Ein kühler Luftzug weckte mich. Als ich die Augen aufschlug fiel mein erster
Blick auf ein Fenster durch das der Vollmond direkt auf mich schien.
Meine Kehle brannte vor Durst, wie ich es noch nie in meinem Leben erlebt hatte
mein Mund war staubtrocken.
Ein lebenslang antrainierter Reflex ließ meine Hand zu meinem Gesicht
hochschnellen um nach meiner Maske zu tasten.
Ich griff ins Leere und doch verweilte meine Hand, dort wo sie immer nur das
harte Material meines zweiten Gesichts ertastet hatte. Was ich dort fühlte
verwirrte mich, nichts als glatte Haut konnte ich ertasten. Keine der
zeichnenden Furchen und Narben die mich mein Leben lang begleitet hatten. Ich
ertastete eine fein geschwungene Augenbraue, ein glattes Augenlid mit Wimpern
und meinen Wangenknochen umschlossen von Haut.
Ich musste tot sein! Wie sollte diese Illusion sonst zustande kommen. Und doch
fühlte ich wieder meinen Durst der mir doch allzu irdisch erschien.
Nachdem ich mich vom Phänomen meines Gesichtes ein wenig losreißen konnte begann
im mich in dem Zimmer umzusehen in dem ich mich befand und fieberhaft nach einem
Spiegel zu suchen. Auf den ersten Blick wurde ich nicht fündig. Also setzte ich
auf und erhob mich aus den unzähligen Seidenkissen auf denen ich gelegen hatte.
Die Architektur der Wände ließ mich wissen, dass ich mich noch immer in Paris
befand, allerdings hätte ich mich nicht gewundert die Türme der Paläste von
Mazenderan zu sehen wenn ich aus dem Fenster blickte.
Außer dem architektonischen Aufbau des Zimmers erinnerte nichts an Frankreich.
Ein orientalischer Flair umwehte mich und ich fühlte mich wie in der Zeit
zurückversetzt. Ein Laut drang an mein Ohr, so wundervoll und schmerzlich schön
dass ich einen Moment brauchte um seinen Ursprung ausmachen zu können.
Ein kleiner Vogel saß in einem goldenen Käfig neben meinem Lager und sang nun
sein Lied. Eine Nachtigall und in einer goldenen Vase neben ihr stand eine, zur
vollen Blüte aufgegangenen weiße Rose.
Der Gesang des Vogels klang so rein in meinen Ohren dass es mir die Tränen in die
Augen trieb und ich nicht verstand warum mein Herz plötzlich vor Melancholie überquoll.
Der Duft von verschiedenem Räucherwerk stieg mir in die Nase. Meine gesamte
Umgebung erschien mir so Intensiv, dass ich wieder darüber nachzusinnen begann ob
ich unter irgendeinem Zauber stand.
Ich konnte die Farben, der einzelnen Gegenstände in diesem Zimmer bestimmen, als
wäre es helllichter Tag.
Schon immer waren meine Augen außergewöhnlich gewesen, und ich hatte niemals
Probleme damit meine Wege in vollkommener Finsternis zu finden, doch dies hier
war etwas vollkommen anderes.
Die schönsten Variationen von Rot-; Silber-; Gold- und Lilatönen strahlten mir
entgegen und schienen meine Augen blenden zu wollen.
Wieder fuhr meine Hand zu meinem Gesicht und ich fragte mich was wohl mit mir
geschehen war. Dies musste entweder ein Traum sein, oder ich war doch im
Jenseits. Doch für Letzteres fühlte ich mich einfach zu lebendig.
Lebendiger als je zuvor.
Noch immer sang die Nachtigall ihr wundervolles Lied und ich trat ans Fenster um
mir vielleicht ein Bild darüber zu verschaffen wo ich mich befand.
Es war nicht schwer meinen Standpunkt zu bestimmen, denn die Oper, so vertraut
wie eh und je und doch belebt von diesen neuen strahlenden Farben, war von hier
aus gut auszumachen.
Ich befand mich etwa 5 oder 6 Querstraßen von ihr entfernt. Wie zum Teufel war
ich hierher gekommen?
