Die Wolken zogen sich zusammen, die Kälte breitete sich immer weiter aus. Ein leichter Anflug von winterlicher Stimmung überzog die regnerische Stadt Domino. Wie der Wetterbericht vorrausgesagt hatte, sammelten dicke Wolken ihre Last und warfen diese gegen sechst Uhr abends ab.
Der Regen wurde von Zeit zu Zeit immer undurchdringlicher oder verschwand so plötzlich, wie er gekommen war, um wieder nach einer kurzen Pause neu anzusetzen und die Trübe der Stadt beizubehalten.
Man sah die Leere der Stadt beim Vorbeigehen an Supermärkten. Keine Menschenschlangen an der Kreuzung, die sehnsüchtig das grüne Aufflackern der Ampel erwarteten, um ihren erwünschten Ort zu erreichen. Wie die Jahre zuvor wurden Weihnachtsartikel einen Monat vor Beginn angepriesen, ob Gebäck, Geschenkpapier oder allerlei Schmuck für den Weihnachtsbaum, der seit einem halben Jahr billig verkauft wurde.
War es das alles Wert, nur um einige Tage weder zur Arbeit noch zur Schule gehen zu müssen? Wurde Weihnachten Ende Dezember gefeiert, oder fand die eigentliche Feier auf den Straßen beim Einkaufen der Geschenkartikel statt?
Vorbei an Männern, die sich in ein rotes Kostüm gezwängt hatten und um spenden bettelten, vorbei an Ständen mit Glühwein und Kaffe bis hin zu einem Elektrofachgeschäft, dessen Angebote an Fernsehern im Schaufenster präsentiert wurden. Das gleiche Programm auf zehn gleichen Fernsehern, die die Vorbeigehenden durch das Schaufenster lockten.
Der Wetterbericht.
Und wieder hieß es, man erwarte sonnige Tage und windstille Nächte. Und wie immer wurde man enttäuscht.
Ein leichtes Seufzen entfuhr dem neugierigen jungen Mann, der vor dem Schaufenster stand und die Leute an sich vorbei ziehen ließ.
Er trug eine schwarze Jacke, bei der sich nicht die Mühe gemacht wurde, sie zu zuknöpfen. Darunter einen alten Pullover, eine nasse Jeans, die auffällig durch ein Loch am Knie ihr Alter verriet und Turnschuhe, dessen Schnürsenkel nach Lust und Laune in jeder Pfütze baumelten, die anzutreffen war.
Der Himmel verfinsterte sich erneut und ein ließ ein Grollen ertönen, das die Unwetter der vorherigen Tage um einiges übertraf. Voller Panik rannten die Leute an Joey Wheeler vorbei. Einige nur, um nicht nass zu werden und andere wiederum, die einen Taifun befürchteten.
Man hörte Schreien, Lachen, Fluchen.
Die Autos fuhren mit übertriebener Geschwindigkeit in Pfützen rein und überfluteten hin und wieder den Bürgersteig. Völlig kalt gelassen von der unangenehmen Erfrischung, die nicht nur seine Jacke und Jeans abbekam, sondern auch der restliche Körper, lies er sich nicht stören. Ein weiteres Mal durchzog eine starke Böe die Stadt und ließ Regenschirme fliegen.
Die Kälte breitete sich über seinen ganzen Körper aus.
Der Wetterbericht war zuende und längst lockten Nachrichten vorbeigehende Passanten an das Schaufenster. Sein Interesse verloren an der Welt und deren Problemen, zog er weiter.
Mit mäßigen Schritten bewegte sich sein Körper an weiteren Schaufenstern vorbei, die ihre Waren aufwendig präsentierten.
Zur Weihnachtszeit das Übliche.
Die Lichter der Laternen und Neonlichter in Form von Weihnachtsbäumen, Herzen oder Sternen beleuchteten die Straßen und verliehen der nassen Stadt einen traurigen Anblick. Wiedereinmal überkam Joey ein fröstelndes Gefühl. Schon seit langem beschäftigte ihn etwas. Er kannte dieses Gefühl nicht, spürte aber bereits seit einigen Tagen oder auch Monaten, dass sich etwas in ihm verändert hatte.
