriffen hatte. Andererseits, sie meinte es nur gut. Sie war schließlich schon seit so vielen Jahren meine beste Freundin.
"Also, kommst du mit?" Erwartungsvoll schaute sie mich an und ich holte tief Luft. Nein, ich konnte sie nicht schon wieder enttäuschen. Ach, es war ja nur ein Abend und den würde ich auch irgendwie überleben. Selbst wenn ich wieder die ganze Zeit einsam auf meinem Hocker saß, einen Milkshake trank und Sonoko dabei zusah, wie sie versuchte, ihren Traummann zu finden.
"Nun ja..." Dennoch zögerte ich, noch immer das Bild der Lagune vor Augen. Es wäre doch so viel schöner...
"Och, bitte, Ran-kun! Bitte!"
Herrgott! Wer sollte diesem Gesichtsausdruck widerstehen? Seltsam, daß Sonoko noch solo war. Mit diesem Augenaufschlag hätte sie doch jeden Jungen haben können.
Jeden?
Nun, Shinichi bestimmt nicht. Bei ihm hatte so etwas nie funktioniert.
Sicher? Ich hatte es ja nie versucht, sondern ihm jedes Mal fast mit meinem Karate-Kick getreten, wenn er mal wieder zu frech wurde.
Ich rollte meine Augen, aber die innere Stimme wollte einfach nicht verschwinden. Jedes Mal, wenn ich mich an Shinichi erinnerte, und das war verdammt oft, dann erwachte sie in meinem Kopf zum Leben und führte mir vor, was ich alles falsch gemacht hatte und daß Shinichi gar keine Veranlassung hatte, wegen mir nach Tokio zurück zu kehren.
"Bitte!"
"Na gut." Ich lächelte und während Sonoko laut sinnierte, welches Kleid ihr wohl am besten stehen würde, wandte ich mich erneut dem Fenster zu und schaute traurig hinaus. Das Wetter half mir auch kein bißchen, bessere Laune zu bekommen. Statt dessen erinnerte es mich daran, daß Weihnachten mit jedem Tag näher rückte. Zwei Adventssonntage waren bereits vergangen und dieses Wochenende würde die dritte Kerze auf unserem Kranz im Wohnzimmer entzündet werden. Früher als Kind hatte ich mich immer darauf gefreut. Nun aber fühlte ich mich einsam. Einsam und verlassen.
Ach, Shinichi...
"Ran-neechan?"
Die Tür zu meinem Zimmer wurde aufgestoßen und Conan kam herein gehumpelt. Alarmiert setzte ich mich auf bis ich sah, daß er die Trainingshose trug, die ich ihm erst letzte Woche gekauft hatte. Sie war ein paar Nummern zu groß, da ich mich im Etikett verlesen hatte. Eigentlich wollte ich sie für ihn kürzen, war aber durch den Schulstreß der letzten Tage nicht dazu gekommen. Nun befanden sich alle seine Schuluniformen in der Wäsche, woran auch mein chronischer Zeitmangel Schuld trug, und er hatte notgedrungen auf diese Hose zurück gegriffen. Sie bedeckte seine Füße fast vollständig und er zog aller vier Schritte kräftig am Hosenbund, der stark zu rutschen schien. Es war ein lustiges Bild, wie der kleine Kerl da mit der viel zu großen Kleidung kämpfte, aber etwas an seinem Gesichtsausdruck hielt mich vom Lachen zurück. Es wirkte fast, als sei er ein wenig wütend. Nun ja, ich hatte ja auch seine Wäsche nicht gewaschen, da war es sein gutes Recht, wie eine Gewitterwolke dreinzuschauen. Eine niedliche Gewitterwolke. Meine Gewitterwolke.
"Ran-neechan?" Seine Stimme dagegen klang überhaupt nicht ärgerlich. Hatte ich mir das vielleicht nur eingebildet? Glaubte ich, weil ich in den letzten Tagen hin und wieder schlechte Laune hatte, daß alle Leute um mich herum automatisch auch mit depressiven Anfällen gesegnet waren?
Oh je, ich sollte wirklich mal wieder ausschlafen!
"Was ist denn, Conan-kun?"
"Ist Onkel Kogoro nicht da?" Er zerrte erneut an seiner Hose und strampelte, um zum Bett hinüber zu kommen. Für einen Augenblick zuckte ich schuldbewußt zusammen, denn seine blauen Augen musterten die vielen Bücher, die achtlos auf meinem Boden verstreut lagen, erstaunt. Normalerweise schaffte ich es ja, wenigstens in meinem Raum und in der Küche Ordnung zu halten, aber in den letzten Tagen hatte ich einfach keine Lust dazu gehabt. Viel lieber saß ich am Fenster und sah den Wolken zu, als mich ernsthaft mit meinen Büchern zu befassen. Sie erschienen mir alle so fremd, so sinnlos. Eigentlich war ich ja eine solide Schülerin und ich hatte auch nicht vor, mich jetzt gehen und meinen Notendurchschnitt absacken zu lassen. Aber so kurz vor Weihnachten war mir das egal geworden. So unglaublich egal, wenn ich vor den bunten Schaufenstern stand und mich an jenes Weihnachtsfest erinnerte, wo Shinichi und ich gemeinsam Geschenke eingekauft hatten. Es war eine Meisterleistung gewesen, ihn für einige Minuten abzuschütteln, um sein Geschenk zu besorgen. Den restlichen Tag hatte er mich mit seiner unglaublichen Neugier aufgezogen und mehr als einmal einen langen Hals gemacht, um in meine Einkaufstüten zu schielen. Ach, wir hatten den ganzen Nachmittag so viel Spaß gehabt und er freute sich sogar ehrlich über mein Geschenk, als er es einige Tage später zu Weihnachten bekam. Natürlich hatte er sich gefreut. Shinichi hatte sich immer über Kriminalbücher gefreut. Und auch wenn ich immer glaubte, daß er bereits alle besaß, so hatte mir seine Mutter doch immer hilfreiche Tips gegeben. Nur dieses Jahr blieb das Telefon stumm. Nicht einmal Shinichis Mutter meldete sich bei mir.
Hatte mich denn die ganze Familie vergessen?
Ich seufzte leise und griff Conan unter die Arme, um ihn aufs Bett zu heben. Noch immer redet Sonoko von ihrer Abendgarderobe und ein amüsiertes Grinsen huscht über das Gesicht des Jungen. Er sah ganz zufrieden aus, wie er so zwischen uns auf den weichen Kissen saß.
Conan.
Mein kleiner Sonnenschein.
Immer, wenn es mir dreckig ging und ich Shinichi am meisten vermißte, war er da und munterte mich mit seiner kindlichen Art wieder auf. Wer er genau war, das hatte ich noch immer nicht richtig begriffen. Irgendwie war er mit Professor Agasa verwandt und irgendwie auch mit Shinichi. Aber eigentlich war das auch egal. Ich mochte den Kleinen und er schien sich in der Detektei meines Vater auch ganz wohl zu fühlen.
