Kapitel 6
Wieder eingeschlossen

Überall auf dem Boden waren Bücher und Pergamentblätter verteilt. Es sah aus, als hätte jemand eine überfüllte Büchertasche explodieren lassen. Ausnahmsweise war es tatsächlich genau das, wonach es aussah. Und inmitten dieses überraschend kreisförmigen Durcheinanders stand Hermine Granger, die wortlos vor Wut kochte. Blaise stand direkt vor ihr, mit einem reichlich verlegenen Gesichtsausdruck.

Obwohl er es hätte besser wissen sollen, hatte er irgend eine Art von Zonko-Produkt in ihre Tasche fallen lassen, woraufhin die explodiert war. Und Hermine mußte plötzlich ohne jeden Grund ein Lachen unterdrücken. Er sah aus wie ein kleiner Junge, den man wegen eines Streichs ausschimpfte. Und mehr oder weniger war er das, wenn auch keine Worte gewechselt wurden.

Aber gerade als Hermine den Mund öffnete, um dem abzuhelfen, trat Snape um die Ecke und erblickte die beiden. Seine ohnehin schon verstimmte Miene wurde wütend, und er kam die letzten paar Meter in schnellen Schritten auf sie zu.

„Ich will gar nicht wissen, was passiert ist. Ich will nicht, daß Sie mir erzählen, was passiert ist. Aber, und das muß ich unterstreichen, sollte es je wieder passieren, werde ich Sie beide – ja, beide – der Schule verweisen lassen. Habe ich mich klar ausgedrückt?" sagte er in gefährlich ruhigem Ton.

Sie nickten beide, erstarrt wie Rehe im Scheinwerferlicht, und schluckten, als er fortfuhr. Es war fast komisch, wie abgestimmt ihre Bewegungen waren.

„Und Sie werden beide nachsitzen. Jetzt", teilte er ihnen mit und drehte sich um, um Richtung Kerker zu gehen.

Da sie keine Wahl hatte, zuckten sie mit den Schultern und folgten ihm. Wieder einmal hätte ein Zuschauer Grund zur Belustigung gehabt, als sie beide exakt zur selben Zeit die Schultern hoben. Vorübergehend herrschte zwischen ihnen ein unausgesprochener Frieden.

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Dieser Friede hielt jedoch nicht lange. Sobald sie ihre Aufgabe erhalten hatten, die darin bestand, die Zutaten der Schüler zu reinigen, begannen sie wieder zu streiten. Sie hatten das jetzt schon so lange getan, daß es Gewohnheit geworden war.

„Solche Strafen gibt es gar nicht mehr", kommentierte Blaise.

„Nein. Heutzutage ist Folter in vielen Ländern verboten, und daher sind solche Strafen wie diese illegal", erklärte Hermine in ihrem besten besserwisserischen Tonfall.

„Ah. Ich wußte doch, daß irgendwas daran ziemlich merkwürdig war. Aber wenn du Strafarbeiten der alten Schule willst, kannst du dich immer auf Professor Snape verlassen." Er nickte.

„Du meinst, sonst tust du das nicht?"

„Natürlich nicht. Ich bin ein Slytherin, ich traue niemandem!" rief Blaise mit schwer beleidigtem Ausdruck aus.

„Ich wette, du liest jeden Abend die Slytherin-Erwerbsregeln, oder?" fragte sie mit einem Schnauben. „Ich kann es geradezu vor mir sehen."

„Was, mich in Boxershorts?" fragte Blaise und unterdrückte ein Lachen bei ihrem Gesichtsausdruck. „Wer auch immer behauptet hat, Gryffindors hätten keine schmutzigen Gedanken, ist dir offensichtlich noch nicht begegnet."

„Halt die Klappe!" brummte Hermine, während sie rot anlief.

„Ich lege keinen besonderen Wert darauf zu erfahren, was für ein kleines Spielchen Sie spielen, aber so unterhaltsam es auch ist, Ihnen dabei zuzuhören, das hier ist eine Strafarbeit. Das bedeutet, daß Sie sich schlecht fühlen sollen. Sie werden fertig sein, wenn ich zurückkomme, oder Sie werden von vorne anfangen müssen", unterbrach Snape von seinem Platz unter dem Türbogen aus.

Sie nickten, Hermine immer noch leicht errötet.

„Aber sagen Sie mir, wer gewonnen hat", sagte Snape mit einem Grinsen, bevor er sie allein ließ.

