Vergessen

Vergessen ist Gefahr und Gnade zugleich.


Kleine Staubkörner wirbelten im Licht der Sonne, welches durch das geschlossene Fenster brach. Nur leise drangen Fetzen von Vögelgesängen durch den Raum, ansonsten war es still.

Ein junger Mann, vielleicht 20 mit schwarzen Haaren, saß im Schneidersitz auf einem alten Bett und starrte.
Starrte ins Nichts.
Seine Gedanken waren auf einer Reise, doch er konnte das Ziel nicht erfassen. Er erinnerte sich einfach nicht, auch wenn seine innere Stimme ihm immer wieder sagte, dass es wichtig war, dass er sich erinnern musste.

Aber tat sie dass den nicht schon die ganze Zeit? Zu ihm sagen, dass er sich erinnern musste?

Und? Tat er es? Nein, natürlich nicht.

Aber gab es da überhaupt etwas zu erinnern? Wenn es so wichtig war, warum hatte er es dann überhaupt vergessen?

Was war sein Leben?

Er wusste es auch nicht. Er wusste gar nichts. Weder seinen Namen, noch seine Herkunft.

Sein ‚Leben' hatte vor knapp einem Monat erst begonnen. Zumindest soweit er es wusste.

Aber was wusste er schon?

Ein Teufelskreis, schallte er sich gedanklich und legte den Kopf schief. War er Schuld?

Ihm kam das Gefühl der Schuld bekannt vor. So als würde es sein ständiger Begleiter sein. Aber wie konnte die Schuld ihn immer begleiten, selbst jetzt, wo er sich nicht erinnerte?

„Yosh?", rief eine Stimme von unten.

Er reagierte nicht. Hatte er sie nicht gehört?

„Yosh! Komm runter, gibt Essen!"

Doch, er hatte sie gehört. Aber wollte er sie hören?

„Yosh. Nun komm mein Junge!" Die Tür war aufgegangen und eine Frau, Mitte fünfzig stand daran. Ihr nun mehr angegrautes Haar, war früher sicherlich Honig blond gewesen und die plumpe Figur angenehm schlank. Ihr Name war Marie. Marie Lorain und sie lebte hier mit ihrem Mann Damian Lorain. Schon seit dreißig Jahren.

Ihre Wangen glühten rosig, von der Stallarbeit und dem Wind, welcher draußen trotz der warmen sonne kalt wehte. „Junge, manchmal machst du mir wirklich Sorgen!"

Yosh schaute sie nur teilnahmslos an, seine Augen waren leer, wie dunkle Tunnel. Marie erinnerte sich nicht genau daran, als sie ihn gefunden hatten.

Zum Glück war die Brandwunde wieder einigermaßen verheilt, nur die Narbe, vom Aussehen wie eine Schlange, prangte noch an seiner Schulter.

Ihr Mann war vor einiger Zeit mit einem der Pferde einen Rundgang geritten um das Gelände, welches im Winter immer Schaden nahm, unter die Lupe zu nehmen. Eigentlich hatte er nur nach kaputten Zähnen oder umgestürzten Bäumen schauen wollen, doch nahe am Wald, welcher eine Grenze ihres Landes bestimmte, hatte er den Jungen gefunden. Er war völlig orientierungslos und schwer verletzt. Die erste Woche hatte er im Fieber verbracht und war nicht ansprechbar gewesen. Der Arzt hatte ihn schon abgeschrieben, meinte, er würde die Verletzungen, die sich keiner erklären konnte, überleben.

Tiefe Schnitt, am Oberkörper, eitrig und entzündet, eine große Brandwunde an der Schulter und ziemliche Unterernährung.

Er musste Tage lang gelaufen sein.