Meine Eltern stritten sich sehr oft, als ich klein war und vor zehn Jahren packte meine Mutter ihre Koffer und ging. Daher hatte ich wohl auch nie die Möglichkeit, noch ein kleines Geschwisterchen zu bekommen und war über den Fakt, daß ich ein Einzelkind war, manchmal mehr als genervt gewesen. Nun aber hatte ich ein kleines Brüderchen bekommen, dem ich all die Probleme, all die Ängste anvertrauen konnte, die mich bewegten. Conan mochte erst 7 Jahre alt sein, aber in manchen Situationen benahm er sich gefaßter als daß so manch Erwachsener gekonnt hätte.
"Paps ist mit seinen ehemaligen Kollegen zum Skatabend gegangen. Er wird erst gegen Mitternacht wieder zurück kommen."
"Skat? Seit wann kann Onkel Kogoro denn Skat?"
"Ist wohl seine neue Leidenschaft." Ich zuckte mit den Schultern und wollte dem Kleinen nicht zeigen, daß ich viel eher vermutete, daß die Bedienung schön und der Biervorrat der betreffenden Kneipe ausreichend waren. Paps würde bestimmt wieder betrunken nach Hause kommen. Manchmal fragte ich mich wirklich, wie er solch komplizierte Fälle lösen konnte, wenn er öfters mal einen über den Durst trank. Aber wahre Genies konnte man wohl nicht verstehen.
Wieder grinste Conan und rückte seine Brille zurecht. Für einen Moment glaubte ich, daß er denselben Gedanken wie ich hatte, verwarf es dann aber wieder. Conan war noch zu klein um zu verstehen, daß Paps häufiger über Kopfschmerzen klagte, weil ihn ein übler Kater plagte und nicht, weil er sich eine Erkältung bei dem eklig naßkalten Winterwetter zugezogen hatte.
"Vielleicht nehme ich auch das grüne Kleid mit den..." sprach Sonoko ohne Pause und ich fragte mich, ob sie zum Reden denn nicht auch Luft zum Atmen benötigte. Scheinbar nicht. Verzweifelt schaute ich auf die Uhr, es war nun fast fünf Uhr und eigentlich wollte ich noch ein paar Dinge erledigen, bevor ich mich mit ihr zur Party traf. Zumindest wollte ich es versuchen. Ob ich nicht doch wieder am Fenster endete und traurig in den Himmel hinauf starrte, das konnte ich nicht versprechen. Aber ich konnte es wenigstens versuchen, und das würde mir nicht gelingen, wenn Sonoko weiterhin in Gedanken ihre Garderobe aufzählte. Oder, was noch schlimmer wäre, wenn sie aufstehen und meinen Kleiderschrank durchwühlen würde, immer darauf bedacht, daß ich auch etwas richtig Schickes anzog. Obwohl ich natürlich nicht vorhatte, mich irgendwie groß raus zu putzen. Das hatte ich lange schon nicht mehr gemacht. Eigentlich seit einem Jahr nicht mehr...
"Grünes Kleid?" fragte Conan und schaute Sonoko skeptisch an. "Paßt das denn?"
Damit sprach er meine geheimsten Fragen offen aus, aber mit diesem unschuldigen Gesicht würde Sonoko ihm nicht lange sauer sein. Mit mir hätte sie wohl drei Tage lang geschmollt, so wie ich sie kannte.
Kindermund.
Ich lächelte und bückte mich, um Conans Hosenbeine ein wenig hochzuschlagen. Morgen würde ich mich gleich darum kümmern, das Kleidungsstück kürzen und einen neuen Gummi einziehen. Versprochen!
"Pah, davon verstehst du nichts, Grünschnabel."
Conan zuckte nur mit den Schultern und erwiderte nichts. Geduldig hob er seine kleinen Beine, damit ich das Hosenbein besser bearbeiten konnte.
"Gehst du da heute abend auch weg, Ran-neechan?"
Diese Stimme! Wenn der Kleine diese bettelnde Stimme benutzte, war alles zu spät. Egal, was er erreichen wollte, mit dieser Stimme und diesen einen bestimmten Gesichtsausdruck bekam er mich immer herum. Nun, wahrscheinlich ist das bei jüngeren Brüdern so. Oder aber ich war einfach nicht immun genug gegen die volle Macht eines 7jährigen Jungen.
Wie er wohl sein würde, wenn er älter war?
Daran wollte ich gar nicht denken, denn einen liebevollen Bruder wollte ich haben, keinen Herzensbrecher.
"Nun ja..." ich seufzte leise. Schließlich hatte ich es Sonoko versprochen. Auch wenn die Aussicht, mir die Lagune anzuschauen, während Conan eines seiner Krimispiele aufbaute, immer verlockender klang. Er mochte Pizza und ich könnte uns welche bestellen...
Nein!
Ich hab's Sonoko versprochen!
"Ran-neechan?"
Ich drehte mich um und sah direkt in sein Gesicht. Jetzt benutzte er wieder seine letzte Waffe: Er schmollte. Offensichtlich wollte er nicht allein zu Hause bleiben. Seine Beine strampelten leicht und zerstörten somit meine Arbeit. Ich drehte mich von ihm weg, damit ich nicht länger in diese blauen Augen schauen mußte und begann erneut, die Hosenbeine zu bearbeiten. Es hatte keinen Sinn, wenn er jetzt auch noch Tränen zeigen würde, wäre es um mich geschehen. Wenn kleine Kinder weinten, konnte ich nicht nein sagen. Ihn hatte ich zwar noch nie weinen gesehen, aber seine kleinen Freunde - diese Detective Boys, wie sie sich selbst nannten - wußten das nur zu gut.
"Ich geh' heute abend mit Sonoko-kun auf eine Party. Du bist doch schon ein großer Junge, Conan-kun. Du kannst doch bestimmt allein hier bleiben. Ich mach dir heute abend auch ein ganz leckeres Abendbrot und du darfst bis um zehn aufbleiben und dir einen schönen Film im Fernsehen anschauen."
Seine eigentliche Zubettgehzeit war ja acht Uhr, aber irgendwie schafften es weder Paps noch ich, ihn rechtzeitig in die Heia zu schicken. Immer war irgend etwas anderes los und es kam nicht selten vor, daß wir erst gegen Mitternacht von einem Fall zurück kehrten.
Nun ja, auch wenn wir nicht unbedingt die perfekten Aufpasser darstellten, so sollte wenigstens der Schein gewahrt werden. Auch wenn ich mir ziemlich sicher war, daß Conan nicht um zehn ins Bett kriechen würde. Manchmal traf ich ihn weit in die Morgenstunden hinein noch wach im Wohnzimmer an, wenn ich mal auf die Toilette mußte oder nicht schlafen konnte. Mit strengen Worten schickte ich ihn dann jedes Mal wieder zurück in sein eigenes Zimmer, aber so richtig schimpfen konnte ich nicht mit ihm. Wie sollte ich auch, wenn ich doch selbst nachts durch die Kanzlei meines Vaters streifte? Ruhelos, meinen Alpträumen entfliehend. Alpträumen, in denen Shinichi von Verbrechern getötet wurde und sich deshalb nicht mehr bei mir blicken ließ.