Hermine blinzelte. Das war definitiv … untypisch für Snape. Seufzend wandte sich Hermine wieder dem Reinigen der Vorräte an Florfliegen zu, während Blaise auf der anderen Seite des recht kleinen Raumes kniete und Gläser neu sortierte, von denen sie keine Ahnung hatte, was darin aufbewahrt wurde.

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Snape kehrte zurück, sie waren fertig und konnten gehen. Überraschenderweise waren keine Beleidigungen ausgetauscht worden, seit Snape gegangen war. Anscheinend war im Moment keinem von ihnen nach Streiten zumute, so unterhaltsam es auch war. Snape sah sie mißtrauisch an, ließ sie dann aber gehen.

Schweigend schleppten sie sich die Treppen hinauf, und während Blaise zum Slytherin-Gemeinschaftsraum abbog, ging Hermine hinunter in die Küche, da sie beide das Abendessen verpaßt hatten. Sie kitzelte die Birne auf dem Gemälde und trat ein.

„Miß! Dobby ist so froh, Sie zu sehen. Kann Dobby Ihnen etwas bringen, Miß?" quietschte Dobby – wer sonst – kaum daß sie in Sicht war.

„Hallo, Dobby. Könntest du mir ein paar Brote bringen? Ich mußte bei Snape nachsitzen und hab das Abendessen verpaßt", erklärte sie.

„Ich bringe sie in einer Minute, Miß!" rief der Hauself aus und rauschte davon.

Hermine ließ sich auf einem Stuhl nieder und wartete. Ihr Plan, die Hauselfen zu befreien, war zu Staub zerfallen, als Dobby, Winky und zwei der Hogwarts-Elfen, die unter dem Spitznamen „die Twinkies" bekannt waren, sie überzeugt hatten, daß die Hauselfen gerne andere Leute bedienten. Nur gefühllose Arbeitgeber konnten sie nicht leiden.

Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als Dobby mit den Broten zurückkam. Anscheinend glaubte er, sie sei für eine Woche ohne Nahrung gewesen, denn es mußte ein Stapel von mindestens fünfzehn Schnittchen sein.

„Danke, Dobby", sagte sie und unterdrückte das Lachen, als sie das Essen entgegennahm.

„Wie geht's Ihnen, Miß?" fragte Dobby.

„Mir geht's gut, Dobby. Sieh mal, ich muß wirklich gehen, ich muß noch lernen. Ich komm ein andermal vorbei und besuch dich, in Ordnung?" erwiderte sie.

„In Ordnung, Miß!" Dobby hüpfte wieder davon.

Sie lächelte und verließ die Küche. Sie mußte wirklich lernen, da die Prüfungen näherrückten. Sie machte sich auf den Weg zur Bibliothek, während sie an den Broten kaute, ein Nicht-ganz-da-Lächeln lächelte und über alles nachdachte, was ihr gerade in den Sinn kam. Was ihr am häufigsten in den Sinn zu kommen schien, war Blaise.

Sie konnte einfach nicht aufhören, über ihre kleine Unterhaltung im Zaubertränke-Raum nachzudenken, als sie eine Bemerkung gemacht hatte und er geantwortet hatte: „Was, mich in Boxershorts?". Unglücklicherweise hatte ihr dieser Kommentar ein ziemlich unbehagliches Bild eingepflanzt. Mehr als einmal mußte sie sich ohrfeigen, mental natürlich, um die Vorstellung von Blaise in nichts als seiner Unterwäsche aus dem Kopf zu kriegen. Es war eindeutig unter den ersten Zehn auf der Liste von Dingen, die sie an ihrem Sterbebett beichten würde.

Sie warf sich den Rest eines Schinkenbrots in den Mund, stopfte die verbleibenden zwölf in ihre Tasche und betrat die Bibliothek. Madame Pince ließ in der Bibliothek niemanden auch nur einen Schokofrosch essen, daher hielt Hermine es für das beste, ihr Essen zu verstecken.

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Blaise hatte schlechte Laune. Er hatte bei Snape nachsitzen müssen, er hatte gemeinsam mit Hermine Granger den Vorratsschrank mit Zutaten für die Schüler gereinigt, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen, und jetzt hatte er das Abendessen verpaßt. Da er nicht wußte, wie man in die Küche kam, würde er bis zum Frühstück hungrig bleiben müssen. Bis dahin waren es noch etwa zwölf Stunden.

Er war nicht sicher, ob er es so lange aushalten würde. Er brauchte etwas, um sich abzulenken, deshalb ging er in die Bibliothek. Mit Büchern hatte er sich immer die Zeit vertreiben können, wenn er gelangweilt war, daher hoffte er, daß es auch funktionieren würde, wenn er hungrig war. Auch wenn es das nicht tat, einen Versuch war es wert.

