Stille Wasser

Christine
Noch immer spürte sie seine Lippen auf den Ihren, schmeckte das Salz seiner Tränen und hörte den Widerhall seines wild klopfenden Herzens in ihrem eigenen Körper.
Sie sah noch immer seinen sehnsuchtsvollen Blick, als er schon lange aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
Nur ganz dumpf nahm sie war, dass jemand seinen Arm um sie legte und sie mit sanfter Gewalt fortführte.
Sie spürte die feuchte Luft des Sees auf ihrem Gesicht und das leichte Schwanken unter ihren Füßen verriet ihr dass sie sich nun in Eriks kleinem Boot befand.
Eine verschwommene Gestalt drückte sie in die Kissen und die Geräusche des Wassers verrieten dass das Boot vom Ufer abgestoßen wurde.
Verworrene Satzfetzen versuchten in ihr Bewusstsein vorzudringen, doch zu ihr sprach nicht die Stimme nach der ihre Seele verlangte. Diese Stimme klang disharmonisch in Ihrem Kopf und verschleierte Ihre Gedanken nur noch mehr.
Dann ein Ton, ein Stück einer vertrauten Melodie drang an ihr Ohr und ihr Blick schien sich zu klären, ihre verwirrten Gedanken fügten sich zu einer neuen Einheit.
Sie begriff dass sie sich in der Mitte des unterirdischen Sees befand und die Stimme die versuchte beruhigend auf sie einzureden war die Raouls.
Doch diese Situation war falsch. Sie hatte sich entschieden, vor wenigen Augenblicken, und doch war ihre Wahl nicht anerkannt worden.
Nichts stimmte hier. Christines Welt stand Kopf.
Sie sah zu Raoul auf und blickte ihm fest in die Augen.
"Raoul, ich möchte zurück, bitte!" Erstaunt erwiderte er Ihren Blick und schien seinen Ohren nicht trauen zu wollen.
"Christine, beruhige dich. Alles wird gut. Er hat uns gehen lassen."
Das freudige Leuchten seiner Augen schmerzte sie.
"Nein, Raoul, es geht nicht, ich muss zurück..."
"Christine, du weißt ja nicht was du sagst. Ich werde dich nicht diesem Monster überlassen. Für keinen Preis der Welt!"
Entschlossen manövrierte er das kleine Boot weiter über den See.
Wenn sie erst am anderen Ufer angelangt waren, war es zu spät. Er würde sie mit Gewalt von hier fort bringen.
Sie handelte blitzschnell. Noch bevor Raoul in irgendeiner Weise reagieren konnte sprang sie auf und stürzte sich in die dunklen Wasser des Sees.
Sie musste zu Erik zurück. Die Angst vor dem was geschehen würde wenn ihr wieder einmal jemand die Entscheidung aus der Hand nahm machte sie schier wahnsinnig.
Jede Faser ihres Körpers schrie nach Erik, nach seiner dunklen Sehnsucht die eine verborgene Leidenschaft ihn ihr geweckt hatte. Diese Leidenschaft würde sie verzehren wenn er nicht an ihrer Seite wäre. Sie verlangte mit ganzer Seele nach seinen rauchblauen Augen und sehnte sich nach der Berührung seiner schönen Hände.
Doch die Realität traf sie bitter. Die unmenschliche Kälte des Wassers lähmte ihren Körper und selbst ihre Gedanken schienen zu erlahmen.
Die Kälte nahm ihr den Atem und sie erwartete dass ihr Herz jeden Moment erstarren würde.
"Schwimm..." war ihr einziger Gedanke.
Doch die Schmerzen waren unerträglich. Es war als peinigten Hunderte von Nadeln jeden Zentimeter ihres Körpers.
Sie konnte nicht atmen und innerhalb von wenigen Sekunden hatte sich Ihre Kleidung mit Wasser vollgesogen und wurde zu einer zusätzlichen, nicht zu tragenden, Last.
Zuerst versuchte sie voranzukommen, dann versuchte sie nur noch verzweifelt über Wasser zu bleiben.
Für einen kurzen Moment nahm sie wahr dass Raouls Stimme über den See nach ihr rief und die unzähligen Kerzen einen flackernd goldenen Schein auf das Wasser warfen, dann wurde alles still.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie Erik, er lächelte Ihr zu, doch die unendliche Traurigkeit in seinem Blick zerriss ihr fast das Herz.
-Erik, es tut mir so leid. Hätte ich mich doch nur früher entschieden,- sandte sie einen Gedanken an ihn.
Dann senkte sich Frieden über sie. Sie sank unaufhaltsam in die Tiefe und hörte auf zu kämpfen.
Das Sterben war süß und das Einzige was diesen Frieden durchbrach war der Gedanke daran Erik zurückzulassen. Er machte sie traurig. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie geweint.
Doch sie hielt die Augen geschlossen und lauschte in die Stille hinein.
-Raoul, verzeih einem dummen Mädchen. Ja? Die kleine Lotte liebt dich wie am ersten Tag. Doch Christine muss ihrem Engel folgen. Lebe wohl, teurer Freund!-
Ihre Lungen erhoben nun einen schmerzhaften Protest gegen den Sauerstoffmangel doch auch dies spürte sie nur noch am Rande ihrer Wahrnehmung.
Ein lauter aber dumpfer Schlag durchbrach die vollkommene Stille. Das Wasser um sie herum war in Aufruhr.
Das Letzte das sie spürte waren zwei starke Arme die sie umfingen und zurück an die Oberfläche zogen, dann glitt sie hinüber in die samtenen Schatten der Nacht.
-Erik...-