Mein Shinichi...
"Wenn du meinst." Conan ließ sich gegen ein Kissen sinken und verschränkte seine Arme hinter dem Rücken. Dann grinste er schon wieder. "Krieg ich dafür Okonomiyaki? Mit Salami? Und viel Käse?"
"Na gut." Ich lehnte mich ebenfalls zurück und fuhr im durch das kurze, schwarze Haar. Für einen Moment war mir, als würde er erröten, aber bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, verstummte mit einem Mal Sonokos endloser Monolog.
"Ich denke mal, ich werde nach Hause gehen und mich umziehen, während du deinen Job als Babysitterin wahr nimmst."
Conans Augen schienen zu funkeln, aber er erwiderte nichts auf Sonokos Bemerkung, sondern angelte sich ein Manga aus dem Bücherstapel neben meinem Bett. Noch immer hatte ich meine alten Mangas nicht in Kartons verpackt und auf den Boden geschafft, wie ich es eigentlich vor hatte. Erst glaubte ich, daß ich es für Conan tat. Der Junge schien die Mangas sehr zu mögen, denn er kam öfters in mein Zimmer, wenn ich Hausaufgaben machte, setzte sich auf mein Bett und las ein wenig. Er leistete mir dadurch unbewußt Gesellschaft. Gesellschaft, die ich im letzten Jahr so oft gebraucht hatte. Aber je mehr Zeit verstrich und je mehr ich Shinichi vermißte, desto bewußter wurde mir, daß ich diese Mangas nicht wegpackte, weil sie mich an den Schülerdetektiven erinnerten. Als wir noch Kinder waren, hatten wir uns diese Mangas gemeinsam gekauft. Je nachdem, wer noch ein wenig Taschengeld übrig hatte, hatte gezahlt. Also bestand die Sammlung bis zur Hälfte aus Mangas aus dem Kriminalbereich und die andere Hälfte war eher romantischer Natur. Gelesen hatten wir sie zusammen und während er meine Mangas als doofes Mädchenzeugs bezeichnete, machte ich mich über die ganzen Ganoven lustig. Obwohl es für Dritte nicht so aussah, wir hatten diese kleinen Streitereien genossen.
Ich wußte, daß diese Mangas Shinichi nicht ersetzen konnten, aber ich brachte es einfach nicht übers Herz, sie weg zu sperren, wo sie mich doch so sehr an ihn erinnerten.
Und Conan schienen sie ja auch zu gefallen.
Gerade las er Mord im Mondschein und grinste fröhlich vor sich hin, während er mit seinen kleinen Beinchen wippte.
"Hörst du mir überhaupt zu?" Sonokos Gesicht erschien so plötzlich vor mir, daß ich zusammen zuckte. "Echt, manchmal möchte ich schon gerne wissen, was in deinem Kopf so vor sich geht, Ran-kun."
Das wollte sie sicherlich nicht.
Aber ich verkniff mir einen entsprechenden Kommentar und holte nur tief Luft. Dann begleitete ich Sonoko zur Tür, natürlich nicht, ohne ihr noch drei Mal hoch und heilig schwören zu müssen, daß ich heute abend wirklich mit zu dieser absolut obergeilen Party mitkommen würde. Aufgeregt vor sich hin murmelnd machte sich meine beste Freundin auf den Weg, bestimmt war sie nun mit der Kleidung fertig und überlegte angestrengt, ob sie ihre Haare hochstecken oder kleine Strähnen flechten sollte. Ich sah ihr noch einige Momente nach, bevor ich dann leicht schmunzelnd in mein Zimmer zurück kehrte.
Conan saß noch immer auf meinem Bett und es wirkte auch nicht, als wollte er ins Wohnzimmer gehen, um Fernsehen zu schauen. Nun gut, würde ich mich heute eben wieder im Badezimmer umziehen. Umziehen... kurz blickte ich in meinen Kleiderschrank und zog einfach ein paar Sachen hervor, die sauber waren und nicht aussahen, als hätte ich sie bei mindestens zehn Verfolgungsjagden getragen. Ich wußte, Sonoko würde mich töten, wenn ich es wagte, wie ein Privatdetektiv Inkognito aufzutauchen, also tat ich ihr den Gefallen und suchte noch ein wenig länger und fand schließlich einen Pullover, den ich irgendwann mal vor ewigen Zeiten angehabt hatte. Sexy sah ich da drin bestimmt nicht aus, aber es würde wohl reichen. Für die Kerle, die auf dieser Party herum lungerten, reichte es alle Mal.
Für einen Augenblick fiel mein Blick auf ein strahlend weißes Sommerkleid, aber ich schob mit einem entschiedenen Ruck die Schranktür zu, sperrte es somit aus meinem Blick und meinen Gedanken aus. Zu viele Erinnerungen weckte dieses einfache Kleidungsstück. Zu viel Erinnerungen an ihn... meinen Shinichi. Komplimente waren nicht seine Stärke, viel lieber schien er mich zu necken. Aber bei dem Kleid hatte er damals gemeint, ich würde hübsch aussehen.
Egal, es war Winter, da konnte ich es sowieso nicht anziehen!
"Machst du mir noch was zu Futtern?" Conan sah von seinem Manga auf und ein leicht panischer Ausdruck huschte über sein Gesicht. Vermutlich hatte er Angst, daß ich über meine Vorbereitungen auf den heutigen Abend sein Abendbrot vergessen würde. Der Junge mochte erst sieben Jahre alt sein, aber im Essen war er ein Weltmeister. Da stand er keinem Erwachsenen nach.
"Natürlich. Okonomiyaki wolltest du, nicht wahr?" Ein Glück, daß es solche Erfindungen wie den Eisschrank gab, sonst hätte ich jetzt wohl noch einmal einkaufen gehen müssen.
"Genau." Conan grinste und strampelte wieder mit seinen Beinen, wobei sich die Hosenbeine erneut lösten und weit über seine Füße hingen. Einige Momente betrachtete er die Kleidungsstücke in meinen Armen und runzelte.
"Ziehst du das auf eine Party an?" fragte er verwirrt und rückte seine Brille zurecht, als er wohl meinen kritischen Blick auf sich ruhen spürte. Daß sich kleine Jungs für Mode interessierten, das war mir neu. Aber bevor ich etwas erwidern konnte, erhielt ich auch schon die Antwort auf meine unausgesprochene Frage.
"Da kommt manchmal so eine Serie im Fernsehen, wo die Leute immer auf Parties gehen und die haben da etwas ganz anderes an."
Das Fernsehen. Es war manchmal unglaublich, was heutzutage so gesendet wurde. Viel Zeit blieb mir nicht, um mich vor die Glotze zu setzen. Nicht, wenn ich einen Haushalt zu führen hatte, zur Schule ging, auf den kleinen Conan aufpaßte und des öfteren auch meinen Vater ins Bett schaffen mußte, wenn er betrunken nach Hause kam. Und wenn ich denn mal das Fernsehgerät einschalten konnte, suchte ich mir eher romantische Sachen heraus. Conan dagegen schien eine ganze Menge Sendungen zu entdecken, die viel Wissenswertes zu berichten hatten. Manchmal staunte ich wirklich über die gute Allgemeinbildung des Jungen. Das meiste davon wußte er entweder von Paps Kriminalfällen oder aus dem Fernsehen.
