Erik
Er war ihr so unglaublich nah, und das nur aus ihrem eigenen Wunsch heraus.
Ihr Atem strich über seine Wange und nach ein paar Minuten, in denen sich sein
Pulsschlag wieder etwas normalisiert hatte, wagte er es zaghaft den Arm um
Christine zu legen. Wie um zu bestätigen dass er das Richtige getan hatte schloss
Christine die Augen und atmete tief durch. Ein Lächeln zierte ihre Lippen. Der
Vertrauensbeweis den sie ihm damit lieferte war überwältigend. Sie entspannte
sich sichtlich und schmiegte sich noch ein wenig näher an seine Brust, während
seine Muskeln noch immer vollkommen verkrampft waren und er es nicht wagte sich auch nur
einen Zentimeter zu bewegen um sie ja nicht zu stören.
Und doch genoss er dieses, für ihn, völlig neue Gefühl der Vertrautheit und wachte lange über
Christines Schlaf. Immer wieder deckte er sie zu, damit sie nicht noch mehr
Körperwärme verlor. Es war nichts Unsittliches an dem was sie taten und doch
fühlte er sich ein wenig als übertrete er unausgesprochene Gesetze. Und er genoss
auch dieses Gefühl, denn die Zuneigung die ihm nun entgegengebracht wurde
entschädigte ihn für viele Dinge die ihm in seinem Leben wiederfahren waren.
Hätte man ihn gefragt, er hätte sein Glück nicht in Worte fassen können. Und
während er noch darüber grübelte womit er dies, nach letzen Abend verdient hatte, entspannte
sich auch sein Körper und die Augen fielen ihm zu.

Eine sanfte Berührung weckte ihn. Christine hatte ihre Hand in seinen Nacken
gelegt und fuhr ihm dort ganz zärtlich durchs Haar. Sie lag so nah bei ihm, dass nicht einmal
eine handbreit Platz zwischen ihnen war. Sie war unirdisch schön und ein wenig Farbe
war auf ihre Wangen zurückgekehrt.
"Bonjour, mon coeur! Es tut mir leid dass ich dich wecken muss, aber ich glaube wir
bekommen Besuch!"
Sie flüsterte um diese gelöste Stimmung nicht unnötig zu zerstören.
Doch was sie sagte überflutete seinen Geist mit Wärme, Liebe und vielen
Informationen und sein schläfriger Verstand tat sich ein wenig schwer damit alles in
die richtigen Kategorien einzuordnen. Erst jetzt bemerkte er das stetige
klingeln einer seiner Alarmglocken.
Es musste wohl schon Jahre hergewesen sein, dass er eine Nacht durchgeschlafen
hatte und dass ein so durchdringendes Geräusch nicht in der Lage gewesen war ihn
zu wecken. War dies überhaupt jemals vorgekommen?
Er wollte nicht aufstehen, sie nicht verlassen, sondern weiter diesen sonderbar
schönen und verwirrenden Traum mit ihr träumen.
Doch der Ton der Alarmglocke erinnerte ihn daran, dass jemand über den See zu
ihnen gerudert kam.
Wahrscheinlich der Vicomte, der nach Christine sehen wollte.
Er wollte dem jungen Mann dieses Bild ersparen, denn er ahnte, dass er es nicht
verstehen würde und diese Situation vielleicht ein neues Drama auslöste.
"Ich werde dich für einen Moment verlassen müssen, meine Liebe!" Er nahm ihre
Hände in seine und führte sie zu seinen Lippen um, fast ehrfürchtig, einen Kuss
darauf zu hauchen. Erneut schenkte sie ihm ein liebevolles Lächeln. Sie hatte so wenig in seiner
Gegenwart gelächelt, das wurde ihm nun schlagartig bewusst.