Am Abend hatten alle die Hoffnung aufgegeben. Doch am nächsten Morgen, waren die Wunden schon fast verheilt gewesen, er war wach und das Fieber war auf ein Minimum gesunken. Es war unerklärlich, wie dies geschehen war. Der Arzt hatte ihm noch ein paar Tage Bettruhe verordnet, einige Salben und Arzneien dagelassen und der Junge hatte sich wieder völlig erholt.

Nach zwei Wochen und half sogar schon bei der Arbeit.

Dennoch war der Junge ein Rätsel für die Familie. Er konnte sich an nichts erinnern, weder an seinen Namen, noch an seine Vergangenheit.

Der einzige Hinweis, war sein Akzent, der ihn als Engländer identifizierte.

Auch schien um diesen Jungen eine seltsame Aura zu herrschen. Manchmal geschahen seltsame Dinge, die sich das Ehepaar nicht erklären konnte. An einem Tag, es war warm für den Winter, hatte sich eine Blindschleiche in den Hühnerstall geschlichen.

Marie wusste noch, welche Angst sie hatte. Die Schlangen waren zwar nicht sehr giftig, aber ihr Biss war ziemlich schmerzhaft. Ihr Mann war nicht da, sondern unten im Dorf und sie hatte furchtbare Angst vor dem Tier.
Der Junge war einfach an ihr vorbei gegangen, in Richtung Hühnerstall und keine zwei Minuten später mit der Schlange in der Hand in Richtung Hecke gegangen um sie dort freizulassen.

Marie war es bis heute unheimlich und als sie Yosh –wie sie ihn genannt hatten- darauf angesprochen hatte, meinte dieser nur, er hätte der Schlange gesagt, sie dürfe das nicht machen. Sie solle zu ihm kommen, er würde sie rauslassen.

Sie wusste nicht, ob sie ihm das glauben sollte.

Ach gab es andere seltsame Dinge.

Das erste Mal, als Damian den Jungen mit ins Dorf genommen hatte, gab es wohl Ärger mit einigen Jungen aus der Nachbarschaft.

Damian war nicht in der Nähe und laut der Aussage von Yosh, waren die Jungen auf ihn losgegangen.

Man fand alle vier zwei Tage später in der Scheune. Sie zitterten und hatten furchtbare Angst. In ihren Augen sah man das blanke Entsetzen, doch keiner sagte, was passiert war.

Selbst Yosh hatte geschwiegen, nur Marie war es, als hätte sich ein leichtes, eisigkaltes Lächeln auf seine Lippen gestohlen, als sie ihn darauf ansprach.

„Nun komm Junge! Gibt gebratene Aubergine. Magst du doch, oder?"

Yosh nickte und schenkte ihr ein freundliches Lächeln, welches sogar seine Augen zum strahlen brachte.

Beim Mittagessen schlug Yosh seit langem wieder zu.

Was brachte ihm das viele Nachdenken, wenn er doch zu keinem Ergebnis kam? Rein gar nichts, damit fand er sich ab.

Wieso sollte er Trübsal blasen, wenn er doch sein jetziges Leben genießen konnte?

„Du hast aber Appetit!", grinste Damian.

„Darauf kannst du wetten!" Marie schenkte ihm noch ein wenig Traubensaft ein.

„Das ist gut Junge! Du bist ja immer noch so dünn!"

„Mhm…!" Manchmal kam sich Yosh wie ein kleines Kind vor, dabei war er schon… Also er zog seine Stirn in Falten. Wie alt war er? 20? 21? Na auf alle Fälle so ungefähr. „Ich bin kein kleines Kind mehr."

„Wenn du nicht willst, dass wir dich so behandeln, dann benimm dich auch nicht wie eines!", lachte Damian und wusste nicht, was er da in dem Jungen wachrüttelte.

Ein lautes Klirren erklang in der Küche. Yosh hatte sein Gabel fallen gelassen.

Immer das Selbe mit dir. Kannst du nicht einmal aufhören?"

Du musst mich ja nicht ständig wie ein kleines Kind behandeln. Ich bin alt genug, um auf mich aufzupassen."

