Kapitel 2

Die Auswahl

Die Sterne funkelten so hell und klar wie selten zuvor, in dieser eisigen Januarnacht im Jahr 986 nach Geburt des Herrn und ließen Caer Myrdinn in einem eigentümlichen Glanz erstrahlen. Aus den Ritzen der mit Fellen verhängten Fenster der Burg drangen dünne Lichtstrahlen und gaben der einstmaligen hochherrschaftlichen Residenz etwas Mysteriöses und leicht Unheimliches. Denn es musste zu König Arthus Zeit gewesen sein, als der letzte keltische Rhi hier auf dem Thron gesessen hatte und nach seinem Ableben war die Burg eigentlich verlassen.

Dunkel zeichnete sich der Wohnturm vor dem tiefblauen Nachthimmel ab und obwohl mehrere hundert Jahre vergangen waren seit jemand auf der Burg gelebt hatte, standen die Mauern noch immer genauso fest und unerschütterlich wie damals und hatten jedem Sturm und jedem Wetter getrotzt. Auch der bittere Frost in dieser Nacht konnte der Burg nichts anhaben und verfärbte nur die Bäume und Sträucher im Innenhof weiß.

Im Empfangssaal des Anwesens war von der draußen vorherrschenden Kälte nichts zu spüren. Im Kamin, in dem fünf Männer aufrecht stehend Platz gefunden hätten, loderten balkendichte Scheite und breiteten eine angenehme Wärme im Raum aus. Der Boden war mit weißem Marmor ausgelegt, die Wände waren kreidegeschlämmt und beidseits der verhüllten Fenster sorgten Fackeln für spärliche Beleuchtung. Die Wärme, die vom Feuer des Kamins ausging, wurde noch verstärkt durch die Ansammlung von Menschen, die sich im Saal aufhielten und aufgeregt durcheinander sprachen. Männer und Frauen verschiedenen Alters und verschiedener Herkunft, erkennbar an ihren unterschiedlichen Gewändern, drängten sich durcheinander. Bauersleute in einfachen Leinenröcken, Edeldamen in langen Gewändern, reich mit Stickerei verziert, und sogar einige Ritter, in edlen Umhängen, die Schwerter darunter halb verborgen, waren zu erkennen. Nur in einer Hinsicht waren sich alle Personen gleich, denn sie alle trugen einen hölzernen Stab mit sich, der ihre Herkunft und damit auch ihre Zusammengehörigkeit bewies. Denn jeder von ihnen hier war ein Zauberer oder eine Hexe.

Aus ganz England, Irrland und Schottland hatten sie sich auf den Weg gemacht und waren in Caer Myrdinn eingetroffen, ohne recht zu wissen, was nun geschehen würde. Jeder und jede von ihnen hatte vor fünf Tagen die rätselhafte Nachricht erhalten, sich hier einzufinden. Niemand wusste wie, aber dieses sonderbare Pergament war bei ihnen erschienen und hatte sich, nachdem die rätselhaften Zeilen gelesen waren, in einer lodernden weißen Stichflamme aufgelöst.

Viele von ihnen hatte große Furcht ergriffen, als sie die Nachricht erhalten hatten, denn in Zeiten wie diesen war es ratsam, nicht mit Zauberei oder Hexerei in Verbindung gebracht zu werden. Die Muggel verfolgten seit geraumer Zeit jedes noch so kleine Zeichen von Magie mit unerbittlicher Härte und in ihrer Angst vor dem Übernatürlichen, dem sie sich schutzlos ausgeliefert fühlten, hatten sie sogar dort gesucht, wo eigentlich gar keine Magie zu finden war. Die Opfer dieser Hexenverfolgung waren zahlreich gewesen und waren es noch, und auch wenn sich jeder Zauberer und jede Hexe mit Leichtigkeit gegen die Muggelangriffe hatte schützen können, so hatten sie doch alle die Aufspürung ihrer Welt gefürchtet. Mehr und mehr hatten sich die Magischen aus der Zauberwelt zurückgezogen, lebten nun wie Muggel, kleideten sich wie sie und gebrauchten kaum noch Zauber, um nicht entdeckt zu werden. Nur noch wenige Jugendliche mit Zauberblut waren ausgebildet zum Zaubern, viele schienen ihre Herkunft völlig vergessen zu haben. Aber einige wenige Zauberer und Hexen erinnerten sich an die alten Sprüche und waren fähig genug, sie zu gebrauchen. An all jene war die seltsame Einladung gesandt worden und jeder von ihnen hatte sie angenommen, denn sie alle fühlten, dass dies etwas ganz Besonderes sein musste. Nicht nur für sie selbst, sondern für die gesamte Zauberwelt.