Er setzte sich auf, zog seine Schuhe an und machte sich auf den Weg zum
Anlegeplatz seines Bootes. Im Hinausgehen nahm er seine Maske vom Boden und
setzte sie, mit einer zur jahrelangen Gewohnheit gewordenen Bewegung, auf. Erst
jetzt bemerkte er, dass er sich in ihrer Gegenwart auch ohne dieses normalerweise
notwendige Requisit wohl und sicher gefühlt hatte. Er lächelte. Dann ging er
hinaus, aber nicht ohne noch einen Blick auf Christine zu werfen.
Sie warf ihm einen Handkuss zu.

Seine Vermutung bestätigte sich und der Vicomte wartete vor dem Tor, dass Eriks
Wohnung vom See trennte, auf Einlass.
Er sah bedrückt aus, immer noch voller Sorge und skeptisch wartete er darauf
dass etwas passierte.
Als das Tor sich wie von Geisterhand hob, erschrak er ein wenig und zuckte zusammen.
"Sie haben also ihr Wort gehalten. Ich hätte es ja fast nicht für möglich
gehalten!" Lautete die leicht sarkastische Begrüßung des Vicomtes als er eintrat.
"Guten Morgen, Monsieur!" begrüßte Erik ihn und versuchte sich seine gute Laune
nicht allzu deutlich anmerken zu lassen.
Er hatte das Gefühl keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben und maßregelte
sich, denn er wollte dem Vicomte nicht den geringsten Grund zum Argwohn liefern.
"Guten Morgen? Sie haben Nerven. Es ist vier Uhr Nachmittag!"
Erik runzelte die Stirn. Hatte er wirklich so lange geschlafen.
"Verzeihen Sie! Hier unten kommt es schon einmal vor, dass man die Zeit vergisst."
Lautete Eriks knappe Antwort und er deutete eine kleine Verbeugung an.
"Wie geht es ihr?"
"Gut, ich denke wir müssen nun nicht mehr um ihr Leben fürchten. Sie schläft viel
und ihr Körper holt sich so die Kraft zurück die er benötigt!"
Ohne um Erlaubnis zu fragen schritt der Vicomte auf Christines Zimmer zu um
nach ihr zu sehen.
Erik ließ ihn gewähren.
Die Tür hinter ihm schloss sich und Erik nutzte diese Gelegenheit um in sein
eigenes Zimmer zu gehen, sich zu waschen und seine Kleider zu wechseln.
Danach setzte er Teewasser auf und bereitete ein kleines Frühstück für Christine.
Die Zeit verging und der Vicomte war schon eine ziemlich lange Zeit bei
Christine. Komischerweise beunruhigte dies Erik nicht im Geringsten, nur seine
Neugier wurde ein wenig geweckt.
Immer wieder drangen gedämpfte Stimmen an sein Ohr. Sie klangen weder ärgerlich
noch liebevoll.
Als er alles für Christines Frühstück gerichtet hatte, sah er sich in seinem
Wohnzimmer um. Ein heilloses Chaos herrschte hier. Der gestrige Abend und das
fast stattgefundene Drama hatten ihren Tribut gefordert. Viele Möbel waren
zu Bruch gegangen und in all diesem Durcheinander lag Christines
Brautschleier, der den er sie gezwungen hatte zu tragen.
Hier hatte er gestern Abend seinem Leben ein Ende setzen wollen und nun…
Liebevoll hob er den Spitzenschleier auf, faltete er ihn und legte ihn sorgfältig über eine der
Stuhllehnen. Dann begann er aufzuräumen und von seinen Möbeln zu retten, was
noch zu retten war. Viel war es nicht.

Es verging noch einegute Stunde, bis sich die Tür zu Christines
Schlafzimmer leise öffnete und ein sehr blasser Vicomte die Tür hinter sich schloss.
Im Wohnzimmer waren kaum noch Spuren des gestrigen Abends zu sehen und Erik saß
zufrieden in einem seiner Sessel und las.
Er blickte kurz auf als der Vicomte auf ihn zuschlurfte.
"Geht es Ihnen nicht gut Monsieur?" fragte er, ohne Emotionen irgendwelcher Art
in seine Stimme zu legen.
"Nein...nein, danke ... es geht schon!" stammelte Raoul de Chagny.