"Schon wieder der Teufel?" die melodische Stimme einer Frau schreckte mich auf
und ließ mich in eine alte Gewohnheit, der Verteidigungsstellung, verfallen. Ein
Lächeln umspielte ihre wunderschön geschwungenen Lippen, die mir unter einem
Spitzenschleier, halb verborgen blieben.
Ich hatte ihr Hereinkommen nicht einmal ansatzweise bemerkt und war verblüfft
über meine eigene Unachtsamkeit.
Sei lehnte lässig und ungezwungen im Türrahmen und musterte mich sichtlichem
Interesse. Ihr Feuerrotes Haar war zu einem lockeren Knoten im Nacken
geschlungen und einige Stirnhaare hatten sich daraus gelöst und umrahmten ihre feinen Züge.
Das kostbare Seidengewand, das sie trug, erinnerte in entfernter Weise an einen
Sari und war doch keiner.
Besetzt mit unzähligen kostbaren Steinen und verziert mit feiner Stickerei
schien er für eine Königin gemacht worden zu sein.
Als ich ihr in die Augen sah, erinnerte ich mich schlagartig wieder.
"Christine..." meine Hand fuhr zu meinen Lippen. Sie hatte mich geküsst und ich
hatte sie gehen lassen. Dann bemerkte ich wie unnatürlich laut meine Stimme in meinen Ohren klang.
Dann waren da die verschwommenen Erinnerungen an dieses schöne Geschöpf das mir
nun gegenüberstand.
Ein harter Zug war um ihre Augen getreten, als ich Christines Namen erwähnt hatte.
Wer war sie?
"Mein Name ist Shirin, Erik. Du brauchst dich nicht zu sorgen, hier wird dir
nichts geschehen. Du bist in meinem Pariser Stadtpalais und ich habe dich
hierher gebracht. Ich war so lange auf der Suche nach dir. Denn selbst für einen
Menschen warst du mehr als schwer zu finden."
Sie sprach das Wort "Menschen" wie ein Schimpfwort aus und verzog einen für
Moment angewidert die Lippen.
Ich entspannte mich ein wenig und straffte die Schultern, bewegte mich aber
keine Stück von dem Platz am Fenster, an dem ich stand.
"Aber was ist mit mir geschehen?" Meine alte Selbstsicherheit kehrte langsam zurück.
"Ich konnte nicht länger mit ansehen wie sehr du leidest, wie sehr du unter dem
Fluch eines grausamen Gottes stehst, der mit den Menschen spielt und sie quält
wo er nur kann. Glaubst du wirklich Christine Daaé wäre zufällig in dein Leben
getreten? Sicher nicht! Sie ist die Eine, die für dich bestimmt war, nur für
dich, und trotzdem durftest du sie nicht haben. Dies ist alles das Werk des
Einen, ach so gütigen Gottes, im seinem großen Spiel namens "Schicksal".
Aber ich nehme das Schicksal nicht länger hin!"
Da war es wieder, dieses Feuer das in ihren Augen aufblitzte und an das ich mich so genau aus der Szene in m
einer Wohnung am See erinnern konnte.
Ihre Worte klangen verbittert und eiskalt und es erschreckte mich wie sehr sie mich an mich selbst erinnerte.
Eine Frage brannte mir auf den Lippen. "Mademoiselle, hättet Ihr vielleicht einen Spiegel für mich!"
"Woher wußte ich nur dass du das fragen würdest! Aber bitte, sei doch nicht so
förmlich. In meinem Palais gelten für meine Freunde und Proteges andere
Regeln und Umgangsformen als im Rest von Paris." Mit einem zauberhaften Lächeln zog sie
einen kleinen Handspiegel aus dem Dekoltee ihres Oberteiles und reichte ihn mir.
Angst machte sich in mir breit, als ich ihn in Augenhöhe hob und ich schloss die Augen.
Als ich sie langsam öffnete konnte ihnen dennoch nicht trauen.
Mein Haar fiel mir ungebändigt in die Stirn und doch konnte ich, auch ohne es
auszustreichen erkennen dass mein Gesicht ein Anderes war als das welches ich bisher gekannt
hatte. Der Schrecken, der mich immer auf Schritt und Tritt begleitet hatte war
verschwunden und bis auf ein ganz feines Gespinst aus Narben war nichts zurückgeblieben.