Und da sagen alle, Fernsehen wäre schädlich.
Nun, zu viel vielleicht.
"Die haben da immer so glitzernde Kleider an und brauchen Stunden im Badezimmer." Conan schielte auf die Uhr neben meinem Bett und hielt sich unbewußt seinen mit Sicherheit knurrenden Magen. Bei dem Anblick mußte ich leise lachen, genau wie bei der Vorstellung, wie ich wohl in einem glitzerndem Kleid ausschauen würde. Herje! Ich wollte doch nur auf eine Party und mich mit Sonoko unterhalten, und nicht in den Zirkus - als Hauptattraktion!
"Ich zieh das an und in einer halben Stunde gibt's Abendbrot, mein Süßer." Lächelte ich und zuckte mit den Schultern. Für Shinichi hätte ich vielleicht eine halbe Ewigkeit im Badezimmer gebraucht und mich richtig hübsch gemacht, aber Shinichi würde heute abend nicht da sein. Also, warum sollte ich mir großartig den Kopf zerbrechen, wenn ich sowieso keinen von diesen Typen wollte, die Sonoko eh alle für sich allein haben wollte? "Außerdem solltest du langsam wissen, daß ich nicht so wie diese Leute im Fernsehen bin."
Ein undefinierbarer Ausdruck huschte über Conans Gesicht, bevor er wieder seine Nase in dem Kriminalmanga vergrub. Er murmelte irgend etwas Unverständliches, das ich einfach als Hab' Hunger übersetzte. Noch immer lächelnd machte ich mich auf den Weg in die Küche und anschließend ins Badezimmer. Ein wenig traurig fühlte ich mich noch immer, aber irgendwie hatte es Conan wieder einmal geschafft, mich aufzuheitern.
Dafür mochte ich diesen kleinen Fratz.
Der Abend war ein Alptraum!
Eigentlich hätte ich es ja besser wissen müssen. Schließlich war das eine Party von irgendeiner Bekannten von Sonoko. Wenn meine beste Freundin selbst eine Party arrangierte, dann kannte ich wenigstens ein paar Leute. Meist war Sonokos ältere Schwester da, deren Verlobter und noch ein paar andere Leute, die ich schon auf diversen Wochenendausflügen hatte kennenlernen dürfen. Normale Studenten, mit denen man sich auch normal unterhalten konnte. Oder man konnte wenigstens staunend zuhören und wieder etwas über Schauspielkunst oder Chemie lernen. Ich war ein guter Zuhörer. Hier aber schien niemand mit mir reden zu wollen. Die Menschen, es mochten so um die fünfzig eingeladen worden sein, hatten sich in kleinen Gruppen zusammen gefunden und ich gehörte in keine von ihnen. Gut, vielleicht hätte ich mich ja auch einfach dazu stellen, ein wenig zuhören, mit lachen und ab und an zaghafte Redeversuche starten sollen. Ich war eigentlich ein pflegeleichter Mensch, kam mit jedem Menschen aus. Der Star meiner Klasse war ich wohl nicht, aber jeder mochte mich und hinter meinem Rücken sprach bestimmt kein Klassenkamerad schlecht über mich.
Aber heute hatte ich einfach keine Lust, mich zu diesen fremden Menschen zu stellen und eine öde Konversation zu beginnen. Über was sollte ich auch reden? Darüber, daß mein Vater ein berühmter Privatdetektiv war und ich in meinem jungen Leben bereits mehr Leichen gesehen hatte als diese jungen Leute alle zusammen?
Nein, jetzt wurde ich makaber!
Resignierend seufzte ich und schaute in mein Glas Limonade. Sonoko hatte mir gleich zu Beginn ein wenig Sekt gegeben, aber ich beließ es bei einem Glas. Anders als mein Vater hatte ich Alkohol nie gemocht. Vielleicht, weil ich ihn nicht besonders gut vertrug. Mir wurde immer schwindelig und ich fühlte mich am nächsten Tag immer furchtbar übel.
Ach, wenn doch nur Shinichi hier sein könnte...
Aber er war nicht da. Wie sollte er auch? Seit über einem Jahr hatte er sich kaum blicken lassen, jagte ständig neuen Fällen hinter her. Da würde er sich mit Sicherheit keine Auszeit gönnen, um mit seiner Kindergartenfreundin auf eine Party zu gehen. Eine Party, die ihn mit Sicherheit schon nach den ersten drei Minuten angeödet hätte. So wie sie mich anödete!
Ach, Shinichi...
Ich würde sonst etwas geben, wenn er jetzt hier sein könnte. Wenn plötzlich die Tür zu dem ausgebauten Kellerraum, in dem die Party stattfand, aufgehen und er hereinspazieren würde. Bestimmt würde er in seiner typisch arroganten Art die Gäste mustern und innerhalb von Minuten wissen, wer im Sportverein war, wer welches Fach an welcher Universität studierte und wer mit wem enger befreundet war. Groß und breit würde er mir seine Schlußfolgerungen erklären und danach mit Sicherheit einen stundenlangen Vortrag über den super tollen Sherlock Holmes halten. Aber das wäre mir egal. Ich würde ihn so gern wieder über diesen englischen Detektiv schwärmen hören, ihn vor mir sitzen und mit der Coladose kämpfen sehen. Eigentlich waren diese Verschlüsse ganz einfach zu öffnen, aber er hatte es schon mehrfach geschafft, sich den kompletten Inhalt über seine Schuluniform zu kippen, und über meine gleich mit. Auch das wäre mir egal. Solange er nur hier wäre! Solange er nur durch diese Tür dort marschiert käme! Solange er nur wieder zu mir zurück käme!
Ich blickte traurig auf, aber natürlich blieb die Tür verschlossen. Er würde nicht kommen. Natürlich nicht! Er wußte ja nicht einmal, daß ich heute auf eine Party ging. Wie er so vieles von mir nicht wußte...
Wie sollte er auch! Die paar Mal, die er im Monat anrief, da konnte ich ihm ja kaum von all dem erzählen, was in meinem Leben so passierte. In meinem Leben, das ich so gerne mit ihm geteilt hätte...
Verdammt! Warum sagte er mir nicht, an was für einem Fall er arbeitete? Wo er daran arbeitete? Wie man ihn erreichen konnte? Bald hatte ich Weihnachtsferien! Zwei ganze Wochen lang! Da konnte ich ihn doch besuchen, oder?
Oder?
Nun ja, vielleicht mochte er mich nicht dabei haben. Nicht mehr. Früher war ich oft Zeuge, wenn er einen seiner schwierigen Fälle aufklärte. Aber dieses Mal hüllte er sich in Schweigen, wenn ich ihn auf seinen jetzigen Tatort ansprach.
Verdammt!
Ich wollte ihn wieder haben!