Erst jetzt sah Erik, dass der Vicomte den Verlobungsring in der Hand hielt den
er Christine geschenkt hatte.
Raoul war stehen geblieben und schien auf einen Punkt an der Wand hinter Erik zu starren.
"Sie hat mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie hier bleiben will... bei
Ihnen, Erik!" Er klang weder verärgert noch traurig, nur verständnislos.
"Dann ist das wohl ihre Entscheidung! Werden Sie diese Entscheidung akzeptieren
können, Raoul Vicomte de Chagny?"
Erik machte sich nun auf alles gefasst. Die Stimmung des jungen Mannes konnte jederzeit von Lethargie
in Tobsucht umschlagen.
"Das werde ich wohl müssen! Ich liebe sie, aber ich darf nicht versuchen
sie festzuhalten."
Raoul schwieg für einen Moment.
„ Es ist wohl besser ich gehe jetzt."
Er resignierte.
Diese Reaktion hatte Erik nicht erwartet. Er hatte mit allem gerechnet,
Wut, Trauer sogar Raserei, aber dass der Vicomte diese Situation so ergeben
akzeptierte erstaunte ihn sichtlich. Doch schnell gewann er seine Fassung zurück und nickte stumm.
Mit gesengtem Kopf ging der Vicomte davon. Jedoch bevor er das eiserne Tor
erreichte drehte er sich noch einmal um.
"Ich werde das Geheimnis ihres Versteckes hüten, Erik. Ihr zuliebe. Aber glauben
Sie nicht, ich würde Sie nicht wieder aufsuchen, wenn mir zu Ohren kommen sollte, dass
Sie sie schlecht behandeln."
Dann wandte er sich wieder dem Boot zu, richtete den Blick auf das dunkle Wasser und warf Christines
Verlobungsring hinein. Er hinterließ ein paar kleine Ringe an der Oberfläche die in den größeren Wellen,
die das Boot schlug, aufgingen.
Wieder sah Erik dem fortrudernden Vicomte nach und hoffte, ihn das letzte Mal gesehen zu haben.
Zwar hatten sie eine Art unausgesprochen Waffenstillstand während des letzten Tages geschlossen, und doch,
Erik konnte dem jungen Mann nicht vergeben.

Das Tablett aufnehmend ging er in Richtung von Christines Tür und klopfte an.
"Komm ruhig herein!" Vernahm er ihre Stimme.
Er öffnete die Tür und sah sie aufrecht in ihrem Bett sitzen. Ihre dunklen Locken bildete einen herrlichen Kontrast
zu der weißen Chemise die sie trug und lag um ihre Schultern wie eine kostbare Stola.
"Ich habe dir ein kleines Frühstück zubereitet, obwohl es dafür eigentlich schon
viel zu spät ist." Er ertappte sich dabei wie er sie unverwandt anstarrte.
"Danke! Ist Raoul fort?" Ihre Frage klang ein wenig bedrückt.
"Ja, er ist fort!"
Erik setzte sich zur ihr auf die Bettkante und stellte das Tablett auf ihrem
Nachttisch ab.
"Warum wolltest du zurück zu mir und nun hier bei mir bleiben, Christine? Ich verstehe das nicht!"
Er musste diese Frage stellen um Klarheit zu gewinnen, auch wenn dies vielleicht der falsche Augenblick war.
Sie beugte sich vor zum ihm und legte, vollkommen ohne Scheu, ihre Arme um seinen Hals. Ihre Stirn
lag nun an seiner und ihr Haar schirmte sie beide, wie ein Vorhang, vom Rest der Welt ab.