Wenn du nicht willst das ich dich wie ein Kind behandel , dann benimm dich auch nicht wie eines!" Ein freundliches Lachen erklang…

„Yosh? Ist alles in Ordnung?" Es war, als würde der Schwarzhaarige Junge aus einer Art Trance erwachen. Es war, als wäre etwas in ihm losgebrochen. Emotionen wirbelten plötzlich wild in seinem Inneren. Gefühle, die er nicht einordnen konnte.

„Wie?", fragte er verwirrt und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Widerspenstiges Zeug, dachte er dabei. Die Gefühle ließen nicht nach und ein Kribbeln ging durch seinen Körper. Er musste hier weg, irgendwas tun.

„Du warst so komisch. Haben wir was Falsches gesagt?"

„Nein, nein, schon okay. Ich geh raus dreh eine Runde mit Moritz. Ob die Zäune in Ordnung sind." Er stand fast fluchtartig auf und verließ das Haus. Das Ehepaar schaute ihm verwundert und traurig hinter her.

Schnell fand er den Weg in den Stall, warf dem Wallach Moritz nur schnell das Zaumzeug über und kletterte ein wenig ungelenk auf seinen Rücken. Anschließend lenkte er es ein wenig ungeschickt aus dem Stall und ließ es vom Hof traben.

Ein riesiger Mann stand neben Yosh und ein Wesen, halb Pferd Halb Vogel stand auch dabei. Yosh tätschelte seinen Kopf.

Jetzt weiter, ich schätz, erlässt dich reiten!" Ehe Yosh sich versah, wurde er auf den Rücken des Wesens gehoben. Es breitete seine Flügel aus…

Er trieb das Pony an, trieb ihm hart seine Fersen in die Seiten. Auch wenn er noch recht unsicher auf dem Rücken dieser Tiere war, so hatte er das dringende Bedürfnis, seine Sorgen hinter sich zu lassen, sie im Rausch der Geschwindigkeit zu vergessen.

Er wusste nicht, warum er plötzlich Erinnerungen hatte.

Er wusste nicht, ob er sich das nur einbildete.

Und er wusste nicht, was sie ihm sagen wollten.

So vieles war ihm nicht bewusst.

Die Landschaften rauschten schnell an ihm vorbei, Wind zerrte an seinen Klamotten, er fröstelte leicht und Tränen standen ihm in den Augen. Ob sie nun aus seiner Seele stammten, welche es einfach nicht akzeptieren wollte oder ob sie schlicht weg von der Geschwindigkeit stammten. Es war gleich.

Erst nachdem sich der Gefühlssturm in seinem Inneren wieder gelegt hatte, zog er scharf an den Zügeln, hielt sich notgedrungen in der strubbeligen, grauen Mähne fest um nicht herunter zu rutschen.

„Moritz, halt an!" Nur langsam beruhte sich das Pony und verfiel in einen langsamen Schritt. Yosh atmete tief durch und schaute sich um. Der Wald, indem Damian ihn gefunden hatte, war ganz in der Nähe. Er konnte den würzigen Geruch von hier aus riechen. Schatten verdunkelten die kühle Februarsonne und Yosh wurde bewusst, dass er sich nicht einmal eine Jacke angezogen hatte. Er fror und drückte sich dichter in das dichte Winterfell des Pony's.

Langsam schaute er sich um. Überall war weite, leicht hügelige Wiese. Hier, in der Nähe des Waldes war nur ein einziger Zaun. Er grenzte die Wiesen von dem Wald ab. Als Yosh näher heran ritt, konnte er den Stacheldraht erkennen.
Gut, immer noch fest gespannt, dachte er uninteressiert. Er und auch seine Gönner wussten, dass er nicht wirklich ernsthaft nach den Zäunen gucken wollte.

Sie waren erst vor drei Tagen los geritten und in der Zeit hätte sich nicht viel getan. Dennoch sagte das Ehepaar nichts dazu.

