Kapitel 3 – Can we call you Mary Sue?

by Raven

Wie es aussah, war Captain Jack Sparrow der Einzige, der angesichts der Dekoration des Speisesalons wirklich in Verzückung geriet. Händereibend stand er in der Flügeltür, ein breites Grinsen im Gesicht. Feierlich und freudestrahlend nahm er seinen Hut vom Kopf und blickte sich um.

Wolverine hinter ihm schnaufte hingegen verzweifelt. "Wieso hasst Snape uns so sehr?"

"Also, ääääh", meldete sich Vinya. "Ich finde es eigentlich auch ganz schön..." Es klang ein wenig gequält.

Der ganze Saal war in plüschiges Pink getaucht. Wohin das Auge sah, erblickte man Luftschlangen in allen Farbnuancen zwischen blassrosa und leuchtend quietschpink, die sich über Kerzenständer, Stühle, die Tafel, den Kaminsims und eigentlich überall hin wanden. Glänzend rosa Lametta und pinkfarbenes Konfetti schwebte von Zauberhand in der Luft. Vom Kronleuchter bis zur Gardinenstange hin erstreckte sich eine scheußliche Girlande aus rosaroten Herzen. Weitere, riesige Herzen aus Plüsch und Pappmaschee, überall im Raum verteilt, vollendeten das Bild einer Dekoration, die aussah wie das Interieur einer drittklassigen Schwulenbar.

"HALT JA DEN MUND", knurrte Wolverine zornerfüllt, der die Gedanken des anzüglich grinsenden Indiana sofort erraten hatte. Schlimm genug, dass Raven ihn genötigt hatte, des Nachts im Bett die Schnürstiefel anzubehalten, die er bei ihrem kleinen Kleidertausch Tags zuvor getragen hatte...

"Och, seht mal!" Raven sprang hervor und zeigte auf eine dreistöckige Torte in Herzform, die mitten auf der Tafel prangte. Wolverine trat zu ihr, fuhr eine Kralle aus, tauchte sie in die Torte und hielt sie Raven vor die Nase. Genüsslich schleckte sie die Sahne von der Kralle und grinste ihn dabei herausfordernd an.

"Ähöm!", machte Indiana sich bemerkbar und wies auf den Kaminsims. Dort standen fein aufgereiht sechs Karten, eine kitschiger als die andere, aber wenigstens nicht rosa.

"Wir haben Valentinstagskarten bekommen!", kreischte Raven aufgeregt und schnappte sich die erste. Sie klappte sie auf und begann vorzulesen. "Für Vinya, hey Vinya! Die hier ist für dich!"

Vinya zuckte mit den Schultern, ihr Blick war unablässig auf Wolverines Kralle gerichtet, an deren Spitze eine Cocktailkirsche aufgespießt war. "Lies vor."

"Deine Augen, sie leuchten wie das Licht der Sonne auf dem Boden einer Flasche goldenen Rums-"

"Wie süß, Jack!", freute sich Vinya und fiel dem Piraten um den Hals. Der wirbelte sie herum und ließ sie dann so abrupt wieder los, dass sie taumelte – direkt in Wolverines Arme.

"Oh, Mist!" Der Mutant hatte sie so unglücklich aufgefangen, dass die Kirsche irgendwie den Weg in ihr linkes Nasenloch gefunden hatte.

Eine Viertelstunde später hatten sich alle wieder beruhigt und Wolverine aufgehört zu bluten.

Nun griff Vinya sich eine Karte vom Sims. "Für Raven!", verkündete sie, klappte die Karte auf und las sie stumm. "Das kann nicht dein Ernst sein, oder?", fragte sie dann und sah aus, als wolle sie Wolverine noch eine verpassen. "'Deine Haut ist so zart wie die Brust eines Hühnchens, das unwiderstehliche Gefühl, wenn scharfes Metall butterweich durch Fleisch gleitet – oh, lass mich dich zerfleischen'?"

"Wie romantisch!", flötete Indiana Jones mit einem theatralischen Augenaufschlag.

Wolverine rieb sich etwas bedröppelt den Hinterkopf.

"Ich finde es schön", tröstete Raven ihn, schnappte Vinya die Karte aus den Händen und gab Wolverine einen Kuss. "Aber irgendwie ist mir jetzt schlecht." Und schon sank sie zu Boden, wo sie sitzen blieb und unkontrolliert zu kichern begann.

Alle warfen einander fragende Blicke zu. Dann zuckten sie mit den Schultern und ließen sich im Kreis um Raven herum auf den Boden nieder und lasen ihre Valentinstagskarten. Es war ein großes Hallo.