In ihm oder in seiner Umgebung...
Wie er es auch anpackte, die Wurzel seiner psychischen Probleme lag tiefer als er dachte. Völlig in Gedanke versunken tapste er in etliche Pfützen.
Plötzlich spürte er einen harten Schlag auf seiner Schulter. Blitzschnell hob er den Kopf um dem Schmerz ein Gesicht zu verleihen. Überrascht stellte er fest, dass der Gehweg immer schmaler wurde und er deswegen unbewusst einen hochgewachsenen Mann streifte. Der genannte schimpfte in sich hinein und antwortete grimmig auf den Zusammenstoß.
"Pass besser mal auf, Kleiner!" Unbeeindruckt drehte er sich wieder um und ging seine Wege.
" Diese Jugend heutzutage. Kein Benehmen."
Immer noch starrte Joey dem grimmigen Mann hinterher. Überlegte, was er nachschreien wollte, ließ es aber dennoch sein. Langsam setzte er sich wieder in Bewegung.
Völlig in Gedanken bei seinem Problem, sofern es eins war, lief er weiter, an Supermärkten, Gebäuden und etlichen Restaurants vorbei.
Der Regen nahm immer mehr teuflische Züge an. Der Wind peitschte von allen Seiten, die Dunkelheit umarmte die Stadt.
Eine Uhr schlug Viertel vor acht.
Joey vertiefte seine eisigen Hände in den Jackentaschen und presste diese eng an seinen Körper, um etwas Wärme zu erhalten. Wohl kaum würde der Regen jetzt aufhören und wenn, dann bliebe der Wind.
Er sah sich um.
Seine Gedanken haben ihn unbewusst in eine Seitengasse gelockt.
Finster, eng, schmutzig.
Er lies seinen melancholischen Blick schweifen, die Dunkelheit, der Regen und Wind stahlen ihm jegliche Sicht.
Und schließlich war es ihm egal. Er setzte sich auf die dritte Stufe einer Feuerwehrleiter, zitterte kurz auf, als er die nasse Fläche berührte und entschied sich, keine Lust mehr auf sein Leben zu haben.
Vor einigen Stunden, es kamen ihm wie Jahre vor, verlies er die Wohnung seines Vaters.
Er nannte sich schon lange nicht mehr sein Sohn und wohnte auch nicht bei ihm. Kurz kam er, um sich umzuziehen, zu duschen, vielleicht auch übernacht zu bleiben, oder schnell einen Blick in den Kühlschrank zu wagen, um öfters festzustellen, dass zuviel Bier darin war. Er war froh seinen Vater nicht sehen zu müssen. Lieber kam er erst, wenn er weg war. Leider lies sich dies nicht immer einrichten.
So auch heute.
Das Übliche.
Joey kam rein, bekam eine unnötige Predigt, wo er denn die ganze Zeit war, manchmal schlug er ihn, nur um seinen Stress an ihm abzureagieren. Joey wehrte sich schon lange nicht mehr dagegen. Hin und wieder jedoch stieg die Wut ins unermessliche. Er fühlte sich gezwungen ihm genau das anzutun, was er ständig praktizierte.
Kurzum, an diesem Tag lief es nicht anders. Nur noch schlimmer machte es die Sache, dass weder sein auf-dem-Papier-und-in-den-Genen-lesbaren Vater noch er selbst, Joey Wheeler, gute Laune hatte.
Er schlug seinen Vater, wehrte sich gegen seine Faust. Schrie auf ihn ein und verlies die Wohnung, ohne gegessen, ohne ausgeruht zu haben.
Die Nacht kam und mit ihr die -5° Celsius.
Sehr gesundheitsbewusst war es nicht, bei dieser Kälte, noch dazu Unwetter, auf einer kalten Feuerwehrleiter in einer finstern Seitengasse zu sitzen und Schlaf zu finden.
Nein, hier konnte er nicht bleiben.