Er wusste, dass er sie mit seinem Verhalten ein wenig verletzte. Sie wussten nicht, was sie falsch gemacht hatten, wenn er einfach weglief. Aber was sollte er sonst tun? Als weglaufen?

Sich stellen?
Ja, vielleicht. Aber wem sollte er sich stellen?
Wer war sein Gegner, wer sein innerer Dämon, der ihn lockte und im nächsten Moment vernichten wollte?

Er wusste es nicht.

„Scheiße!", fluchte er leise und krallte seine Hände fester in die Mähne. Sein Pony achtete nicht darauf, sondern lief wieder in Richtung Stall.

Yosh ließ ihn, begutachtete nebenbei die Viehzäune, die sich scheinbar willkürlich durch die Landschaft spannten.

Auf seinem Weg nach „Hause" ritt er weiter, über gefrorene Äcker, entdeckte weiter hinten eine kleine Gruppe Rehe, welche reis aus nahmen, als sie ihn erblickten.

Besser so, die nächste Jagdsaison würde kommen.

„Was ist bloß mit mir los?" Er schüttelte den Kopf, trieb Moritz zum Trab an. Besser er würde bald nach Hause kommen, es dämmerte schon.

Blutrotes Licht tränkte den Himmel und die Erde, verfloss langsam und würde irgendwann verschwinden.

Yosh hatte sich das Schauspiel schon oft angeschaut und auch wenn er es schön fand, so schien immer ein Teil von ihm mit dem Licht des Tages zu gehen. Zurück blieb nur noch Dunkelheit.

Er bemerkte gar nicht, wie das Pony langsam über den Hof trottete und seinen Weg in den Stall fand. Erst als es beherz den Kopf beugte um das bereitgelegte Heu zu fressen, schreckte Yosh aus seinen Gedanken. Fast wäre er über den Kopf des Tieres gefallen, hätte er nicht im letzten Moment die Zügel gelockert.

„Moritz!" Er schaute das Tier strafend an, doch dieses nahm keine Notiz von ihm.

Grummelnd griff er nach den Zügeln und zog das Tier von dem Ballen weg. „Nun komm, du störrischer Esel. Gibt dann vielleicht auch ne Möhre." Da sollte mal jemand behaupten, Pferde verstanden einen. Moritz ignorierte seine Aussage geflissentlich und futterte weiter am Heu.

Yosh wurde wütend und knuffte das Tier hart an der Schulter „Komm endlich!", fauchte er und seine Worte zeigten Wirkung. Endlich konnte er das Pony wegziehen und die Box anpeilen.

Darauf achtend, das es sich nicht gleich auf das Hafer in der Krippe stürzte öffnete er die Lederriemen und nahm ihm die Zäumung ab.

„So, jetzt kannst du fressen!"

Während Moritz sich an dem Hafer gütlich tat, suchte er in einer alten Kiste nach einer Möhre und warf sie in den Trog.

„Ah, hier bist du Junge! Komm, wir wollen noch einmal in den Ort." Verwundert zog der Junge eine Augenbraue in die Höhe. Jetzt wollten sie noch in den Ort? Na gut, wenn dem so war. „Komm, beeil dich. Clara O'Donald gibt eine Feier. Sie heiratet bald.", grinste Damian, welcher in den Stall gekommen war.

„Bin schon dabei!", antwortet Yosh, hängte das Zaumzeug an seinen Platz und ging rasch nach Oben. Viel Auswahl an Kleidung hatte er nicht.

So entschied er sich für eine weitere, dunkel blaue Jeans, welche einige Löcher aufzuweisen hatte und ein engeres Shirt, welches Marie ihm mitgebracht hatte. Aus dem Schrank förderte er noch etwas Besonderes.

Es war ein Umhang. Es war der Umhang.