Aber das konnte ich ihm ja schlecht ins Telefon schreien, egal, wie gern ich das auch getan hätte. Er war der Meisterdetektiv, der unerkannt irgendwo in Japan, oder sogar in der weiten Welt, einen schwierigen Fall löste. Ich dagegen war nur eine Freundin aus seinen Kindertagen. Forderungen konnte ich ja wohl kaum stellen...
Die Tür erhielt einen letzten, sehnsuchtsvollen Blick von mir, bevor ich mich wieder trüb meiner Limonade zuwandte. Nein, er würde weder jetzt noch sonst wann durch diese Tür schreiten. Nur, wenn hier ein Verbrechen verübt werden würde. Aber selbst dann würde er sich nur um die Aufklärung des Mordes kümmern und weniger um mich. Das hatte ich im letzten Jahr mehr als einmal schmerzlich erfahren müssen.
Mein Gott, war das deprimierend!
Ich seufzte tief und leerte das Glas in einem Zug, fast so, als beinhaltete es Whisky. Da war es doch gleich besser, eine Verabredung mit einem Geist zu haben! Aber, wer wollte schon mit einem Geist ausgehen? Nun ja, ich... wenn schon nichts anderes für mich übrig blieb...
Ja, wie in Geist erschien mir Shinichi. Kurz tauchte er auf und war schon wieder verschwunden. Selten meldete er sich per Telefon und dann klang seine Stimme immer so merkwürdig, so gepreßt.
Wie ein Geist...
Aber lieber würde ich eine Verabredung mit einem Geist haben, als noch trauriger und verzweifelter zu werden. Selbst wenn Shinichi ein Geist wäre, dann wollte ich doch lieber diesen Geist als gar keinen Shinichi!
"Na, Babe? Wie wär's mit uns zwein?"
Ich blickte auf und starrte in ein breit grinsendes Gesicht. Die dunklen Augen waren vom Alkohol leicht vernebelt und Speichel tropfte aus dem weit aufgerissenen Mund.
Igitt!
Das ließ das Faß überschäumen! Erst saß ich mutterseelen allein herum, während Sonoko versuchte, irgendwelchen angeblich hübschen Jünglingen schöne Augen zu machen, dann schauten mich einige von den Leuten so komisch an und jetzt noch dieser Rüpel, der seine Griffel nicht von mir lassen konnte!
Er faßte nach meinem Arm, aber bevor er sich's versehen konnte, lag er vor mir auf dem Fußboden und ich holte langsam tief Luft und lockerte meine Schulter. Er war schwerer, als ich gedacht hatte und obwohl ich noch immer regelmäßig zum Karatetraining ging, war ich ein wenig aus der Übung gekommen. Wettkämpfe hatte ich erst einmal gestrichen und das von mir eigentlich immer heiß geliebte Sondertraining hatte ich erst einmal auf Eis gelegt. Mit Paps Verbrecher jagen beanspruchte mehr Zeit als ich entbehren konnte. Also mußte etwas anderes hinten an stehen, in diesem Fall eben das Karate. Trotzdem besaß ich noch immer den schwarzen Gürtel und kein Kerl würde es je wagen, Hand an mich zu legen, wenn ich das nicht wollte!
Der Typ grinste noch immer in seinem Alkoholrausch und lallte unanständige Worte. Da reichte es mir. Das Maß war voll! Entschieden schnappte ich meine Handtasche und stürmte, ohne mich von jemanden zu verabschieden, aus dem Haus. Ich kannte die Leute eh nicht, also hätte ich nicht einmal gewußt, wer denn die Party überhaupt organisiert hatte.
Entschieden ging ich geradewegs nach Hause zurück. Die Wolken hatten sich mittlerweile geöffnet und eiskalter Regen fuhr auf mich herab. Obwohl ich meine Jacke bis zum Hals zugeknöpft und die Kapuze fest um meinen Kopf gezogen hatte, war ich wenige Augenblicke später bis auf die Knochen durchweicht. Die Regentropfen schlugen in mein Gesicht, nahmen mir für einige Momente die Sicht.
So ein Scheißwetter!
Anderseits, über Schnee hätte ich mich wohl auch nicht gefreut. Dann hätte alles viel zu freundlich gewirkt. Viel zu weihnachtlich.
Fest der Liebe!
Pah!
Das war es vielleicht für andere Menschen, nicht jedoch für mich...
"Mori-san! Was glaubst du eigentlich, was du da machst?"
Die wütende Stimme hinter mir ließ mich zusammen fahren. Abrupt blieb ich stehen und drehte mich langsam um. Wie ich richtig geraten hatte, stand Sonoko hinter mir. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen schienen mich durchbohren zu wollen. Wie Dolche. Ihre Hände hatte sie geballt und sie sah gar nicht glücklich aus.
Sonoko...
Sie hatte ich ganz vergessen.
"Es ist gerade mal elf Uhr und du gehst? Verdammt! Warum denn, Ran-kun? Es war doch so eine tolle Party!"
Ja, für sie war das vielleicht eine tolle Party gewesen, sie hatte ja auch mit genügend Jungs geflirtet und bestimmt die Gastgeberin persönlich gekannt. Ich dagegen hatte mich ganz einfach zu Tode gelangweilt und war in meinem Selbstmitleid beinahe ertrunken!
Beinahe?
Mit einem Augenrollen brachte ich die innere Stimme in mir zum Schweigen und hob entschuldigend meine Schultern, als Sonoko näher stapfte. Sie war ebenfalls vom Regen durchweicht und das Make-up hinterließ seltsame Spuren auf ihrer Haut.
"Warum denn?"
"Ich hab mich auf der Party nicht so wohl gefühlt. Außerdem war ich müde."
Ich versuchte, es ihr nett zu erklären und betete insgeheim, daß sie nicht all zu böse auf mich sein würde. Wir waren sehr gute Freundinnen, aber ich war eben, im Gegensatz zu ihr, kein Partylöwe. Leider hatte sie das in all den Jahren, die wir uns nun schon kannten, noch immer nicht begriffen.
"Müde? Das glaube ich dir nicht! Es ist wegen diesem blöden Shinichi, nicht wahr?"
Autsch!
Sie kannte mich wohl doch besser als ich das gedacht hatte. Sofort schlich sich ein schuldbewußter Ausdruck in mein Gesicht und ich zog die Kapuze tiefer über meine Augen, damit sie ihn nicht sehen konnte.
"Gar nicht..." verteidigte ich mich, aber es klang hohl, unglaubwürdig.
"Meine Güte, Ran-kun!" Sonoko warf ihre Hände in die Luft und schaute verzweifelt zum wolkenverhangenen Himmel empor, als erwartete sie Hilfe von einer höheren Gewalt. "Warum kannst du den Typen nicht einfach vergessen und dich mit einen von den hübschen Jungs aus Asukas Clique amüsieren!"
Ach, Asuka hieß also die heutige Gastgeberin? Nun ja, konnte ich wenigstens eine von Conans bohrenden Fragen beantworten.