Und seine Freunde wollte er nicht belästigen. Auch Yugi nicht, obwohl er es ihm sicher verzeihen würde, wenn er für einige Tage um Unterkunft bittet. Ihm fiel Serenity, seine Schwester, ein. Würde sie in derselben Stadt wohnen, säße er längst bei ihr und tränke eine heiße Tasse Tee.
Er erinnerte sich an staatlich zugelassene Unterkünfte für Obdachlose. Er sah kurz auf seine Klamotten runter. Ein schwaches Lächeln bestätigte seine Idee. Mühvoll und müde stand er auf und verlies die Seitengasse.
Schon nach einigen Schritten machte sich sein Hunger bemerkbar.
Der Magen knurrte, die Beine zitterten vor Kälte, der Verstand ließ Halluzinationen zu.
Direkt vor ihm, über der vierspurigen Hauptstraße, hielt eine Limousine an. Joey hörte durch den schwachen Verkehr das Knallen einer Tür. Immer seltener fuhren die Autos an ihm vorbei.
Seine Neugierde wuchs, er wollte wissen, wer in der Dunkelheit, nicht gerade im besten Teil der Stadt mit einer Limousine anhielt.
Die Geschäfte waren zu, keine Menschenseele auf der Straße zu finden.
Joey konzentrierte sich auf den Wagen und auf die Person, die daraus steigen sollte, nachdem der Chauffeur die Hintertür zu öffnen begann. Doch bevor er auch nur einen einzigsten Blick darauf werden konnte, fuhr ein Lastwagen mit etlichen Anhängern direkt an ihm vorbei. Der junge Mann schreckte zurück.
Ungeduldig sprang er von einem Bein auf das andere um sowohl seinen Gliedern etwas Wärme zu spenden, als auch seine Ungeduld zu besänftigen. Alle Sinne bis aufs äußerste gespannt, sah er den letzten Anhänger an sich vorbei fahren.
Überrascht starrte er auf die Stelle, wo vor einigen Minuten noch eine schwarze Limousine stand. Nichts war mehr geblieben, außer der Neugier in Joey´ s Inneren.
Seine Schmerzen und sein Hunger vollkommen vergessend, sah er zu seiner Linken und Rechten, lief so schnell wie sein Körper ihn tragen konnte auf die andere Straßenseite und realisierte nun schon zum zweiten Mal, dass weder Wagen noch Insasse aufzufinden waren.
Enttäuscht über seine Langsamkeit, sank er müde auf den Bürgersteig und lies seine nassen Schuhe in einer Pfütze schwimmen. Das Wasser der Pfütze erwies sich trotz der Minusgrade als warm.
Oder verließen ihn seine Sinne vollkommen und in Wahrheit ruhten seine Füße auf Eis?
Er stützte sich mit den Ellbogen am Knie ab und bettete sein Gesicht in seine Hände. Langsam schlossen sich seine Lider. Das schwache Licht der Laterne neben ihm flackerte unaufhörlich. Kaum noch fuhren Autos vorbei. Der Regen peinigte den einigsten Passanten, ohne dabei etwas von seiner Stärke einzubüssen.
Im Halbschlaf hörte er leise Schritte, das Schließen einer morschen Ladentür riss ihn aus dem Schlaf.
Wie in Trance versetzt, hörte er gespannt zu, die Augen immer noch geschlossen.
Nun vermehrten sich die Schritte.
"Vielen Dank! Vielen Dank!", die aufgeregte Stimme eines alten Mannes, die nach Anerkennung bietet. Joey drehte sich blitzartig um. Das Uhrengeschäft, vor welchem er gegen seine Müdigkeit verloren hatte und nun zum Sitzen gezwungen wurde, stand offen. Das Licht schien schwach von der Kasse bis hin zu den zwei Personen, die Joey nicht erkannte, weil diese mit dem Rücken zu ihm standen.
Sie waren kaum einige Meter von ihm entfernt und doch schienen sie ihn nicht zu bemerken. Joey streckte seinen Kopf etwas nach vorne, um den alten Mann zu betrachten, doch wurde seine Sicht auf Grund eines weißen, langen Mantels vor ihm blockiert.