Der, mit dem sie ihn gefunden hatten. Zwar war er, als Damian ihn hierher gebracht hatte, genauso zerfetzt und schmutzig, wie seine übrigen Sachen, aber Marie hatte alles daran gesetzt ihn wieder hinzubekommen. Die Löcher waren geflickt und die ausgefransten Ränder säuberlich abgeschnitten und umgenäht worden. Er sah zwar nicht neu aus, dennoch brauchbar. Außerdem hielt er verblüffend warm und war aus einem weichen Material, welches Yosh stark an Seide erinnerte.

Vorsichtig verschloss er die Schnalle, welche den Umhang hielt. Es waren zwei ineinander geschlungene silberne Schlangen. Fein gearbeitet und sicherlich sündhaft teuer.

Er drehte sich um und ging zu dem Spiegel gegenüber von seinem Bett. Ein Kleiner Schrank stand direkt darunter und ein Kamm lag darauf.

Er griff nach dem Kamm und fuhr sich noch ein, zwei mal durch die Haare. Es brachte einfach nichts, sie standen genauso ab, wie immer.

Knurrend öffnete er eine kleine Lade und griff nach dem Gel.

Damit konnte er sie zumindest ein wenig in Form bringen. Auch wenn die Lorains am Ende der Welt, auf einem Bauernhof lebten, so hatten sie doch genug Geld und gehörten zu den angesehen Bauern in der Gegend.

Marie hatte ihm versprochen, wenn sie das nächste Mal in einen größeren Ort kommen würden, Milltown war die nächste, würde sie ihm auch neue Klamotten kaufen. Bisher hatte sich dies aber noch nicht ergeben. Einzig und alleine das Gel und einige weitere Pflege Artikel hatte sie ihm kaufen können.

„Bist du fertig?", kam die Stimme von Marie von unten.

„Ja, ich komm gleich!" er zupfte noch einige Strähnen nach oben, sodass sie erstrecht wirr abstanden –gewollt wirr, muss hierzu gesagt werden- und ging schließlich nach unten.

„Yosh, du siehst richtig schick aus!", lächelte Marie und legte ihre Hand auf seine Schulter. Yosh grinste leicht schief.

„Danke!" Sie trug ein weiß geblümtes, dichtes Kleid und hatte ihre Haare nach oben gesteckt. Schminke trug Marie nie.

Damian kam aus dem Schlafzimmer, in einer braunen Hose und einem ebenfalls braunen Frack mit schwarzer Krawatte und weißem Hemd.

„Na komm Junge, sonst kommen wir zu spät!" Aufmunternd klopfte er Yosh auf die Schulter.

Um Yosh herum war Musik. Die Menschen freuten sich und grölten ohne Hemmungen in die Menge. Er selbst konnte dem Ganzen wenig abgewinnen und schaute von seinem Platz in der Ecke lieber zu. Das ganze Fest wurde in einer alten Scheune abgehalten. Auf dem Boden lag Stroh und Heu, hier und da huschte eine Maus. Wein, Bier und einige andere Sachen würden großzügig verteilt und so war es unumgänglich, dass die gesamte Menge schon ziemlich angeheitert war.

So wie Yosh das sah, war wohl die ganze Gegend hier. Viele hatte er schon einmal gesehen und einige kannte er sogar beim Namen.

Es war ein richtiges Dorffest, stellte er sachlich fest. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Die Musik wurde noch mit Instrumenten wie Dudelsack und Flöte gemacht. Auch die Kleidung war dementsprechend, aber die Leute schienen alle zufrieden und glücklich.

Yosh griff zu seiner Flasche und nahm einen Schluck von dem Bier. Anschließend verzog er das Gesicht. Das Zeug schmeckte ja schon kühl nicht besonders, aber warm?

Einfach widerlich.

