Christine
Das tiefe Schwarz hatte sich zu einem dunklen Grau aufgelöst. Sie fiel nicht länger und es schien ihr als verharre sie nun in einem ruhigen Zustand.
Die Kälte allerdings war nicht gewichen und nun wieder deutlicher zu spüren als in jenem Moment in dem ihr Verstand auf der vollkommenen Schwärze sanft dahingeglitten war.
Sie fühlte einen harten Knoten aus kaltem Eis in der Mitte ihres Körpers und wollte weinen ob der grausamen Kälte.
Doch sie konnte nicht. Ihre Augen waren fest verschlossen und ihr Körper wehrte sich gegen die kleinste Bewegung.
Plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung explodierte das dunkle Grau und schlug in ein erschreckendes Purpur um. Entsetzen dehnte sich in jedem Winkel ihres Körpers aus.
Alles um sie herum schien sich nun zu drehen.
Verschwommene Silhouetten deuteten Menschen an, die sich durch ein Zimmer bewegten. Schnell und ohne sich umzuwenden.
Sie erkannte schemenhafte Möbelstücke und hörte das Rauschen von Wasser dicht hinter sich.
Dann konnte sie klarer sehen.
Sie befand sich mit Raoul in dem kleinen Boot, noch nicht weit entfernt vom Ufer zu Eriks Wohnung am See.
Raoul hatte einen Arm um sie geschlungen und seine Worte waren gellende Schimpftiraden gegen Erik.
Christines Blick weilte weiter am Ufer.
Sie sah Erik, zusammengesunken auf den Knien in der Mitte seines Wohnzimmers.
Seine Hände krampften sich in den weißen Schleier den sie vor wenigen Minuten wütend vor seine Füße geschleudert hatte. Er drückte den weißen Stoff an sein Gesicht und seine Schultern zuckten unkontrolliert.
Dann sah er auf, sah zu ihnen hinüber und streckte verzweifelt einen Arm in Christines Richtung.
Dann geschah alles sehr schnell. Eine riesenhafte, schwarze Gestalt löste sich aus den dunklen Schatten des Zimmers.
Dunkel und furchteinflößend stand sie direkt hinter Erik.
Das Gesicht unter einer Kapuze verborgen sah Christine nur kalte rote Augen die sie zu durchbohren schienen. Die Silhouette der Gestalt war in ein fließendes Gewand gehüllt, welches aber Ihre weiblichen Formen nicht verbarg.
Die Erkenntnis durchzuckte Christine wie ein heller Blitz: dies der Engel des Todes.
Riesige nass-glänzende Schwingen tauchten den ganzen Raum in tiefes Schwarz und diese Dunkelheit kroch nun auch auf sie zu. Dort wo der schwarze Schatten die unzähligen Kerzen streifte erloschen diese und nicht einmal eine Rauchschwade verriet ihr Sterben.
Sie verloschen einfach!
Raoul schien dies alles nicht zu sehen.
Er war damit beschäftigt sie an sich zu drücken und seinen Triumph über das Phantom der Oper zu rühmen.
Mit vor Angst geweiteten Augen sah Christine wie die schattenhafte Gestalt eine ihrer schlanken weißen Hände auf Eriks Schulter legte. Dieser zuckte sichtlich zusammen und seine rechte Hand fuhr in die Richtung seines Herzens, die andere streckte er weiter in Ihre Richtung aus.
Er schien die Gestalt nicht zu sehen, doch er schien sich ihrer Gegenwart durchaus bewußt zu sein.
Christine unternahm einen verzweifelten Versuch sich aus Raouls Umarmung zu befreien doch sie fühlte sich als wäre sie einem Schraubstock gefangen.
"Laß ihn in Ruhe." schrie sie dem Todesengel über den See entgegen.
Eine kalte Stimme erklang in ihrem Kopf:
-Das geht dich jetzt nichts mehr an. Was kümmert es dich jetzt noch was aus ihm
wird. Du hast dich gegen ihn entschieden und nun ist er mein! Das war er schon immer!-
Schrilles Lachen dröhnte in Christines Ohren und zerrte an ihren Nerven.
"Nein", schrie sie, doch ihr Ruf verhallte schnell in der Dunkelheit.
Wie gelähmt sah sie zu wie die Hand des Engels Eriks Schulter verließ und sich seinem Gesicht näherte.
Den Zeigefinger unter sein Kinn gelegt drehte die Gestalt Eriks Gesicht mit einem Ruck, grob zu sich herum.
Die Unfähigkeit zu reagieren macht Christine schier wahnsinnig.
Das Gesicht des Engels näherte sich nun Eriks und Christine glaubte zu erkennen wie dieser vor Entsetzen die Augen aufriss.
Die Kapuze rutschte vom Kopf der Gestalt und Christine sah sich selbst. Ihr eigenes Gesicht gehalten in den Farben von grau bis schwarz.
Kurz blitzten die roten Augen in ihre Richtung, dann senkte der Engel seine Lippen auf die Eriks.
"Christine..." wie ein Seufzen erstarb dieses Wort auf seinen Lippen und ohne eine weitere Bewegung sank er in sich zusammen. Sein Kopf fiel zurück und ruhte nun mit offenen Augen auf dem weißen Schleier am Boden.
Das rauchige blau seiner Iris war gebrochen und starrte leblos in die Dunkelheit. Christine konnte es sehen als stände sie direkt neben ihm. Die Trauer schnürte ihr fest die Kehle zu. Im selben Moment verging die Gestalt des Engels und kehrte zurück in die Schatten.
Stumme Tränen rannen über Christines Wangen.
„Nein," wimmerte sie. „nein!"
Alles um sie herum verschwamm und die samtene Schwärze kehrte zurück, zusammen mit einem wundervollen Gefühl der Wärme das sich nun schnell in ihr ausbreitete.