Erik
Er hatte sie fortgeschickt denn sie sollte nicht länger unter seiner Liebe leiden.
Sie hatte es verdient zu leben, im Glanz der Sonne und geschützt von der warmen Liebe eines normalen, jungen Mannes.
Ja, Raoul würde sie glücklich machen, zweifellos und das wünschte er sich für sie.
Mit Mühe erhob er sich vom Boden, doch die Tränen wollten nicht versiegen.
Hunderte von Tränen die seit Jahrzehnten darauf gewartet hatten geweint zu werden verlangten nun ihr Recht.
Er sah seine Wohnung wie durch einen dichten Schleier und die Flammen der Kerzen verschwammen vor seinen Augen zu goldenen Kristallen die ihn zu seiner Orgel geleiteten.
Noch einmal wollte er für sie spielen, ihre Weg über den See mit seiner Seele begleiten.
Seine Finger fanden mühelos die richtigen Tonfolgen auf der Tastatur.
Sanft schwang sich seine Stimme mit seiner Musik empor und glitt über den See.
"Trag mein Herz hinaus, Christine, laß es durch dich die Sonne sehen. Laß es durch dich leben und der Einsamkeit entfliehen."
Ein plötzliches Geräusch ließ ihn in der Bewegung erstarren und ein langgezogener Akkord hing sekundenlang im sonst stillen Raum.
Das Boot hatte angehalten, die gleichmäßigen Paddelstöße waren verstummt und dem Geräusch aufgewühlten Wassers gewichen.
Ohne zu zögern sprang er von der Orgel auf und stürzte aus der Tür.
Blitzschnell erfaßte er die Situation. Raoul stand verloren und sichtlich verwirrt in der Mitte des Bootes. Christine war ins Wasser gesprungen und versuchte sich, sichtlich wenig erfolgreich, durch das Wasser vorwärts zu kämpfen.
Welcher Wahnsinn! Die Temperatur des Wasser lag nur ein wenig über dem Gefrierpunkt. Sie würde ertrinken.
Mit einer schnellen Bewegung entledigte er sich seiner Frackjacke und stürzte sich in den See.
Er mußte sich beeilen denn auch er konnte der Kälte des Wasser nicht lange standhalten und die unterirdischen Strömungen der Seine war unberechenbar.
Als er die Stelle erreicht hatte an der er Christine zuvor entdeckt hatte war von ihr schon nichts mehr zu sehen.
Er tauchte hinab zum Grund, bekam sie zu fassen und zerrte ihren leblosen Körper zurück an die Oberfläche.
Das Boot schaukelte sacht neben ihm als er auftauchte und mit einem Wink hieß er Raoul ihm zu helfen.
Der Junge war vollkommen hilflos und tat was ihm geheißen wurde.
Mit einiger Mühe schafften sie es Christine zurück in das Boot zu befördern und sie auf die orientalischen Kissen zu betten.
Erik entriss Raoul das Ruder und mit ein paar wenigen Stößen befanden sie sich wieder am Ufer zu seiner Wohnung.
Der Vicomte hatte keine Zeit zu protestieren als Erik Christine auf die Arme nahm und sie in das für sie eingerichtete Zimmer trug.
Sanft legte er sie dort auf das Bett und lauschte. das Ohr an ihre Brust, auf ihren schwachen Herzschlag.
Hinter ihm kam der Vicomte in das Zimmer gestürmt und blickte entsetzt auf die Szene die sich im bot.
"Sie lebt. Aber es fehlt nicht viel und wir werden sie verlieren," hörte er Erik knapp sagen.
Er war sich der Anwesenheit des Vicomtes deutlich bewusst und sein übertriebenes Anstandsgefühl war in dieser Situation vollkommen fehl am Platz.
"Monsieur," wandte er sich ihm zu. "Holen sie aus dem Nachbarraum Decken und zünden sie ein Feuer im Kamin an. Wir müssen ihren Körper wärmen. Die Unterkühlung raubt ihr die letzten Kräfte." Er nahm Christines Hände in die seinen und rieb sie sacht.