„Hey, Yosh!" Alicia kam auf ihn zu, ihr braunes, lockiges Haar viel ihr schmeichelnd ums Gesicht. Sie war Yosh schon bei seinem ersten Mal im Dorf aufgefallen, mit ihrer freundlichen Art. Wobei ‚Dorf' nicht die richtige Bezeichnung war, wie er fand. Auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte, so wusste er trotzdem, dass dieser Ort eine Versenkung war. Eine glückliche vielleicht, aber immer noch eine Versenkung. Sie bestand kaum aus 100 Einwohnern und Jeder kannte Jeden. Jedes kleinste Geheimnis wurde erzählt und sprach sich wie ein Lauffeuer rum. Aber so war es auch nicht sonderlich schwer, auf dem Neusten zu bleiben. „Du siehst so einsam aus, willst du nicht vielleicht mit mir tanzen?" Das er neu hier war und auch seine ‚Vergangenheit' hatte sich ebenso schnell herum gesprochen. Einige begegneten ihm mit misstrauen, andere mit Abscheu und wieder andere waren ausgesprochen freundlich zu ihm. So wie Alicia. Sie schien ihn zu mögen, ganz anders, als diese drei Schlächter, die ihn heimtückisch überfallen hatten.

Immer wenn Yosh daran dachte, überkam ihn ein unheimliches Kribbeln. Er hatte die Macht gespürt, als er sie, wie auch immer, gegen die Wand geschleudert und ihnen ihre schlimmsten Ängste vor Augen gehalten hatte. Wie er das gemacht hatte, wusste er nicht, aber er hatte es gemacht und schwieg sich aus. Die Jungen würden niemanden etwas verraten, dafür hatten sie zu große Angst. Und auch sonst traute sich niemand, der ihm etwas Böses wollte, mehr an ihn heran.

„Hm. Ich weiß nicht, ich…!" weiter kam er nicht, da das Mädchen ihn schon an der Hand gegriffen hatte und auf die ‚Tanzfläche' zog.

Sie wirbelte ihn heftig herum und Yosh wünschte sich, er hätte richtig protestiert.

Der Tanz wurde wilder und nur langsam gewöhnte der Schwarzhaarige sich daran. Anschließend kam Paartanz dran. Wie Yosh ihn hasste. Er wusste zwar –warum auch immer- wie er ihn zu tanzen hatte, doch aus irgendeinem Grund hatte er eine starke Abneigung dagegen.

Als er sich endlich wieder losreißen konnte war er völlig fertig. Er schwitzte und war aus der Puste.

„Was ist denn? Hast du keine Lust mehr?" Alicia war wieder neben ihn und strich sich ihr braunes Haar aus dem geröteten Gesicht.

„Lass mir ne Pause, ja?" Er wusste nicht, wie es ihm gelang, eine Maske der Freundlichkeit aufzusetzen, aber es war vielleicht besser so. Er wollte den Menschen in seiner Umgebung keine Sorgen machen.

„Na Junge." Damian setzte sich neben ihn. Er hatte seinen Frack ausgezogen und roch unangenehm nach Schweiß und Alkohol. Sicherlich genauso, wie Yosh selber, aber diese Tatsache verdrängte der Schwarzhaarige geflissentlich. „Warum tanzt du nicht mehr mit Alicia? Sie ist so ein nettes Mädchen und zweifellos hübsch! Außerdem scheint sie dich zu mögen!" er wippte nur allzu deutlich mit den Augenbrauen und Yosh grinste ihn schräg an. Er nahm dem Alten das Verhalten nicht übel. Immerhin war Yosh alt genug um sich jemanden zu suchen und da er keine Vergangenheit hatte, sollte er sich doch der Zukunft zuwenden. Yosh wollte nicht.

„Ne, lieber nicht!" Er schüttelte den Kopf. Nicht, dass sie nicht hübsch war, aber… Nein, sicher nicht!

„Na wenn du meinst! Komm stoss mit mir an!" Damian hob seine Flasche in die Höhe und Yosh tat es ihm gleich.