"Weißt du, mir ist gestern, in mitten all dieses Durcheinanders bewusst geworden,
dass es für mich wirklich kein zurück mehr gibt. Alles was ich bisher kannte, egal
ob es Menschen waren oder mein Gesang, meine Umwelt oder meine Einstellung zum
Leben, wurde mit deinem Auftauchen auf den Kopf gestellt. Es gab eine Zeit in
der ich mich nach meinem alten Leben zurücksehnte, nach der Normalität und der
Langeweile. Und genau zu diesem Zeitpunkt tauchte Raoul auf und entsprach diesem
Wunsch voll und ganz. Schließlich war er meine Vergangenheit. Aber mit der Zeit bemerkte ich
dass dieses normale Leben seinen Reiz für mich verloren hatte. Ich sehnte mich nach deiner Welt
und deiner gefährlichen Lebendigkeit, die vor allem dann in Erscheinung tritt wenn du wütend bist. Es reizte
mich mit der Gefahr zu spielen und doch konnte ich Raoul nicht so unsanft vor den Kopf stoßen. Schließlich
war nicht er derjenige der einen Fehler gemacht hatte. Ich hatte ihm ja auch in einem unbedachten, romantisch
verklärten Augenblick versprochen seine Frau zu werden. Also beschloss ich so zu tun, als ob
ich mich widerwillig für die Roller in deiner Oper bereit erklärte. Es war die
einzige Chance die ich sah um dich wiederzusehen und dir versteckt mitzuteilen
was ich fühle. Sicher hast du geglaubt ich hätte dich verraten, oder!"
Sie senkte die Stimme und sah ihm tief in die Augen. Er schluckte, nickte kurz und die
Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich beinahe. Fast hätte er eine
Katastrophe heraufbeschworen nur weil er sie missverstanden hatte.
Aber wer hätte es ihm verdenken können. Wie hätte er glauben sollen, dass
Christine wirklich und wahrhaftig zu ihm zurückkehren wollte. Sie war eine gute
Schauspielerin und wie hätte er ihre gespielten Gefühle für Raoul durchschauen sollen?
"Deine Musik, das Duett das du für dich und mich geschrieben hast ließ mich allerdings
jede Vorsicht vergessen. Die Musik verführte mich wie es mir von dir gewünscht hätte
und ich gab mich ihr vollends hin. Ich glaube dass Raoul in diesem Moment
Verdacht schöpfte. Ich hatte nur noch Augen für dich und alles um mich herum war vergessen.
Dann kam dieser schreckliche Augenblick in dem ich dich zwang dein Gesicht preiszugeben, genau
in dem Moment als du mir dein Herz zu Füßen gelegt hattest. Danach überstürzten sich die Ereignisse, wie
du weißt und wir flohen. Hast du nicht gemerkt dass ich mich nicht zur Wehr setzte als du mich hierher führtest?
Als Raoul hier eintraf, so blind vor Liebe und dem Wunsch mich zu retten überkam mich heiße Scham
darüber wie sehr ich ihn getäuscht hatte. Er durftenicht zu Schaden kommen, nur weil ich dumm genug
gewesen war ihn in dieses Spiel einzuspannen. Doch du Erik, so rasend vor Wut und Eifersucht, warst
für keine vernünftige Argumentation mehr empfänglich. Sicher hättest du mir auch nicht geglaubt.
Ich musste also handeln. Doch schon so lange vorher hatte ich mich für dich entschieden!"
Diese Worte waren so aufrichtig dass er nicht an ihrer Wahrheit zweifelte.
"Christine, du musst dich fragen ob du es ertragen könntest die meiste Zeit in
meiner Gegenwart zu verbringen. Hast du dir das auch wirklich gut überlegt?"
Er wollte dass sie sich ihrer Sache ganz sicher war.
Sie nickte.
"Ich hatte so lange Zeit zum Nachdenken. Die Zeit in der ich mit deinem Schweigen leben musste und
mit den belanglosen Reden von Raoul. Ich freue mich schon jetzt auf jeden Augenblick den ich in deiner
Gesellschaft verbringen darf. Erik, hast du es denn immer noch nicht verstanden? Ich liebe dich!"
Diese drei kleinen Worte waren Balsam für seine geschundene Seele und setzten einen Heilungsprozess in Gang.
"Aber was ist mit deinem alten Leben und deinem zu Hause?"
"Mein zu Hause wird immer dort sein wo du bist!" sagte sie und küsste ihn.