Und jetzt erst erkannte er die Gestalt direkt vor ihm!
So blind ihn sein Hunger auch machte, es gab nur einen, den er jetzt nicht sehen wollte, geschweige den begegnen.
Eine raue Stimme riss ihn aus seinen Gedanke, die ihn lähmten.
"Ich gebe Ihnen nur noch eine Woche."
Darauf bedankte sich der zweite unaufhörlich und übertrieben, schnalzte mit der Zunge und versicherte, die gewünschte Ware würde nächste Woche abzuholen sein.
Joey, inzwischen sich zur Straße wendend und immer noch sitzend, packte die Kapuze seiner Jacke und zog diese über seinen Kopf. Sekundenspäter hörte er ein leichtes Knistern. Es schien, als wollte Seto Kaiba wieder gehen.
Aus Neugierde und zur Versicherung, dass es wirklich Kaiba war, drehte er sich um und blickte in saphirblauen Augen, die durch das schwacheinfallende Licht der Laterne Zorn entfachten. Joey, sich selbst beschimpfend, warum er sich umgedreht hatte, weitete seine Augen. Auf so eine Konfrontation war er nicht vorbereitet.
Nicht nach so einem Tag. Nicht vor so einer Nacht.
Tausend Gedanken schwirrten ihm im Kopf. Weswegen war er hier? Welche Geschäfte hatte er mit einem alten Ladenbesitzer im schmutzigsten Teil der Stadt zu machen?
Das erste, was im einfiel, war Rauschgift. Er kannte Kaiba nicht, schloss Drogen also nicht aus. Das würde seine Launen erklären...
Sekunden verstrichen, Joey, vor Hunger und Kälte fast sterbend, bot einen niedergekommenen Eindruck, der bei Kaiba, ja, wie konnte es auch anders sein, nichts auslöste.
Joey musterte ihn ganz genau. Keine Augenringe, kein Zittern der Hände verrieten einen möglichen Drogenkonsum.
Er fragte sich, was er gerade dachte. Einen Streit konnte er nicht riskieren, denn er würde ihn verlieren. In seinem Zustand war er nicht im Stande seine Faust in Kaibas femininen Körper zu rammen.
Vielleicht hoffte er auf einen unangenehmen Wortwechsel, doch dieser blieb aus. Rasch drehte sich der junge Mann um, prononcierte pünktliches Erscheinen der Ware, worauf der ältere Herr ein weiteres Mal mit der Zunge schnalzte und unaufhörlich bejahte. Trotz des starken Regens schwenkte er seinen Mantel elegant zur Seite und schritt mit seinem gewohnten, schnellen Gang die düstere Straße entlang, um vor Joey´ s Augen in eine andere Straße einzubiegen. Die beiden zurückgelassenen Männer hörten des Knallen einer Tür und das kaum hörbare Anfahren eines teuren Wagens.
Die Limousine fuhr davon.
Der Händler starrte auf Joey, sein Blick verriet Arroganz. Wieder schnalzte er mit der Zunge, beschimpfte Joey als Lumpenpack, das kein Zuhause hat und ging gemächlich zu seinem Posten an der Kasse.
Der Regen lies nach, doch die Ansammlung der Wolken verrieten nichts Gutes. Joey nutze die Chance, stand auf und lief zur Kreuzung, an der noch vor einigen Minuten Kaiba einbog. Wie erstarrt blickte er nach vorn, als erwarte er dieselbe schwarze Limousine mit offenen Türen vor sich. Er mochte Kaiba nicht, seine Arroganz und seine unmoralische Verschuldung trieben ihn in den Wahnsinn. Doch wünschte er sich in diesem Augenblick Zufriedenheit, Trockenheit und Stillung seines Hungers. Seinen Gedanken verlassend, eine Unterkunft für Obdachlose zu finden und dort über Nacht zu bleiben, trottete er die Straße weiter entlang.
Nichts änderte sich. Alles in seinem Leben, so schien es ihm seit langer Zeit, würde so bleiben.