Es waren weitere zwei Wochen vergangen und Yosh fühlte sich zusehends heimischer. Auch dachte er kaum noch darüber nach, woher er kam. Es war ihm mittlerweile sogar egal geworden. Wieso sollte er sich Gedanken über etwas machen, was er sowieso nicht erfassen konnte?

Und wenn schon. Würde jemand ihn aus seiner ‚Vergangenheit' vermissen, würde er ihn dann nicht suchen? Es war also egal.

Auch hatte er keine Träume oder Visionen mehr. Nichts, rein gar nichts. Mittlerweile dachte er sogar schon, dass er sich Stimmen, teilweise sogar Bilder, auch wenn sie unscharf waren und er nicht viel erkennen konnte, einfach nur pure Einbildungen waren. Dass er sie sich herbei gewünscht hatte.

Seine Gefühle hatte er auch besser unter Kontrolle und die Lorains schien dies zu freuen. Dass er nur eine Maske trug, wussten sie nicht und das war auch gut so. Denn auch wenn er seine Gefühle unter Kontrolle hatte, so waren sie doch immer noch da und jedes Mal, jedes verdammte Mal, wenn er Alicia –mit der er nun doch zusammen war- küsste, kam es ihm so unglaublich falsch vor.
Er wollte es nicht. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Vielleicht war auch das der Grund, warum sie noch nicht miteinander geschlafen hatten? Im krassen Gegensatz zu Yosh Meinung, waren die Mädchen hier überhaupt nicht prüde und schüchtern. Yosh dagegen umso mehr.

Was hatte er sich erschrocken, als Alicia, während sie in einer Scheune im Stroh gelegen hatten, plötzlich angefangen hatte, seine Sachen aufzuknöpfen. Ihre Zunge hatte sie ihn seinem Hals versenkt und ihm würde immer noch schwindelig, wenn er daran dachte.

Und dieses Schwindelgefühl war alles Andere als angenehm.

Nun saß er mit seinen, wie er sie mittlerweile nannte, Zieheltern in der Küche und trank Tee.

Er liebte diesen Holundertee, den Marie selber machte. Auch wenn sie sich immer darüber aufregte, dass er den schönen Tee mit viel zu viel Zucker vergewaltigte.

„Wir werden heute in die Stadt fahren! Du brauchst dringend neue Sachen.", meinte Damian plötzlich. Yosh verstand es nicht ganz. Sicherlich, seine jetzigen Sachen waren alt, gebraucht und abgetragen, aber sie erfüllten ihren Zweck. Und wenn es nach Alicia ging, so würde die ihn scheinbar lieber ganz ohne etwas rumlaufen lassen.

So etwas hatte sie zumindest schon einmal angedeutete.

„Wann fahren wir?", fragte Yosh stattdessen freundlich. Marie, welche gerade dabei war einen Kuchen zu backen, lächelte ihn fröhlich an.

„Heute Mittag. Vorher müssen noch die Kühe auf die erste Koppel getrieben werden." Ein Zeichen für Yosh, dass er mithelfen musste.
Was nicht hieß, dass er sich darüber nicht freute. Er mochte es sogar, morgens aufzustehen, beim Füttern zu helfen und sich um die Tiere zu kümmern. Auch schien er eine Begabung zu haben, Dinge zu reparieren. Damian konnte es sich nie erklären, wie er Sachen, die eigentlich schrottreif waren, in Handumdrehen reparierte. Selbst Yosh war dies schleierhaft. Er hatte keine Ahnung, was er immer machte. Er kannte sich mit so was eigentlich überhaupt nicht aus und immer wenn Damian oder Marie ihm etwas brachten, zupfte er ein wenig an den Kabeln rum und es war heil.

Vielleicht war er früher mal Mechaniker gewesen?

Kurz nach zwei Uhr, waren sie fertig geworden. Normalerweise brachte Damian die Kühe erst Mitte April auf die Weiden, aber da das Klima mild war und die Tiere Auslauf benötigten, ließ er sie jetzt bei Tag raus. Die Koppeln würden davon keinen Schaden nehmen, da der Boden immer noch recht fest war.

