Christine
Die Gedanken wirbelten wild in ihrem Kopf herum. Um sie herum herrschte Dunkelheit.
Die Hitze die versuchte sich in ihrem Inneren auszubreiten, schaffte es nicht
den kalten Ring aus Eis, der sich um ihr Herz gelegt hatte, zu schmelzen.
Mit einem tiefen Atemzug schlug sie die Augen auf. Der Name den sie laut gerufen
hatte schien noch in der Luft nachzuklingen.
Schwache gelbe Schatten tanzten um sie herum doch sie erkannte das Zimmer
sofort. Es war das Zimmer welches Erik so liebevoll für sie eingerichtet hatte.
Erik, hatte sie ihn eigentlich jemals beim Namen genannt? Dann erinnerte sie sich wieder.
Das Bild des Todesengels, der ihr Gesicht trug, tauchte vor ihren Augen auf.
Die kalten irislosen Augen schienen sich in ihren Kopf eingebrannt zu haben und
trieben ihr die Tränen in die Augen.
Wo war Erik? Ob es ihm gut ging?
Langsam wurde ihr Kopf klarer und ein neues Gefühl bemächtigte sich ihrer.
Es war als wäre sie aus einem langen Schlaf erwacht der ihr zu einer Entscheidung verholfen hatte.
Wie oft hatte sie darum gebetet, eines Morgens aufzustehen und mit Gewissheit
sagen zu können was sie wollte.
Die ständige Frage des "Für und Wieder" die sie von allen Entscheidungen abgehalten hatte, war verschwunden.
Als sich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, drehte sie langsam den Kopf.
Erik
Er sah dem fortrudernden Vicomte nach und fühlte sich erleichtert diesen
überzeugt zu haben zu gehen. Seine Stimme besaß also immer noch die selbe
Überzeugungskraft wie vor vielen Jahren.
Mit zunehmender Dankbarkeit hörte er in die Stille hinein, die ihn nun umgab. Er
fühlte sich unendlich müde und kraftlos.
Soviel war in so kurzer Zeit geschehen und er konnte immer noch nicht ganz
begreifen, warum Christine Raoul gebeten hatte sie zu ihm zurückzubringen.
Konnte dies wirklich bedeuten, daß sie sich letztendlich doch noch für ihn, Erik, entschieden hatte.
Nein, er wagte es nicht zu hoffen. Zu grausam wäre der Hohn, würde er sich wieder einmal täuschen.
In Gedanken versunken ließ er sich auf den Diwan sinken und schloß für einige Sekunden die Augen.
Er mußte schließlich kurz eingenickt sein, denn ein Schrei ließ ihn auffahren.
Es dauerte ein wenig bis er realisierte daß jemand seinen Namen gerufen hatte.
Dann erinnerte er sich blitzartig.
Christine.. sie lag nebenan in ihrem Schlafzimmer und hatte noch vor wenigen
Stunden mit dem Tode gerungen.
Sie hatte seinen Namen gerufen. Er erinnerte sich nicht bewußt daran, daß sie ihn
jemals in seiner Gegenwart ausgesprochen hatte, und das nachklingende Wort
hinterließ ein seltsames Gefühl in der Gegend seines Herzens.
Mit schnellen Schritten durchquerte er den Raum und öffnete die Tür zu Christines Zimmer.
Sie lag mit offenen Augen, in denen Tränen glänzten, da und starrte an den
Himmel des Bettes.
Müde wandte sie den Kopf und blinzelte die Tränen aus den Augen, welche sie nun
zusammenkniff um besser sehen zu können!
"Erik?" Wieder durchströmte ihn dieses seltsame Gefühl daß die Aussprache seines Namens ausgelöste.
Verzweifelt streckte sie einen Arm nach ihm aus und dieses Bild versetzte ihm den nächsten Stich.
Sehnte sie sich wirklich nach ihm? Das konnte doch nicht sein, er mußte träumen.
Er ging zu ihr und setzte sich behutsam zu ihr auf die Bettkannte.
"Ich bin hier, meine Liebe! Alles ist gut! Brauchst du etwas?"
Er fühlte sich so hilflos wie der Vicomte vor kurzem ausgesehen hatte.
"Ich brauche Dich!" entgegnete sie leise.
Dieses einfache Wort, so klar und voller Ehrlichkeit ausgesprochen trieb ihm
einen dicken Kloß in den Hals und er war nicht im Stande etwas zu erwidern.
Peinlich genau war er darauf bedacht gewesen Abstand zu Christine zu halten, sie
nicht zu berühren, denn er wollte sie nicht erneut erschrecken.
Doch ihre Hand suchte nun die seine auf den weißen Laken und als sie sie mit
ganzer Kraft umschloß liefen ihm heiße und kalte Schauer über den Rücken.
"Mir ist so kalt Erik. Mir scheint es, als würde es nie mehr warm werden!"
Mit diesen Worten begann sie still zu weinen.
Die Tränen rannen lautlos über ihre Wangen ohne daß sich ein Laut aus ihrer Kehle stahl.
Mon Dieu, wie schön sie war!
Die schillernden Tränen brachen den Schein des Feuers und funkelten wie Diamanten.
Mit zitternden Fingern berührte er ihr Gesicht um die Tränen, die nicht
versiegen wollten, sanft fortzuwischen.