Und da war noch sein Problem.
Vollkommen vergessen ruhte es in den Tiefen seiner Erinnerung.
Selbst prophezeite er sich, es sei nur eine Lappalie, doch belog er sich damit nur selbst. Weshalb konnte dieser Kaiba seinen Schandmaul nicht halten und ständig über ihn herziehen? Joey wünschte sich ihm in dieser Sache eine gehörige Abreibung zu verpassen, die sich mit allen Wassern gewaschen haben würde. Bei diesen Gedanken spürte er Glückshormone in sich aufsteigen. Er wollte ihn schlagen, wollte ihn bluten sehen. Mit einem leichten Seufzer verbot er sich diesen Gedanken. Früher war er ein Schläger und wollte es auch nie wieder sein.
Immer noch tapste er durch die finstere Stadt und entschied, dass er definitiv zu lange unterwegs war. Langsam spürend, dass ihn seine Kräfte nun endgültig verließen, sah er sich erneut um. Joey bereute es, sein Portmonee zu Hause liegen gelassen zu haben, inzwischen würde da wohl ohnehin nichts mehr liegen. In dieser Sache kannte er seinen Vater zu gut.
Vor ihm streckte sich eine Allee aus Ginkobäumen.
Die Blätter längst zu Boden gefallen, die Wolken verbargen das helle Licht des Mondes.
Vielleicht, ja vielleicht, würde ihn ein freundlichgesinnter Mensch in die Stube lassen, ihm Brot und Wasser geben. Joey wollte nicht betteln, doch als Gegenleitung versprach er sich, etwas zu tun.
Egal was.
Tellerabwaschen, Garage aufräumen.
Er sah zum Himmel und schwor sich, falls er bis zum nächstliegenden, bewohnten Haus lebend ankommen würde, an der Tür zu klopfen und nach einer Bleibe für wenigstens eine Nacht zu fragen. Oder wenigstens nach Nahrung, denn die brauchte er jetzt am nötigsten.
Von diesen Gedanken beflügelt, lief er weiter. Die endlose Allee schien ihre nächtlichen Ranken über Joey´ s Verstand gelegt zu haben. Seine Müdigkeit nahm weiter zu. Sein Magen, ein riesiges Schwarzes Loch, knurrte unaufhörlich. Und zum ersten mal wünschte er sich, Kaiba gefragt zu haben, ob er denn die Güte besessen hätte, ihm etwas Geld zu geben oder ihn gleich zu Yugi zu fahren. Bei diesem Gedanken durchzog ein breites Grinsen sein Gesicht. Ein leises Keuchen entwickelte sich zu einem hysterischen Lachen, das bald wieder abflaute.
Die Arme fest um den Körper geschlungen, fühlte er sich allein.
Drei Schritte.
Zwei.
Eins.
Ein Nebelschleier legte sich über seine Füße.
Er wusste genau, wo er war und langsam fing er an sich selbst zu fragen, ob ihn sein Instinkt hierher geführt hat oder sein Herz. In beiden Fällen ließ ihn ein lähmendes Zittern stoppen. Sollte er sich in letzter Zeit zu oft Gedanken um den guten alten Seto Kaiba gemacht zu haben?
Er schüttelte sich, so als könne er solche Gedanken über Bord werfen.
Nun sah er es. Nur wenige Schritte vor ihm ein großer Zaun. Joey wusste, es war an der Zeit sich zu entscheiden...
Und er entschied sich... ...zu Leben..., wohl wissend, dass das launische Glück des Schicksals auch für ihn ein Lächeln übrig haben wird.
Irgendwann.
Er ließ seinen Blick schweifen, niemand war zu sehen. Langsam umfasste er die kalten Stahlgitter, setzte den Fuß auf den anderen, um möglichst weit oben anzugelangen. Er spannte seine Muskeln im Arm, hob kurz seinen Körper und schwenkte sich auf die anderen Seiten um lautlos auf den Füßen zu landen.
Schon oft hatte er das gemacht.