Irgendwann lagen sich alle in den Armen und sangen "Oh Happy Day". Jack reichte seine Rumflasche durch die Runde, Wolverine hingegen zog es vor, sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu gönnen.

Vinya knutschte Jack, Jack knutschte Raven, Raven knutschte Indy, Indy knutschte Vinya, Vinya knutschte Wolverine, Wolverine knutschte Raven, Raven knutschte Jack, Jack knutschte Indy – fast.

Denn plötzlich ertönte ein lang gezogener, markerschütternder, sich über drei Oktaven erstreckender Schrei. Er kam aus dem Keller. (Vinya meinte bemerkt zu haben, dass Jack für einen Moment einen Schmollmund gezogen hätte.)

Wolverine setzte die Bierflasche ab. "Foltert Snape schon wieder den Briefträger?", fragte er ohne großes Interesse.

Indy schüttelte den Kopf. "Das hörte sich ganz nach ihm selbst an."

"Ich glaube, hicks, er hat deine Karte bekommen, hupp", warf Jack ein, an Raven gewandt.

Diese gackerte fröhlich weiter und wurde so rosa wie das Lametta, das sie gerade in Jacks Haare flocht.

"Du hast ihm eine Karte geschickt?", fragte Vinya ungläubig. "Wieso hast du ihm eine Karte geschickt?"

"Ich dachte, er würde sich vielleicht freuen", entgegnete Raven spitz. Ihr war immer noch kotzübel.

In diesem Moment klingelte das Haustelefon. Jack hob ab, murmelte ein paar Mal "Hm" und "Verstehe". Dann legte er auf und verdrehte die Augen. "Das war Snape. Er hat die Torte vergiftet."

"Oh Wunder!" Wolverine grinste.

"Ich muss kotzen", murmelte Raven. Indiana nahm seinen Hut vom Kopf und bot ihn ihr bereitwillig an.

"Er hat wohl ein schlechtes Gewissen gekommen", belehrte Jack die anderen altklug.

"Ach nein, was du nicht sagst!", schimpfte Vinya. "Warum haben wir eigentlich einen Haushälter, der uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit vergiften will? Hm? Raven?"

Jack zog sich ein wenig Lametta aus dem Haar und flocht es in Wolverines Krallen ein, der drohend knurrte. "Du hast uns das Leben gerettet, Raven", witzelte Jack, "mit einer Valentinstagskarte! Unglaublich! Dürfen wir dich jetzt Mary Sue nennen?"

Raven ergriff eine Schere und schnippelte ihm mit einer blitzschnellen Bewegung ein paar seiner Dreadlocks ab. "Noch ein Wort, Captain Jack Sparrow, und ich schneide dir noch etwas ganz anderes ab."

"Das wirst du nicht!" Vinya kam wie ein Rammbock von der Seite auf Raven zugeschossen und spearte sie um. Sie kugelten ein Stück auf dem Boden herum. Wolverine knallte seine Bierflasche auf den Boden und begann, sie anzufeuern. Indy faselte irgendetwas von einem Schlammbecken.

"Lass mich los!", kreischte Vinya, die von Raven an den Haaren gezerrt wurde. "Argh, loslassen!"

"Er hat mich Mary Sue genannt!", keifte Raven zurück.

"Du hast gegen die Regeln verstoßen!"

"Hab ich nicht!"

"Hast du wohl!"

"Was für Regeln überhaupt?"

"Die ähm..."

Sie hielten inne, jede noch die Hände in den Haaren der anderen vergraben, saßen sie stumm da und sahen sich verständnislos an.

"Die... fang-nichts-mit-dem-Haushelfen-an-Regel!"

"So eine Regel gibt es gar nicht!"

"Gibt es wohl!"

"Gibt es nicht!"

Nun kam Jack angetorkelt und versuchte, die beiden Mädels auseinander zu reißen. Sie bissen und kratzten ihn hingebungsvoll, und Indy maulte "Will auch".

Da schwang die Tür auf und niemand geringeres als das Objekt der Streithühner schritt herein. Sein Gesichtsausdruck verriet die blanke Abscheu.

"Sevvie!", quietschte Raven und sprang auf. Mit Augen zu Herzchen geformt, grinste sie ihn an.

Snape warf ihr nur einen vernichtenden Blick zu und schickte die vergiftete Torte mit einem Schlenker seines Zauberstabs ins Nirwana. Er murmelte irgend etwas vor sich hin, das sich anhörte wie "Irgendwann kriege ich euch schon." Dann strich er sich den Umhang glatt und stolzierte wortlos und stocksteif hinüber zum Flügel, warf den Kopf zurück, setzte sich auf den Schemel, knackte mit den Fingerknöcheln und begann zu spielen.