Shirin stand plötzlich vor mir, wieder hatte ich nicht bemerkt dass sie sich
bewegt hatte, strich mir über meine einst so entstellte Wange und zeichnete dann
mit einem ihrer langen Fingernägel die feinen Narben nach. Die Kälte ihrer
Finger nahm ich nur am Rande wahr.
"Auch dies wird bald verschwunden sein!"
Ich wandte meinem Blick wieder dem Bild im Spiegel zu und konnte, trotz des
recht angenehmen Bildes das sich mir bot, nicht die tiefsitzende Angst beim Anblick
eines Spiegels verdrängen.
"Aber wie..?" meine Stimme war nur noch ein Flüstern.
"Ich habe dir ein Geschenk. Mein Blut. Uraltes und mächtiges
Blut, dass schon so viele Zeiten, so viele Leben überstanden hat dass es eine
unvorstellbare Heilungskraft und Magie entwickelt hat. Ich bin eine der letzten Lamia, die
auf dieser Erde existieren, Erik!"
Was dieses seltsame Wesen mir erzählte erstaunte und verwirrte mich und ich spielte
kurz mit dem Gedanken dass sie verrückt sei, doch die offensichtliche Veränderung
meines Gesichtes ließ sich nicht von der Hand weisen.
Das erste Mal in meinem Leben war ich sprachlos und doch entsprangen meinem Geist so viele Fragen.
Lamia irgendwo hatte ich diesen Begriff schon einmal gehört. Wenn ich mich doch nur genauer erinnern könnte.
„Dank mir, bist du nun im Besitz einer weiteren dunklen Gabe. Mein Blut hat deine Sinne geschärft und dich von dem Schrecken deines Gesichtes befreit. Doch dies alles hat seinen Preis!" sprach sie unbeirrt weiter.
Was ich in den nächsten Stunden erfahren sollte stellte mein Leben vollkommen auf den Kopf. Ich war
verwandelt worden, gegen meinen Willen, in ein dunkles Geschöpf, das ewig leben würde doch um dieses
ewige Leben zu erhalten töten musste. Ich hätte erschüttert sein müssen, doch alles was ich empfand war Neugier,
auf dieses neue Leben, das mir völlig neue Möglichkeiten eröffnete. Und hatte ich nicht schon immer töten müssen
um zu überleben? Dieser Gedanke ließ mich innerlich schmunzeln. Endlich war ich vollkommen das Monster für
das mich alle hielten. Doch nun war es nicht mehr so offensichtlich.
Der Gedanke daran Blut zu trinken, so wie es Shirin mir erklärte, war mir nicht angenehm, aber es gab wohl
immer einen kleinen Haken!
Ich konnte nun durch meine geschärften Sinne vollkommene und makellose Musik erschaffen.
Alles was ich von nun an schuf würde an Größe gewinnen.
Aufregung machte sich in mir breit und Shirin bemerkte meine Unruhe und bot mir an unser Gespräch bei einem Spaziergang durch die Nacht fortzuführen.
Sie war das erste Mal in Mazenderan auf mich aufmerksam geworden. Nächtelang hatte sie mir nachgestellt um mehr über mich herauszufinden und sie war so fasziniert von mir, dass sie meine Spur aufnahm nachdem ich aus Persien geflohen war. Die Nacht war kühl, irgendwie vertraut und doch so voller neuer Wunder.
Es würde wohl bald das erste Mal schneien. Der klare Novemberhimmel hing voller
Sterne, die mir sonst, aufgrund der hellen Lichter der Stadt, nie so aufgefallen
waren. Oder liegt auch dieser Umstand an meinem neu erwachten Selbst?
Shirin ging neben mir her ohne auch das kleinste Geräusch zu verursachen.
Ich atmete tief durch und bemerkte plötzlich, dass mein Körper auf die
Notwendigkeit des Atmens keinen Wert mehr legte.
Es war in diesem Moment eher wie eine Gewohnheit, die über viele Jahre hinweg
vertraut geworden war, notwendig war sie allerdings nicht länger.