Doch diese mal vergas Joey seine Kraftlosigkeit und die Kälte seines Körpers einzukalkulieren. Auf halbem Weg setzte die Kraft der Arme aus, der schwere Körper sank nach unten. Unbeholfen landete er mit dem Schritt auf der Spitze des Zaunes, noch rechtzeitig das Schlimmste verhindernd.
Ein schmerzlicher Schrei zerriss die Stille der Nacht.
Völlig gelähmt ließ er sich fallen, traf mit dem Rücken zuerst auf dem vereisten Boden auf. Sofort glitten seine Hände zum Schritt. Als wenn der Schmerz dadurch aufhören würde, wälzte er sich auf dem Boden und biss die Zähne fest zusammen. Seine Lippen, von der Kälte gezerrt, formten schon bald kleine Risse, aus denen Blut floss. Der Schmerz verblasste, die Kälte nahm zu.
Aus Angst, seine Hoden hätten weit größeren Schaden genommen, blieb er weiterhin liegen, ...
...im Vorgarten der Villa Kaiba!
Im gefiel es nicht, hier zu liegen.
Mühsam stellte er seinen schwergewordenen Körper auf die Beine.
"Komm schon! Der Joey, den ich kenne, zieht die Sache jetzt durch!"
Selbst Mut zusprechend, bewegte er sich an den Nadelbäumen vorbei. Die Nacht verschleierte sein verzerrtes Gesicht.
Vor der großen Tür blieb er instinktiv stehen. Noch ein Mal ging er seinen Plan durch. Kaiba konnte ihn nicht bei Minus 5° Celsius und dem Unwetter, das sich wieder anbahnte, auf die Straße werfen.
Er hoffte es zumindest.
Seine Hoffnung setzte er allerdings auf dessen Bruder. Er wusste, wenn Kaiba ihm nicht helfen wollte, und sicher wollte er das nicht, dann könnte er Mokuba um diesen Gefallen bitten.
Er war keinesfalls wie sein großer Bruder. Gott sei Dank, fügte er seinen Gedanken hinzu. Weder hatte er etwas gegen Yugi, noch gegen ihn. Schon öfters hat Mokuba ihnen geholfen oder um Hilfe gebeten, ohne das Kaiba etwas davon mitbekam. Er erinnerte sich an das Virtual Reality Spiel das Kaiba entworfen hatte und selbst darin in Schwierigkeiten gelang.
Manchmal fragte er sich, was denn der Typ genau gegen ihn hat. Er selbst mag ein durchschnittlicher Duellant sein, aber war es der Kern, weshalb er ihn permanent fertig machte?
Er schüttelte sich erneut, um zu verhindern, tiefer in seine Gedanken einzutauchen.
Ein lautes Läuten ertönte.
Joey versuchte, so vertrauenswürdig zu erscheinen wie möglich, klopfte hastig den Dreck und einige Grashalme von seinen Klamotten ab. Noch einmal streckte er seine zitternde Hand aus, um zu läuten.
Nun wartete er.
Bereits nach wenigen Minuten fielen dicke Tropfen auf den Boden. Schwache Blitze und Grollen im Abstand von wenigen Sekunden verrieten, dass dies der Anfang war und in der Nacht schlimmer werden würde.
Der regnerische Tag färbte sich auf die Nacht über.
Horchend schlang er seine Arme um die Taille, um seinen Körper wieder Wärme zu spenden. Joey versuchte sich zu erinnern, ob er Licht in irgendeinem Fenster gesehen habe, als er vor dem Zaun stand und später zu der massiven Eingangstür schlich. Schmerzhaft fiel ihm sein Missgeschick ein.
Nein, er hat darauf gar nicht geachtet.
Doch konnte eine so große Villa, noch dazu bei Nacht und Gewitter, leer stehen? Vollkommen Leer?
Während er seine Augen schloss und fieberhaft betete, spürte er eine angenehme Wärme auf seinem Gesicht. Rasch öffnete er seine Augen. Die Tür, noch vor einigen Minuten geschlossen, zeigte einen offenen Spalt, dessen Inneres Licht und Wärme aufbewahrte. In der zur Hälfte geöffneten Eichentür erschien ein mittelgroßer Mann, der einen Anzug trug und uninteressiert fragte: "Wer sind Sie und unter welchem Anlass kommen Sie?"