"Ach toll, hast du den betrunken Idioten gesehen, der mich angelallt hat? Da wird einem ja schlecht von!" erwiderte ich und wollte mich umdrehen, aber sie hielt mich entschieden zurück.
"Der ist immer so. Aber er ist der einzige Idiot. Ein Cousin von Asuka, den sie eben einladen mußte. Hättest du dir einfach mal die Mühe gemacht und dir die anderen Jungs angeschaut, dann hättest du mit Sicherheit auch einen tollen für dich gefunden."
"Ich will aber keinen von diesen tollen Jungs!" rutschte es mir heraus, bevor ich mir auf meine Zunge beißen konnte. Sonokos Miene verfinsterte sich schlagartig.
"Nein, weil unser Fräulein Rührmichnichtan lieber auf ihren Traumprinzen wartet, der nie kommen wird. Wach auf, Ran-kun! Dieser dumme Shinichi läßt dich jetzt schon seit über einem Jahr hängen! Er ist weder zum letzten Geburtstag aufgetaucht, noch hat er an deinen Geburtstag gedacht. Drei Tage später hat er angerufen. Angerufen! Na, noch unpersönlicher geht's wohl nicht!"
Sie sollte still sein!
Ich wollte es laut heraus schreien, wollte Sonoko stoppen, weiterhin meine tiefsten Ängste in die Nacht hinaus zu rufen, aber mit einem Mal fühlte ich mich müde und ausgelaugt. Ich wollte nur noch nach Hause in mein Bett, mich unter meinen Decken verkriechen und dem Trommeln der Regentropfen gegen die Fensterscheibe zuhören.
Verdammt!
Sonoko hatte ja recht. Shinichi war zum letzten Weihnachten nicht aufgetaucht, ein paar Tage später erhielt ich ein paar rote Handschuhe und konnte kurz mit ihm reden, aber richtig gezeigt hatte er sich mir auch nicht. Meinen Geburtstag vergaß irgendwie jeder - auch Paps und Conan. Und dieses Weihnachtsfest würde wohl auch nicht besser aussehen. Zwar hatte Shinichi noch nicht angerufen, aber ich erwartete keine wirkliche Zusage von ihm.
Dennoch...
"Er hat bestimmt seine Gründe..." flüsterte ich kraftlos und zuckte zurück, als Sonoko wieder in ihrer typischen Art und Weise explodierte. So wie sie immer explodierte, wenn von Shinichi die Rede war. So richtig hatte sie ihn nie gemocht und seitdem er zu diesem Fall verschwunden war, war sie überhaupt nicht mehr gut auf ihn zu sprechen. Vielleicht, weil sie meine beste Freundin war und genau sah, wie ich unter seiner Abwesenheit litt.
Nun, wenigstens hatte sie seine Adresse nicht und konnte ihm dementsprechend keine flammenden Drohbriefe schreiben. Andererseits... das bedeutete, daß ich seinen momentanen Aufenthalt auch nicht kannte...
"Gründe? Ach ja? Was denn für Gründe bitte schön? Dieser ach so geniale Schülerdetektiv wird doch wohl kaum ein Jahr brauchen, um einen schnöden Fall aufzulösen! Wäre das erste Mal."
"Es sind mehrere Fälle, glaube ich..."
"Und selbst wenn! Der hat doch früher drei Fälle an einem Tag gelöst und nebenbei noch ein Fußballturnier gewonnen! Ich wette, da steckt mehr dahinter!" Sonoko grinste fies und stemmte ihre Hände in die Hüften. "Ich wette, da steckt ein anderes Mädchen dahinter! Bestimmt hat er jetzt eine Freundin irgendwo in Amerika und getraut es sich nicht, es dir zu sagen. Ich meine, du bist berühmt für deinen Karate-Kick. Vermutlich will er nicht so jung sterben, wie diese blöde Romanfigur... dieser..."
"Sherlock Holmes überlebte den Sturz in die Rheinbachfälle." Erwiderte ich trocken und mußte mich über mich selbst wundern, daß ausgerechnet ich den englischen Detektiv in Schutz nahm. "Außerdem glaube ich nicht, daß Shinichi eine andere Freundin hat."
"Was heißt denn hier andere Freundin? Du bist doch nicht einmal seine Freundin! Bestimmt will er dich gar nicht zur Freundin und ruft dich nur ab und an, weil ihr eben Kindheitsfreunde seid, mehr nicht."
Nun wurde Sonoko gemein, und das wußte sie auch. Ich hatte ihr den Abend ruiniert und es machte sie rasend, daß ich an einer so treulosen Gurke , wie sie Shinichi zu bezeichnen pflegte, hing.
"Das ist trotzdem kein Grund, mir immer diese Idioten aufzuschwatzen! Die will ich nicht!" Langsam wurde ich ebenfalls wütend. Wieso konnte sie das Thema nicht einfach dabei belassen? Gut, sie konnte sehr gerne darauf herum hacken, daß ich mir nicht die Mühe gemacht hatte, Asuka und deren Clique näher kennen zu lernen, aber sie sollte gefälligst meinen Shinichi aus dem Spiel lassen!
"Was willst du denn dann? Seit über einem Jahr zeige ich dir die hübschesten, die sexiesten jungen Männer, die ich finden kann und du würdigst keinen auch nur eines zweiten Blickes!"
"Weil keiner von denen auch nur annähernd an meinen Shinichi heran kommt!" Ich verschränkte nun meinerseits die Arme vor der Brust und wie zwei wilde Stiere starrten wir uns an. Bereit zum Angriff, nur noch auf das rote Tuch wartend.
"Ach, die sind dir wohl alle nicht arrogant genug? Die sollen wohl alle erst einmal für ein Jahr verschwinden und dich wie den letzten Dreck behandeln, bevor du ihnen Beachtung schenkst!"
"Shinichi ist nicht so! Außerdem würde er sich nie so sinnlos betrinken!"
"Nur Asukas Cousin war betrunken!"
"Na und? Der Rest war auch nicht viel besser!"
"Du hast dir ja überhaupt keine Mühe gegeben, die Leute kennen zu lernen. Außerdem, wer geht schon auf eine Party in alten Jeans und einem roten Pullover mit einem Panda drauf!"
"Ich! Und wenn dir das nicht paßt, mußt du mich ja nicht mehr mitnehmen!"
"Damit du zu Hause versauerst? Tut mir leid, Ran-kun, aber ich bin noch immer deine beste Freundin und es macht mich fertig zu sehen, wie du immer mehr zu einem Heimchen verkommst! Erst kümmerst du dich um deinen Vater, dann gibst du die Hälfte deiner Karatekurse auf - streite es nicht ab, ich bin nicht blind, Ran-kun! - und jetzt hockst du ständig mit diesem kleinen Knilch zusammen. Der ist doch noch ein halbes Baby! Keine Ahnung, was du in ihm siehst, aber richtige Freunde kann der auch nicht ersetzen!"
"Ist dir vielleicht schon mal die Idee gekommen, daß ich es satt habe, ein Einzelkind zu sein?"