Aus weiter Ferne erklangen dumpfe Töne einer Kirchturmglocke, die mit ihren Schlägen die 10. Stunde der zweiten Tageshälfte ankündigte. Das aufgeregte Stimmengewirr in der Empfangshalle wurde augenblicklich leiser, denn alle versammelten Hexen und Zauberer warteten gespannt, was nun, da der Zeitpunkt der Einladung gekommen war, geschehen würde. Seltsam genug war es ohnehin gewesen, dass bisher kein Burgherr sie begrüßt hatte. Überhaupt hatten sie sowieso noch niemanden gesprochen oder gesehen, der der Versender der rätselhaften Zeilen gewesen sein konnte. Außer einigen Wachleuten am Burgtor und am Eingang des Wohnturmes, die ihnen höflich, aber schweigend den Weg gewiesen hatten, war tatsächlich noch niemand in Erscheinung getreten. Desto unheimlicher war es, als nun eine tiefe Stimme zu sprechen begann und ihre Worte in der Halle erschallten.

»Seid gegrüßt, ihr Zauberer und Hexenweiber, willkommen auf Caer Myrdinn!«

Die Menge war nun gänzlich verstummt und viele Blicke wanderten neugierig durch den Saal, um zu ergründen, woher diese Stimme kam. Als sie weiter sprach, schien sie geradewegs aus den Wänden zu kommen.

»Wie ich sehe, seid Ihr alle meiner Einladung gefolgt, ich danke Euch dafür. Denn unter Euch sind diejenigen, in deren Händen die Zukunft der Zauberwelt liegt, Eurer Welt. Ich werde Euch prüfen, solange bis ich die vier unter Euch gefunden habe, die die Richtigen sind. Nur vier von Euch werden es sein, aber sie sind mitten unter Euch, und seid gewiss, ich werde sie finden. Keines Eurer Talente wird verborgen bleiben, aber auch keine Eurer Schwächen. Wohlan, lasst uns nun beginnen! Sogleich werden Eure Namen erscheinen, einer folgt dem nächsten, Ihr werdet sie sehen. Erkennt Ihr Euren Namen, so tretet ein durch die Tür zur Rechten in den Rittersaal. Stellt Euch dort der Prüfung. Und seid gewiss, sie wird nicht leicht!. Doch gebt Euer Bestes, beweist Euer Talent, denn Euer Name kann von Bedeutung sein, wird er richtig eingesetzt und die Zauberwelt braucht Euch. Nun lasst es beginnen, Euch ein gutes Gelingen!«

Die Menge hatte atemlos der langen Rede gelauscht und kaum, dass die Stimme geendet hatte, erhob sich ein aufgeregtes Flüstern unter den Anwesenden. Zu mystisch und unheimlich, zu mysteriös schien dies, um unkommentiert zu bleiben. Denn wer war der körperlose Sprecher?

Eine leichte Unruhe erfasste die Halle, dann urplötzlich ein leiser Knall und augenblicklich wurde es wieder totenstill unter den Zauberern und Hexen. Hoch oben in der Luft über ihren Köpfen waren smaragdgrüne Buchstaben erschienen, die wie von Geisterhand in die Luft geschrieben wurden und sich allmählich zu einem Namen formten: »Alessandra Ancestor«

Eine braunhaarige junge Hexe im grünen Leinenkleid machte große Augen, drängte sich dann durch die Menge und verschwand schließlich hinter der Tür zum Rittersaal.

Ihr Name in der Luft verpuffte in einer grünen Rauchwolke und sogleich wurde der nächste Name in die Luft geschrieben: »Beatrice Bachelor«

Die nächste Hexe verschwand im Rittersaal. »Bruno Bossily«, »Connor Camden«,»Dorkas Douglas« und etliche andere folgten, einer nach dem anderen.