"Ich...", er stockte und fragte sich selbst was er hier wollte. Schnell fasste er wieder seine Stimme und sprach weiter. "Ich bin mit Mokuba verabredet. Ruf ihn doch endlich, ich habe keine Lust hier weiter im Regen zu stehen." Improvisierend trat er einige Schritte vor und ließ dem Butler keine andere Wahl, als ihn durchzulassen und in der Einganshalle zu dulden.
Die Tür schloss sich hinter ihnen.
"Jawohl." Etwas misstrauisch verlies der Mann den ungebetenen Gast, um danach das Verlangte zu holen.
Erfreut, dass er leichter reinkam als erwartet, wärmte Joey seine Hände durch den heißen Atem auf, den er ihnen zuführte.
Er sah sich um.
Die große Halle, in der er sich befand, wies viele Gänge zu fast allen Seiten auf. Gegenüber der Eingangstür befand sich eine große Treppe, die in die zweite Etage führte.
Er war schon einmal hier und war sich sogar sicher, dass sich einiges Verändert hatte, obwohl es zirka ein Jahr her sein müsste.
Rosige Erinnerungen waren das nicht gerade. Damals wurden Yugi und er von Mokuba eingeladen. Nachdem Mokuba ihn beinah vergiftet hatte und Kaiba sein Projekt "Death - T" startete, um Yugi zu schaden und seine Niederlage zu arrangieren, hatte er auch keinen Grund gehabt, in diese Villa zu kommen.
Eingeladen wurde er nicht und freiwillig wollte er erst recht nicht. Mal davon abgesehen, dass ihn auch keiner reinlassen würde.
Ein heftiges Donnern ließ ihn zusammenfahren. Gleich darauf durchzog ein greller Blitz die Atmosphäre.
Ungeduldig ging er hin und her um sich die Zeit zu vertreiben. Das Prasseln an den Fensterscheiben erweckte seine Neugier.
Konnte es denn so stark regnen?
Der Himmel, immer düster werdend, schien die Wolken nicht mehr loswerden zu wollen. Schon seit Tagen das gleiche Schauspiel. Joey kniff seine Augen leicht zusammen, um etwas erkennen zu können. Der ungewöhnliche Dezemberregen gepaart mit etwas Hagel, heftigem Wind und Kälte, versperrte die Sicht auf den saubergehaltenen Vorgarten.
Ein Schaudern durchlief ihn.
Er wollte nicht die Nacht draußen verbringen. Die Kälte saß ihm immer noch im Nacken. Aus dem Fenster schauend, die das Dreifache seiner Größe hatten, hörte er Schritte hinter sich, dumpf und dennoch klar. Joey wollte seinen schlimme Vorahnung runterschlucken, doch blieb sie ihm im Hals stecken.
Nichts konnte schlimmer sein, als vor Seto Kaiba bei diesem Unwetter rausgeschmissen zu werden und wohlwissend, dass er die Nacht im warmen, satinüberzogenem Bett verbringen würde.
Joey drehte sich um.
Seine Augen leicht geweitet und durch nasse Haarsträhnen blockiert, zeigten sie ihm einen Jungen, der genauso überrascht aussah, wie er selbst.
"Joey?"
Unsicher fragte dieser nach, um nicht Gefahr zu laufen, das er alles nur träumte. Er machte einige Schritte auf Joey zu. Sein weißes Hemd, eine bereits aufgeknotete Krawatte um den Hals und seine schwarze Hose, machten Joey sichtlich nachdenklich.
Mokuba begriff.
"Ach! Das ist eine lange Geschichte!" Kurz pausierte er. "Aber was machst du hier?" Joey mühte sich ein Lächeln ab.
Er fühlte sich soweit okay, dass ihm Mokuba nicht aggressiv entgegentrat und sein besorgter Blick verriet dem jungen Mann, dass ein Rausschmiss von ihm nicht zu befürchten sei.