"Und ich habe es satt, dich im Selbstmitleid dahin schmelzen zu sehen! Verdammt, Ran-kun! Hör auf, auf diesen Idioten zu warten und fang wieder an zu leben! Ich kann das als deine beste Freundin gar nicht mehr mit ansehen! Vergiß diesen Volltrottel! Der liebt dich doch gar nicht, sonst wäre er nicht so fies zu dir!"
In dem Moment brach der Damm in meinem Inneren. Sonokos Worte waren zu hart, auch wenn sie es nur gut mit mir meinte, sich Sorgen um mich machte. Sie waren eben so direkt, das war ihre Art. Eigentlich wußte ich das auch. In dem Moment war es aber einfach zu viel für mich. Von einem Augenblick auf den nächsten rannen Tränen über mein Gesicht, vermischten sich mit dem eiskalten Regen.
"Dann schau doch weg, wenn du's nicht ertragen kannst!" schluchzte ich und schüttelte wild meinen Kopf. Dabei rutschte die Kapuze auf meinen Rücken und meine langen Haare hingen in mein Gesicht. "Ich liebe ihn! Sollte er noch fünf weitere Jahre brauchen, um zu mir zurück zu kommen, dann werde ich eben noch fünf weitere Jahre auf ihn warten! Akzeptiere das endlich, Sonoko-kun! Ich kann mein Herz nicht ändern!"
Mit diesen Worten wirbelte ich herum und rannte, so schnell mich meine Füße tragen konnten, die Straße herab, die mich direkt zu Paps Detektei führen würde. Tränen und Regen nahmen mir die Sicht und mehr als einmal stolperte ich blindlings, konnte mein Gleichgewicht gerade noch halten.
Sonoko blieb irgendwo hinter mir zurück. Sie folgte mir nicht, rief auch an den folgenden Tagen, einem Wochenende, nicht an.
Es war mir egal.
In dem Elend, in dem sich mein Seelenheil gerade befand, war ein Streit mit meiner besten Freundin das kleinste Übel.
Das Haus, in dem Paps seine Detektei unterhielt und ich wohnte, erreichte ich relativ schnell. Dennoch blieb ich noch ein paar Minuten in dem eisigen Regen stehen und starrte zum grauen Himmel empor. Nein, nach Schnee sah das wirklich nicht aus. Den einzigen Schnee, den man dieses Jahr zu Weihnachten erleben würde, würde in den Bergen sein. Aber so einen Urlaub hatte ich mir schon vor ein paar Wochen aus dem Kopf geschlagen, weil er Paps schlichtweg zu teuer war. Außerdem wollte meine Mutti dieses Jahr über die Feiertage vorbei kommen, was mir noch immer wie ein Wunder erschien, da sich meine Eltern nicht besonders gut vertrugen. Nun, vielleicht würde es ja wirklich dieses Jahr klappen und sie würden mal wieder einer Meinung sein. Zumindest für ein paar kurze Tage. Es wäre so schön...
Dafür verzichtete ich gerne auf Schnee, der mich dieses Jahr sowieso nur noch mehr deprimiert hätte.
Tief holte ich Luft und strich meine klitschnassen Haare aus meinem Gesicht. Dann wischte ich die letzten Tränen aus meinen Augen und hoffte, daß ich nicht einen all zu schaurigen Anblick bot. Ich wollte Conan nicht erschrecken. Der Junge war noch zu klein, um das Dilemma zu verstehen, in dem ich steckte. Außerdem wollte ich ihn mit diesem Mist nicht auch noch belasten, wo er doch genau mitbekommen hatte, wie sehr sich meine Eltern immer stritten, als sich die beiden durch Zufall am Strand getroffen hatten. Letzten Sommer war das gewesen und ich hätte vor Scham im Boden versinken können.
Ob Conans Eltern da besser waren?
Seine Mutter hatte ich einmal kennen lernen dürfen. Eine freundliche, mollige Frau, die ihren Sohn wirklich zu lieben schien. Aber Conans Eltern waren sehr viel unterwegs und so war es wohl besser, wenn der Junge in Tokio blieb und dort einem geregelten Alltag nachging. Eigentlich hatte er ja bei Professor Agasa leben sollen, aber der Erfinder war schon zu alt für ein so lebendiges, quirliges Kind und übergab mir den Kleinen deshalb in meine Obhut.
Normalerweise war ich eigentlich immer froh über meinen kleinen Sonnenschein, aber in dem Moment wäre ich lieber allein in der Wohnung gewesen. Um mich in mein Bett zu verkriechen und leise vor mich hin zu weinen. Vor Paps und all den anderen in der Schule mußte ich immer stark sein, aber an Abenden wie diesen konnte ich das nicht. Da liefen die Tränen einfach so über mein Gesicht und ich wollte einfach nur noch in meinem Selbstmitleid zerfließen. Das konnte ich jedoch nicht, wenn der Junge um mich herum war.
Leise öffnete ich die Tür und da kam er auch schon auf mich zu gestürmt. Sein Schlafanzug paßte ihm besser als der viel zu weite Trainingsanzug und so konnte er auch über die unordentliche Couch springen und direkt auf mich zusteuern. Seine Augen leuchteten hinter der Brille und obwohl es schon fast Mitternacht war, schien er nicht müde zu sein. Der Fernseher flackerte und mit Sicherheit sah er sich gerade einen Thriller oder so etwas an. Von Kriminalfällen konnte er nicht genug bekommen.
Genauso wie mein Shinichi...
Schon wieder traten Tränen in meine Augen und ich kämpfte hart dagegen an. Aber ich spürte bereits, daß ich den Kampf verlieren würde. Meine Stimme würde bestimmt schwanken und mehr als ein undefinierbares Schluchzen würde ich wohl nicht heraus bekommen. Nein, ich wollte vor dem Kleinen keine Szene machen und weinend zusammen brechen!
"Oh je, du bist aber ganz schön naß geworden, Ran-neechan." Er lächelte und nahm mir die Handtasche ab, die leicht tropfte. "Ich war vorhin noch mal kurz bei Professor Agasa. Ja, ich weiß, es ist spät, Ran-neechan. Nicht böse sein, ja? Nur hat der Professor Vanilleeis gemacht und du kennst doch sein leckeres Vanilleeis..." und so plapperte er fort, während er meine Hand ergriff und mich durch die Wohnung zog. Erst als das Licht anging, erkannte ich, daß er mich ins Badezimmer geführt hatte. Seine Haare waren noch leicht feucht und die Dusche sah benutzt aus. Ja, es schüttete ja auch in Strömen. Die paar Meter zum Haus des Professor hatten bestimmt ausgereicht, um ihn auch völlig zu durchnässen.
Nachts um Mitternacht läuft er draußen herum, um Eiskrem zu essen!
Eigentlich hätte ich fürchterlich mit ihm schimpfen sollen, weil er so spät noch draußen war und weil das für einen Jungen in seinem Alter gefährlich sein konnte, aber ich brachte keinen Ton heraus. Viel lieber hätte ich ihn in meine Arme genommen und fest geknuddelt, aber ich widerstand der Versuchung. Er war zwar erst sieben Jahre alt, aber er hätte sich für meinen Ausbruch bestimmt geschämt. Schließlich war er ja schon ein großer Junge, zumindest beharrte er immer darauf, daß er nicht sieben Jahre alt war, sondern schon fast acht.