Eine Weile lauschten die anderen ihm ehrfürchtig. Wolverine schnappte sich seine halbleere Bierflasche und begleitete Snapes ausnehmend virtuoses Spiel, in dem er dann und wann in die Flasche pustete.

Vinya und Indy begannen zu knutschen. Raven schnappte sich derweil Indys Hut und göbelte hinein. Jack schlug ihr dabei gönnerhaft auf den Rücken. "Fein alles rauslassen", riet er.

Indy und Vinya knutschten immer wilder. Dabei schlängelten sie sich quer durch den Saal über den Parkettboden. Plötzlich packte Indy sie und zerrte sie ziemlich grob an den Handgelenken hoch und warf sie – direkt auf den Flügel.

Das Problem war, dass Vinya so kurz geraten war. Sie kreischte durchdringend, als ihr Rückgrat krachend Bekanntschaft mit dem harten Holz des Flügels schloss.

Indy knurrte sie nur an und schob sie hoch, wobei sie mit dem Fuß aus Versehen an die Abdeckklappe der Tasten kam – RUMMS! Sie knallte Snape ziemlich schmerzhaft auf die Finger. Es gab ein widerliches knackendes Geräusch. Snape sprang wie von der Tarantel gestochen auf, fiel zu Boden, wälzte sich hin und her und jaulte dabei wie ein getretener Hund.

Indy begann ungeachtet dessen, Vinya von ihrem Korsett zu befreien und biss sie dabei stürmisch in den Hals. Die beiden bekamen nicht mehr mit, wie der ärmste Snape sich unter größten Schmerzen jammernd auf dem Boden wälzte. Wolverine ließ noch ein halbherziges "Pass doch auf, du Vollidiot" hören, als Snape beinahe mit der Hand im vollgereiherten Hut landete, und plötzlich blieb er erstarrt liegen und guckte ziemlich betreten in Ravens Augen. Sie lag neben ihm und grinste ihn an wie ein Schaf.

"Hi, Sevvie", kicherte sie verzückt.

"TÖTEN!", zischte er mit eisiger Stimme.

"Ehehehe!" Raven streckte die Hand aus und versuchte, sein viel zu hochgeschlossenes Hemd aufzuknöpfen. Er schlug ihr auf die Finger und jaulte weiter. "Niiiiicht!"

"Ehehehe!"

"Was ihr beide braucht", sagte Wolverine kurz entschlossen und zog Raven am Arm wieder auf die Beine, "ist frische Luft." Er packte auch Snape am Ärmel und stellte ihn wieder auf die Füße. "Raus mit euch."

"Au jaaaaa!" Jack machte einen ungelenken Freudensprung, "Schneeballschlacht!"

"Na dann los", trieb Wolverine sie an und hakte Raven unter, die noch immer bedenklich schwankte.

"Ich gehe in meinen Keller", sagte Snape bestimmt.

"Nix da. Du kommst mit." Wolverine ließ seine Fingerknöchel knacksen.

"Mann-ooooo!"

"Kommt ihr auch?", fragte Wolverine, an Indy und Vinya gerichtet. Die beiden schienen aber gerade zu beschäftigt um zu antworten, jedenfalls hatte Vinya sich in Indianas Schulter festgebissen und stöhnte ergeben, während Indy mit den Händen über ihren Körper fuhr und ihr seinerseits ins Ohrläppchen biss.

Wolverine knurrte angeregt. "Vielleicht sollten wir doch lieber auf dein Zimmer-", begann er, an Raven gewandt, doch als er sah, dass ihre Augen sich zu Spiralen verformt hatten und eine Schweißperle, so groß wie ein Fußball, auf ihrer Wange klebte, ließ er mutlos die Schultern hängen und trieb sie nach draußen.

Der Schnee lag fast einen halben Meter hoch, und die Stufen vom Schlossportal hinunter zum Park waren spiegelglatt. Snape flog sofort auf die übergroße Nase, kaum dass sie hinaus getreten waren. Jack versuchte, ihm hoch zu helfen, Snape war jedoch zu schwer und so verlor Jack das Gleichgewicht, landete auf dem Hosenboden, stuckerte – "Au! Au! Au! Au!" – die Stufen hinunter und blieb unten breitbeinig und nervös lachend im Schnee sitzen. "Whoa!"

Wolverine und Raven beachteten sie nicht weiter und entfernten sich ein Stück. Unter einer glitzernd schneebedeckten Weide blieben sie stehen.

"Geht's dir jetzt besser?", fragte Wolverine.