„So, dann beeil dich mal, ich mach den Rest fertig!" Yosh nickte und lief schnell zum Haus. Er freute sich irgendwie nach Milltown zu gehen, warum genau wusste er nicht. Wahrscheinlich war es die erfreuliche Abwechslung, die dieser Ausflug da stellte. Schnell zog er sich aus und lief mit einem Handtuch bekleidet in Richtung Bad, welches direkt gegenüber von seinem Zimmer auf dem Flur lag.
Dieses war weiß mit einigen blauen Blütenmustern gekachelt. Ein kleines Fenster spendete Licht.

Eine Dusche stand in der einen Ecke, direkt daneben eine Toilette und an der Holztür waren zwei Waschbecken. Yosh schloss die Tür hinter sich zu und legte das Handtuch auf den Klodeckel. Schnell sprang er unter die Dusche, fluchte leise, weil sie ziemlich kalt war und erst langsam warm wurde.

„Verdammter Boiler!" Endlich wurde das Wasser wärmer und er konnte sich entspannen und den Kuhgeruch hinter sich lassen. So gern er die Stallarbeit auch hatte, er mochte den Geruch nicht sonderlich.

Er drehte das Wasser noch ein wenig heißer und lehnte sich genießerisch gegen die kühlen Fliesen.

Erst nach einer Weile griff er nach dem Shampoo und rieb es bedächtig in seinen Händen, bis es aufschäumte. Es roch angenehm nach Zitrone und irgendwie erinnerte es ihn auch an Sommergewitter. Er wusste nicht warum, hatte sich wohl auch schon längst damit abgefunden.

Langsam ließ er seine Hände über seine Schultern gleiten, weiter hinab über seine Brust, wo er schon bald tiefer ging.

Irgendwo in seinem Hirn keimte die Vorstellung, es wären nicht seine Hände, sondern schmalfingrige, sanfte Hände, von angenehmer Blässe, welche seinen Körper verwöhnten. Wieder brachen Gefühle über ihn hinweg, dominiert von einer unglaublichen Sehnsucht. So stark, als würde sein Herz zerspringen wollen.

Er glitt wieder über seine Brust, reizte die feinen Brustwarzen, kniff leicht zu. Es war das erste Mal, seitdem er hier war, dass er sich Berührungen dieser Art zukommen ließ.

Sanfte Nebelschwaden, entstanden durch die heiße Temperatur der Dusche umfingen ihn, als er seine Hand schüchtern zwischen seine Beine wandern ließ…

Wovor hast du Angst?", flüsterte eine Stimme an seinem Ohr. Sie war angenehm vertraut und spendete Sicherheit.

Ein Zittern lief durch seinen Körper, als seine Bewegungen schneller wurden.

Sieh mich an. Hab keine Angst, ich tu dir nicht weh!", hauchte die Stimme und der Besitzer küsste in am Nacken, biss manchmal zu und besänftigte die Haut mit seiner Zunge. Hände, so wundervolle Hände wanderten über seinen Körper, manchmal kratzen sie und strichen die Striemen liebevoll nach.

Es war Yosh, als würden seine Sinne explodieren. Eine Welle der Gefühle brach über ihm zusammen und vor seinen Augen sprangen helle Punkte auf und ab.

Erschöpft ließ er sich die Fliesen hinabsinken.

Er wusste nicht, was über ihn gekommen war. Er hatte keine Ahnung und es machte ihm Angst, das er wieder etwas… nun ja, gesehen hatte.

Siehst du, ich hab dir nicht wehgetan.", flüsterte eine Stimme.

Ich liebe dich…Drache!"

„Yosh, mach zu, wir wollen los!"

Sofort war der Junge auf den Beinen, wusch sich zu Ende und beachtete die Tränen, die aus seinen Augen rannen, wie Wasser vom Himmel.