"Am besten, du duschst dich und ziehst dir etwas Warmes an." Für einen Moment sah er mich schweigend an mit dem Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten kann. Dann lächelte er und der spitzbübische Ausdruck kehrte in seine blauen Augen zurück. "Kommst du dann ins Wohnzimmer, Ran-neechan? Ich will doch wissen, wer der Mörder ist."
Alles, was ich tun konnte, war zu nicken und ihm stumm hinter her zu schauen, wie er aus dem Badezimmer stürmte. Sicherlich, um ja keine weitere Minute von dem heiß geliebten Thriller zu verpassen. Ich schaffte es, meine Tränen zurück zu halten, bis ich unter der Dusche stand und das Rauschen des warmen Wassers meine Schluchzer dämpfte.
Weihnachten.
Das Fest der Liebe.
Nicht für mich...
Verdammt!
Vieles konnte ich ertragen, aber ich wollte dieses Weihnachten nicht schon wieder allein sein. Ich wollte, daß dieser von Krimis besessene Schülerdetektiv zurück kam. Ich wollte meinen Shinichi zurück!
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich beruhigt hatte und auch meine letzten Tränen versiegt waren. Die Dusche brachte ein wenig Wärme zurück in meinen ausgekühlten Körper und lullte mich in eine angenehme Müdigkeit. Rasch band ich meine Haare zusammen und hüllte mich selbst in ein Nachthemd und meinen Bademantel. Auf dem Weg ins Wohnzimmer bewaffnete ich mich, von plötzlichem Heißhunger übermannt, mit einen Schokoladenpudding und trat somit mutig dem Mörder entgegen.
Conan saß auf der Couch und seine Ärmchen zuckten, als der Polizeidirektor wohl den verkehrten Verdächtigen des Mordes beschuldigten. Als ich mich neben meinen Juniordetektiv setzte, sah er kurz auf und musterte den Pudding in meinen Händen gierig.
"Auch einen Beiß?" fragte ich und war froh, daß meine Stimme wieder normal klang. Überhaupt nicht zittrig. Nur ein wenig verschnupft. Im Zimmer herrschte ein angenehmes Zwielicht, so daß Conan wohl auch meine geröteten Augen nicht sehen und unschuldige Kinderfragen stellen konnte.
"Au ja!" Er riß sofort seinen Mund auf und ließ sich von mir füttern. Ein wenig kleckerte daneben und bald hatte er einen braunen Schokoladenmund. Er sah so niedlich aus, daß ich für einige Augenblicke mein persönliches Unglück vergaß und lächeln mußte. Sanft lächelte er zurück, dann drehte er den Ton des Fernsehers ein wenig herunter.
"Der Mörder ist der Hausmeister, aber bis dieser Polizeityp das schnallt, dauert's bestimmt noch ganz schön lange. Spielen wir statt dessen ein wenig Sherlock Holmes schlägt alle ?"
Sherlock Holmes schlägt alle.
Das Spiel hatte Conan selbst erfunden. Und eh ich's mich versah, hatte er die Schachtel bereits auf dem kleinen Wohnzimmertisch ausgeschüttet. Es war einst ein Scotland Yard Spiel gewesen, das der Kleine abgeändert hatte. In diesem Spiel war er Sherlock Holmes und jagte einen Mörder. Meistens durfte ich dann Dr. Watson sein und wenn wir sehr viel Glück hatten und Paps spielte auch einmal mit, durfte er dann immer den Bösewicht mimen. Ach, wenn es den Kleinen glücklich machte, war das Spiel okay für mich. Es war sogar eines, das ich nicht verlieren konnte. Ich, als Gehilfe des großen Sherlock Holmes.
"Haben sie dir nichts zu Futtern gegeben?" fragte der Junge, als er sich einen weiteren Löffel Schokoladenpudding erbettelte und mit leuchtenden Augen die Spielfiguren, die er einem alten Schachspiel entnommen hatte, auf dem Brett hin und her schob, bis er mit der Ausgangsposition zufrieden war.
"Doch, aber es hat mir nicht geschmeckt."
Seltsamer weise fragte Conan nicht weiter nach. Sonst hätte er mir Löcher in den Bauch gefragt, aber über die heutige Party schien er nichts wissen zu wollen, worüber ich auch sehr froh war.
So spielten wir also die nächste Stunde Sherlock Holmes schlägt alle , während im Hintergrund ein Polizist endlich begriff, wer der Mörder war. Es handelte sich dabei tatsächlich um den Hausmeister, wie Conan das vorausgesagt hatte.
Danach zappten wir durch die Privatsender Tokios, aber es mochte nichts Gescheites mehr kommen. Nach der dritten Nachrichtensendung zur Nacht und dem dritten Bericht über den entkommenen Sträfling aus dem Hochsicherheitsgefängnis, das am anderen Ende der Stadt lag, schalteten wir den Fernseher schließlich aus. Ich wollte Conan nicht beunruhigen, daß so ein Verbrecher draußen frei herum lief und die Polizei es nicht schaffte, ihn einzufangen. Mein Kleiner schien davon eher gelangweilt zu sein und wandte sich wieder voller Begeisterung seinem Sherlock Holmes zu.
Gegen zwei Uhr wollte ich Conan eigentlich ins Bett schicken, aber mit seinem unwiderstehlichen Schmollen und seinem verbettelten Blick kriegte er mich wieder einmal herum und so spielten wir eine zweite Runde, die er ebenfalls gewann. Paps war noch immer nicht nach Hause gekommen, vermutlich übernachtete er kurzerhand bei einem seiner Arbeitskollegen. Solange dieser nicht weiblich war, konnte es mir recht sein, sonst würde es in der folgenden Woche nur wieder laufend peinliche Szenen geben.
Wann genau der Schlaf mich übermannte, kann ich nicht sagen. Meine Augenlider wurden immer schwerer und während Conan noch sehr munter vor dem Tisch auf und ab marschierte, um den Verbrecher einzukreisen und schließlich gefangen zu nehmen, lag ich auf einmal auf der Couch. Ich wußte, daß ich eigentlich ins Bett gehen und auch den Jungen dazu anhalten sollte, endlich in die Federn zu kriechen, aber ich fühlte mich nicht mehr in der Lage aufzustehen. Mein Körper war zu müde und bereitwillig gab ich nach. Das letzte, was ich noch mitbekam, war, daß mir jemand ein Kopfkissen in die Arme drückte und mich vorsichtig mit der weichen Decke, die immer auf der Lehne der Couch lag, zudeckte.
Jemand strich ein paar Strähnen meines Haares aus meiner Stirn und die Berührung war so zärtlich, daß sie den schlechten Traum, der sich langsam vor meinem inneren Auge zu bilden begann, vertrieb und mich in einen angenehmen, erholsamen Schlaf begleitete.
"Wenn ich dir nur meine Liebe zeigen könnte, Ran."
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