"Der Regen. Ich kam zufällig vorbei und..." Joey überlegte. Nichts konnte sein Erscheinen rechtfertigen.
Mokuba lächelte.
"Nein. Ehrlichgesagt, ich kann nicht nach Hause. Mein Vater..." -"Du hast dich also mit deinem Vater gestritten und magst nicht mehr nach Hause gehen, hab´ ich recht?"
Verblüfft starrte Joey ihn an. Der Junge hatte die Sache klar durchschaut und begriff, dass er Hilfe brauchte.
"Hey, Alter! Du bist gut!"
Mokubas Lächeln verschwand. Er sah den Blonden traurig an, drehte sich um und versicherte sich, dass sie allein waren.
Wieder zeriss ein heftiger Donnerschlag die Luft.
"Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen. Wie gesagt, nach Hause kann ich nicht. Aber wenn du mich raus schmeißt, dann könnte ich..."
"Wie? Dich raus schmeißen? Bei diesem Wetter?" Der jüngere lachte kurz auf. Es war ein verständliches Lachen, typisch für ihn.
"Mokuba, hör mal. Ich werde nicht darum bitten, hier die Nacht verbringen zu dürfen. Aber wenn du mich fragst, dann bleib´ ich."
Mokuba blickte sich erneut um, so als befürchte er, jemand könnte erscheinen. Nachdenklich schaute er zu Boden.
"Aber um ehrlich zu sein, besonders scharf bin ich nicht drauf, hier zu bleiben. Was bleibt mir schon übrig... du kannst doch verstehen, dass ich nicht Draußen die Nacht verbringen möchte." - "Seto wird nicht erfreut darüber sein..." "Dann sag es ihm einfach nicht. Die Villa ist so groß, der bekommt schon nichts mit." Seinen eigenen Worten kein Glauben schenkend, legte Joey die Arme überkreuz und rieb seine Arme, um sich weiterhin zu wärmen.
Zögernd lächelte er.
"Ja. Ja, ich denke, dass wird schon okay sein, wenn du für eine Nacht hier bleibst." "Klasse! Ich bin dir was schuldig! Sag mal, warum trägst du diesen Fummel überhaupt?" Joey zeigte auf sein Hemd und die aufgelöste Krawatte. "Um es kurz zu sagen, Seto war auf einem Galaabend eingeladen und ich sollte mit."
Er legte seine Hände hinter seinen Kopf zusammen und lachte. "Steht mir nicht, so ein Anzug!"
Joey fühlte die Wärme in seinem Inneren. Es war richtig gewesen, sich auf Mokuba verlassen zu haben. Nun fühlte er die Zuversicht, eine angenehme Nacht empfangen zu dürfen. Es war ihm egal, wie stark der Regen noch zunehmen würde, es kümmerte ihn nicht mehr.
Trotz der Kälte, die nur langsam seinen Körper verlies und dem ungeheuren Hungergefühl, fing auch er an zu lachen. So witzig fand er es nicht, denn das Hemd stand Mokuba und sonst passte auch alles, doch wollte er einfach lachen und das Gefühl der Zufriedenheit dadurch verstärken.
Sein Hunger meldete sich wieder. Er öffnete die Augen, die sich durch das Lachen geschlossen hatten, um Mokuba nach etwas Essen fragen zu wollen.
Doch stoppte er in seinem Vorhaben.
Seine Augen weiteten sich, er fühlte, wie sich sein Magen zusammenzog und konnte gegen die panisch aufsteigende Verzweiflung nichts machen.
Joey sah hoch zur Treppe.
Nun stand er da.
Knapp 1 Meter 90, stattliche Modelgröße, sein Hemd knapp am Kragen geöffnet. Die Haare strähnig, wie immer.
In seinem Blick schürte sich Hass.
Wie gelähmt starrte er Joey an. Seine unangenehmen Blicke wurden intensiver, indem er die Augen leicht zusammenkniff und seinen Namen langsam aussprach, als würde er dadurch wieder verschwinden.
"Wheeler." ...