Welch seltsames Gefühl, sie so ungehemmt berühren zu können. Schnell verdrängte er diesen Gedanken.
Raoul tat wie ihm geheißen, denn er war mit dieser Situation vollkommen überfordert und wußte nicht was zu tun war. Er musste sich wohl oder übel auf die Kenntnisse dieses seltsamen Mannes verlassen.
Als er mit einem großen Stapel Decken zurückkehrte eröffnete sich im ein Bild dass er nicht akzeptieren konnte.
Erik hatte begonnen die Bänder an Christines Mieder zu lockern.
Mit einem Satz war Raoul bei ihm und stieß ihn beiseite.
"Was zum Teufel tun Sie da, Erik?"
Ein zorniges Flackern leuchtete in Eriks Augen auf, doch er zwang den Zorn den er gegen den jungen Mann verspürte nieder und bemühte sich möglichst ruhig auf ihn einzusprechen. Christines Leben lag in seinen Händen und er würde es nicht aufgeben, auf keinen Fall.
"Hören sie zu junger Mann, wir müssen sie von diesen nassen Sachen befreien sonst stirbt sie in weniger als einer Stunde."
"Aber, ich werde das nicht zulassen!" böse funkelte Raoul ihn an.
"Wollen sie etwa dass sie stirbt," schrie Erik so unerwartet dass der Vicomte zusammenzuckte und einen Schritt zurückwich.
Erik trat an Christines kleine Kommode und nahm einen Schal heraus den er sich rasch um die Augen band.
"Ich hoffe das genügt um ihr vollkommen übertriebenes Anstandsgefühl zu befriedigen. Und nun verlassen sie bitte den Raum." Eriks Stimme duldete keinen Widerspruch und so verließ er Christines Schlafzimmer und schloss die Tür.

Als Raoul in das kleine Schlafzimmer zurückkehrte lag Christine in warme Decken eingehüllt vor Erik, der sich gerade den Schal von den Augen löste.
Mit professioneller Gelassenheit besah er sein Werk und schien für den Augenblick zufrieden zu sein.

Doch das Zittern seiner Hände strafte seine äußere Gelassenheit Lügen. Eine seiner schönen Hände ruhte auf Christines Stirn während er zu Raoul sprach:
"Sie müssen nun ein Feuer entzünden, es ist viel zu kalt in diesem Raum. Ich werde in der Zwischenzeit einen Trank zubereiten der sie auch von Innen wärmen wird."
Ein kurzes Nicken bestätigte Erik dass der Vicomte ihn verstanden hatte.
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen verließ er den Raum.