Raven nickte. "Das war vielleicht ein Film! Was hat er da nur rein getan?"

"Sag mal", Wolverine kratze sich am Kopf, "du stehst doch nicht etwa auf unseren Hauselfen?"

"Iiiiiich?"

"War nur so ein Gedanke... ich wollte dir nicht zu nahe treten..."

"Oh!" Raven grinste. "Was das angeht, dagegen habe ich doch nichts einzuwenden." Sie trat näher und umarmte ihn, wobei er sie unter seinem langen, dicken Wintermantel begrub. Wolverine strich ihr mit einer Kralle sanft über den Rücken.

Der kurze Moment der Romantik dauerte allerdings nur wenige Sekunden, denn schon ging quietschend die Eingangstür auf und Vinya steckte den Kopf heraus. Ihr Blick wurde von einem mit Händen und Füßen verzweifelt auf den Boden eintrommelnden Hauselfen und daneben einem mit Schneebällen jonglierenden, noch immer am Boden sitzenden Jack Sparrow angezogen. Sie hob eine Augenbraue und trat hinaus, Indy im Schlepptau. Der hob sie galant in seine Arme und trug sie die Treppen hinunter.

Wolverine knurrte vergnüglich und bückte sich, formte einen Schneeball und warf ihn nach Indiana, er traf ihn mitten ins Gesicht. Indy prustete und rieb sich den Schnee aus den Augen, dann stürzte er auf Wolverine zu und brüllte: "Warte nur, du Mutant! Ich verpass dir eine!"

Und so nahm eine ausgelassene Schneeballschlacht ihren Lauf, die erst nach Stunden endete, als alle völlig erschöpft, keuchend und lachend im Schnee lagen und mit Armen und Beinen Schneeengel formten.

Snape war aufgestanden und klopfte sich den Schnee von den Roben. Beruhigt hatte er sich allerdings noch lange nicht – sein Gesicht glänzte rot vor Zorn. Umständlich fummelte er seinen Zauberstab hervor, von den anderen unbemerkt, und holte tief Luft, zielte mit dem Zauberstab auf Vinya, verdrehte die Augen und brüllte aus Leibeskräften "Cruci- aaaaaaarrrrgh!"

Etwas riesiges, schwarzes, pelziges war ihm mitten ins Gesicht gesprungen. Nadelfeine Krallen vergruben sich in seinem Gesicht, Snape brüllte vor Schmerz, stolperte ein paar Schritte zurück und landete neben Jack im Schnee, der ihn nur verdutzt ansah.

"VERDAMMT!" Schimpfend und keuchend versuchte Snape, das Untier aus seinem Gesicht zu klauben. Die Krallen gruben sich in seine Hände und hinterließen tiefe, blutende Striemen, er packte das pelzige Ding im Nacken, es fauchte giftig, und endlich schaffte er, das pelzige Ungeheuer von sich loszumachen, schleuderte es von sich und landete auf allen vieren im Schnee. Der Kater heizte wie ein blitzschneller Schatten so schnell davon, wie er aufgetaucht war.

"Rancor!", freute sich Jack. Snapes Kater war lange nicht aufgetaucht, und Jack und die anderen hatten schon die Befürchtung gehegt, dass das Tier irgendwann ohne ihr Wissen als Hauptgang des Abendessens geendet war.

Snape ging in die Knie und auf allen vieren grub er im Schnee nach seinem Zauberstab. Vinya und die anderen kamen aufgeregt angerannt und dabei trat Vinya dem armen Hauselfen versehentlich auf die ohnehin schon durch Klaviertastendeckel und Katzenkrallen geschundenen Hände.

Es gab ein letztes Jaulen und dann fiel er in Ohnmacht. Mal wieder.

"Meint ihr, er ist okay?", fragte Raven und blickte besorgt auf das unschön verrenkt im Schnee liegende schwarze Häufchen Elend.

"Lassen wir ihn", meinte Indiana und zog sie und Vinya wieder in die gemütliche Wärme des Schlosses. "Der erholt sich schon wieder."

"Und wer", maulte Jack, "wer macht uns jetzt das Abendessen?"

Vinya drehte sich zu ihm und strich ihm mit dem Zeigefinger langsam über die Brust. "Wenn du willst, kannst du von mir naschen", sagte sie mit samtiger, tiefer Stimme.

"OKAY!" Ein letzter unbeholfener Freudensprung von Jack, dann liefen sie alle zurück ins Schloss, entledigten sich ihrer nassen Klamotten, sprangen in den heißen Whirlpool und alle hatten noch viel Spaß. Alle, bis auf Snape natürlich.