Jedem, der den Rittersaal betrat, bot sich das gleiche Bild. Ein Raum von enormer Größe, fünfzig Schritt Länge und fünfundzwanzig Schritt Breite hatte er. Vier mächtige Säulen trugen die Balkendecke. Die Wände waren zur Hälfte holzvertäfelt, den oberen Teil verzierten keltische Malereien; der Holzboden war in einem Hell-Dunkel-Spiel schachbrettartig verlegt. Zwei Kamine sorgten auch hier für wohlige Wärme, die Fenster waren ebenfalls mit Fellen verhüllt, um die kalten Wintertemperaturen abzuhalten. In der Mitte des Raumes stand ein langer Tisch, vor jeder Längsseite eine hölzerne Bank, auf die sich schon die ersten Prüflinge niedergelassen hatten. Auf dem Tisch befanden sich vor jedem Platz eine Feder, ein Tintenfass und ein Pergament, welches von allen sogleich in Augenschein genommen wurde. Dies sollte anscheinend die erste Prüfung sein, seltsam daran war aber, dass die Pergamentrollen allesamt leer waren.

Eine Hexe am äußeren Ende des Tisches warf unsichere Blicke zu den anderen, ein Zauberer gegenüber hatte das Pergament in die Hand genommen, und drehte es prüfend nach allen Seiten.

Nur wenige der Prüflinge kamen sofort auf die richtige Lösung, dabei war es eigentlich ganz einfach, denn man musste lediglich die Feder ins Tintenfässchen tauchen und seinen Namen auf das Pergament schreiben.

»…Euer Name kann von Bedeutung sein, wird er richtig eingesetzt…«, waren die hilfreichen Worte gewesen, die darauf hingewiesen hatten. Wer diesen Rat aus eigenen Überlegungen beherzigt und seinen Namen geschrieben hatte, der war unter denjenigen, die die erste Prüfung bestanden hatten und mit der zweiten fortfahren durften. Denn kaum war der Name geschrieben, so schien es, als würden die Buchstaben in das Pergament hinein gesogen. Aber es dauerte nicht lange, und andere Buchstaben, andere Worte erschienen.

»Werter Freund, werte Freundin,

Euer Geist ist mächtig, Euer Verstand klar, denn der Hinweis wurde erkannt.

Doch seid Ihr fähig, auch meinen Fragen Rede und Antwort zu stehen?

Habt Ihr den Mut?«

Natürlich lautete jede Antwort auf diese Frage gleich, denn jeder und jede, dem sie gestellt wurde, beugte sich sogleich wieder über das Pergament, tauchte die Feder in die Tinte und schrieb»JA«. Gleich darauf erschien ein Fragebogen und während diejenigen, die das erste Rätsel nicht alleine hatten lösen können, den Raum verließen (freilich ohne zu wissen, dass sie längst aus den Reihen der Infragekommenden gestrichen waren), widmeten sich die anderen den Aufgaben. Viele Fragen zu wirklich alten Zaubern gab es zu beantworten und nur diejenigen, deren Eltern und Großeltern noch Wert auf die Übermittlung alter magischer Traditionen und die Lehre von Sprüchen gelegt hatten und sich nicht von der Hetzjagd der Muggel hatten abschrecken lassen, konnten die Antworten niederschreiben. Aber es galt nicht nur Wissen zu beweisen, denn einige Fragen waren mit Intelligenz allein nicht zu lösen. Stattdessen sollte hier die Ehrlichkeit und der Mut eines jeden getestet werden. Und wer von ihnen die Fragen nicht mit reinem Gewissen beantwortete, war unter denen, die bald darauf die Feder niederlegten und den Raum verließen. Allen anderen wurde, sobald die letzte Antwort auf das Pergament geschrieben war, eine weitere Botschaft überbracht. Denn wieder erschienen Buchstaben auf dem Pergament.

»Dies waren der Prüfungen gar zwei, mein Freund, Ihr habt sie gelöst.

Doch die schwerste, die dritte und letzte der Prüfungen kommt sogleich und wird zeigen, wie fähig Ihr seid, wie Ihr es aussehen lasst.