"Du hast mich fortgeschickt, mit Raoul! Warum forderst du zuerst eine
Entscheidung von mir und erkennst sie dann nicht an? Ich verstehe das nicht"
fragte sie ihn mit tränenerstickter Stimme.
"Ich wollte nur dein Glück, und was wäre das für ein Glück wenn du hier an mich
gefesselt wärst. In meiner ewigen Dunkelheit?"
Nun stahlen sich auch wieder Tränen in seine Augen und brannten heiß unter seiner Maske!
"Wie lange habe ich darauf gewartet!" Nun hob Christine ihre Hand an Eriks
Gesicht und wischte die Tränen, dort wo sein Gesicht ihr nicht verborgen war, zärtlich fort.
Mit diesen Tränen verschwand das Phantom und zurück blieb nur der Mann der sie
liebte. Auf seine Weise, aber er liebte sie. Alles Bedrohliche wurde fortgewaschen und Christines
Herz quoll über vor Freude.
Mit sicherer Hand löste sie die Seidenbänder der Maske in seinem Haar, das doch
nicht das seine war.
"Nicht.." brachte er schwach hervor.
Doch sie ließ sich nicht beirren.
Er konnte ihr nicht länger in die Augen sehen, denn er wußte dass er es nicht
ertragen konnte wenn sie sich wieder voller Abscheu von ihm abwenden würde.
Die Wärme des Zimmers strich nun sanft über sein gesamtes Gesicht. Kein Laut war
zu vernehmen und eine Ewigkeit schien zu vergehen, dann fühlte er Christines
Hand unter seinem Kinn, die ihn zwang sie anzusehen.
Sie sah ihm mit festem Blick aus ihren schönen, großen Augen an und ein
versonnenes Lächeln spielte um ihre Lippen.
Abermals glaubte er zu träumen. Dieser Engel lächelte, wenn sie ihn ansah.
Zärtlich strich sie über sein Gesicht, an der Stelle die eben noch von der Maske
verdeckt gewesen war.
"Keine Angst, ich werde nicht zulassen dass dir jemals wieder jemand wehtut." In ihren Augen
konnte er nichts als Wärme und aufrichtigkeit sehen.
Abrupt ließ sie ihn los, schlang die Arme um ihren Körper, ließ sich zurück in
die Kissen gleiten und zitterte.
"Engel!"
-Angst!-
Sie hatte sich überanstrengt. Wie hatte er das bloß zulassen können?
"Erik, mir ist so kalt!" Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander.
Ein wenig verzweifelt nahm er ihre kühlen Hände in die seinen und rieb sie leicht.
Sein Trank hatte zwar ihre Lebensgeister geweckt, aber wenn ihr Körper den Kampf
nicht durchstehen wollte half auch die beste Medizin der Welt nichts.
"Was kann ich tun mein Engel?" Fast automatisch glitt seine Hand zu seiner
Maske, die an Christines Seite lag, doch sie hielt seine Hand fest.
"Ich brauche dich,Erik, ohne dich werde ich erfrieren. Halt mich fest, bitte!"
Ein flehernder Ausdruck lag in ihrem Blick. Sein Blut rauschte in seinen Ohren
und das Herz schlug ihm, fast schon schmerzhaft, bis zum Hals.
"Bringst du es über dich, dich zu mir zu legen?"
Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern und trotz ihres Zustands schien sie ein wenig zu erröten.
Er konnte nicht sprechen. Seine Stimmbänder, die ihm bisher nie den Dienst
versagt hatten, schienen ihm nicht mehr zu gehorchen und so nickte er nur stumm.
Christine
Es war so leicht. Nie hätte sie gedacht dass etwas so leicht sein konnte.
Er hatte Angst und wer konnte ihm das verdenken, doch sie würde ihm diese Angst
nehmen, und wenn es das Letzte wäre dass sie tat.
An Raoul dachte sie nicht.
Sie dachte sie müsste stark sein, um ihm ins Gesicht lächeln zu können, nachdem
sie ihm die Maske abgenommen hatte, doch nein.
Sein Gesicht erschreckte sie nicht länger. Seine Augen waren alles was sie sah.
Voller Furcht und Tränen. Die Seele die sie darin erblickte war so schrecklich
verletzt wie sein Gesicht.
Nichts was bis zu diesem Moment geschehen war hatte noch eine Bedeutung, es
zählte nur das hier und jetzt.
Nun gab es wirklich kein Zurück und sie wollte auch nicht zurück um nichts in
der Welt. Auf einmal verstand sie, was es für ein wundervolles Gefühl es war die
Regeln dieser Welt für sich selbst außer Kraft zu setzen.Hier unten, in seiner eigenen
kleinen Welt zählte nur was sie tat und wollte. Keine Regeln, keine Etikette nur
ihre eigenen Gesetze zählten und die grenzenlose Freiheit.
Sie gehörte hierher, zu diesem Mann.
Erik
Seine Beine zitterten als er aufstand um auf die andere Seite des Bettes zu gehen. Er streifte
seine Schuhe ab und ein wenig unbeholfen legte er sich neben sie.
Immer noch darum bemüht sie nicht zu berühren.
Mit großer Mühe drehte sie sich zum ihm herum und sah ihm in die Augen.
Er lag jetzt mit ihr auf einer Augenhöhe und wollte ihn ihren Augen versinken.
Wieder spürte er ihre Hand auf seiner Wange und legte nun ganz behutsam seinen Arm um sie.