Seid Ihr mutig genug, Euch einer letzten gar grausigen Prüfung zu stellen?

So folgt den Stufen hinauf, hinauf in die Kemenate.

Öffnet die Tür, doch seid gewarnt, man erwartet Euch!«

Und auch wenn diese Botschaft über die letzte Prüfung wirklich unheimlich schien und fast alle der verbliebenen Prüflinge, kaum mehr als 20 Zauberer und Hexen, ihren ganzen Mut zusammen nehmen mussten, so stieg doch jeder von ihnen allein, einer nach dem anderen, die steilen Stufen ins Obergeschoss hinauf, bis zu der Tür, die man ihnen genannt hatte. Das Herz klopfte allen bis zum Hals, als sie die Türe langsam aufschoben, die dabei leise in den Angeln quietschte und knarrte. Und jedem von ihnen stockte der Atem, als offensichtlich wurde, was dort wartete. Eine große Gestalt im schwarzen Kapuzenmantel stand mit dem Rücken zur Tür, ihr Atem ging rasselnd und eine eisige Kälte hatte sich im Raum ausgebreitet, die normalerweise selbst bei diesen Wintertemperaturen hier oben in der Kemenate nicht vorherrschen konnten. Mit der Kälte, die bis tief ins Innerste der Hexen und Zauberer drang, wich gleichzeitig auch jedes Glücksgefühl, jede Freunde, jede Hoffnung. Trostlosigkeit beschlich jeden, der dieser unmenschlichen Gestalt entgegentrat, und als sie sich umdrehte und ihr augenloses Gesicht die Prüflinge anblickte und sie mit einer schorfigen, verwesenden Gliedmaße, die einstmals eine Hand gewesen sein musste, heran winkte, da stand allen die Angst in die weit aufgerissenen Augen geschrieben. Nicht wenige waren dieser Aufgabe nicht gewachsen, eine Hexe fiel sofort mit einem stummen Schrei auf den Lippen ohnmächtig zu Boden, ein Zauberer, das Gesicht in Schrecken erstarrt, riss die Tür auf und floh panisch die Stiege herunter. Andere versuchten verzweifelt mit einem ausweglosen Zauber die Kreatur zu vernichten, doch die Kälte drang nur noch tiefer in ihre Herzen und erlahmte alle Reaktionen, so dass auch sie bald ohnmächtig zu Boden glitten. Nur der richtige Zauber konnte hier helfen, der Patronuszauber, denn nur wer alles Glück, alle Liebe die er besaß in seinem Herzen ballte und den Zauber damit losschickte, konnte die grauenerregende Kreatur besiegen.

»Expecto Patronum«, erschallte die Zauberformel im Raum, mal laut, mal leise, teils nur geflüstert. Doch nur wer es schaffte, dabei an den glücklichsten Moment seines Lebens zu denken, auch im Angesicht der drohenden Gefahr, dem gelang es, statt eines müden silbernen Rauchwölkchens, einen echten Zauber zustande zubringen.

»Expecto Patronum», »Ich erwarte den Schutzherrn«, ein Schutzherr in silberner Gestalt, der den bedrohlichen Angreifer in die Flucht schlug. Dort sah man einen mächtigen Löwen, der mutig auf den Kapuzenummantelten zusprang, dort eine Schlange die drohend zischend ihre Zähne zeigte. Ein Adler schlug wild mit den Flügeln, ein Dachs fauchte und zeigte die Krallen. Noch andere Gestalten schlugen das Grauen in die Flucht, und auch wenn ihre Erschaffer auch diesen Teil der Prüfung gemeistert hatten, so waren auch sie aus dem Rennen. Denn gesucht wurden nur vier, vier von unverwechselbarer Gestalt und jener, der sie alle zu sich gerufen hatte, hatte endlich die Richtigen gefunden.

Und als die letzten Hexen und Zauberer hinter den Bäumen des nahe liegenden Waldes verschwunden waren, und die Sterne ihnen den Weg leuchteten, da ahnten sie nicht, dass oben in der Kemenate ihnen jemand nachsah und lächelnd nickte: »Bald werden sie es erfahren.«