Er stieß die Tür auf und wanderte für ein oder zwei Minuten ziellos durch die Regale, bis er auf eine abgeschiedene Ecke des großen Raums stieß, die Muggelbücher zu beherbergen schien, sowohl Sachbücher als auch Romane. Muggelromane hatten ihm schon immer gefallen. Die meisten Romane von Zauberern basierten auf dem Leben des Autors oder auf dem Leben anderer berühmter Zauberer, es wurde also schnell langweilig. Muggel auf der anderen Seite schienen eine lebhaftere Phantasie zu haben als Zauberer, daher schrieben sie interessantere Bücher.

Er zog wahllos eins heraus und setzte sich in einen der Plüschsessel. Er warf einen Blick auf den Titel, bevor er das Buch öffnete. Finnegans Wake stand dekorativ auf dem Umschlag. Er lächelte; das erinnerte ihn an diesen irischen Gryffindor, Seamus Finnegan. Er machte es sich gemütlich und vergrub seine Nase in dem Buch.

Es mußten Stunden vergangen sein, und sein Magenknurren war inzwischen auf der Richterskala meßbar geworden, als er hörte, wie sich jemand seiner Abteilung der Bibliothek näherte. Er blickte von seinem Buch auf, um Hermine vor sich stehen zu sehen.

„Ich werd dann mal gehen", sagte sie, und wandte sich ab.

„Nein. Setz dich", sagte er.

Sie drehte sich wieder um, hob eine Augenbraue und sah ihn an, ein winziges Lächeln auf den Lippen. Er hob selbst eine Braue und wunderte sich, was so witzig war.

„Du kommandierst mich rum, was?"

„Nein, aber ich werde dich auch nicht wegjagen. Setz dich", erwiderte er und versank wieder in seinem Buch,

„Finnegans Wake?"

„Ja", murmelte er. „Ist das ein Problem?"

„Nein. Eigentlich ist es ziemlich gut. Aber ich nehm lieber ‚Niemalsland'", sagte sie und setzte sich ihm gegenüber.

„Hmm", war seine abgelenkte Antwort.

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Plötzlich ging das Licht aus. Blaise blickte erschrocken von seinem Buch auf und fing Hermines ebenso überraschten Blick auf. Madame Pince stellte immer sicher, daß niemand mehr in der Bibliothek war, bevor sie abschloß. Also warum hatte sie das diesmal nicht getan?

„Ich geh die Türen überprüfen", murmelte Hermine und brachte die Spitze ihres Zauberstabs mit einer Zauberformel zum Leuchten, bevor sie losging.

„Tu das." Blaise sprach selbst einen Lumos-Zauber und legte sein Buch auf den Tisch.

Bald kehrte Hermine zurück, sie sah leicht verärgert aus. Sie ließ sich in ihren Sessel fallen und seufzte, was ihn ein wenig zum Lächeln brachte.

„Es ist eine bekannte Tatsache, daß ich intelligent bin, aber diese Intelligenz deckt nicht telepathische Fähigkeiten ab. Was ist passiert?" fragte er.

„Die Türen sind abgeschlossen, und sie scheinen außerdem mit Zaubern verschlossen zu sein. Nicht mal „Alohomora" funktioniert", stieß sie ärgerlich zum Fußboden gewandt hervor, ohne ihn anzusehen. „Und da die Bibliothek keine anderen Ausgänge hat, sitzen wir fest."

„Woher weißt du das? Vielleicht gibt es einen anderen Ausgang", meinte Blaise.

„Oh, glaub mir, es gibt keinen. Wir stecken mindestens bis zum Morgengrauen fest", antwortete sie düster.

„Das ruft Erinnerungen wach." Blaise schnaubte.

„Ich möchte fürs Protokoll festhalten, daß ich im Augenblick eine allgemeine Abneigung gegen dich verspüre", sagte Hermine.

„Nur im Augenblick?" fragte Blaise und hätte sich beinah dafür erschlagen, daß er sich hoffnungsvoll anhörte.

Woher zum Teufel war das gekommen? Sie war das Mädchen, das gedroht hatte, ihn vom Astronomieturm zu schubsen. Das Mädchen, das ihn „Baldrick" nannte, nur um ihn zu ärgern. Sie war das Mädchen, das versprochen – oder gedroht – hatte, zu seiner Beerdigung zu kommen. Dasselbe Mädchen, das ihm ununterbrochen auf die Nerven ging und sich über ihn lustig machte. Warum scherte es ihn auch nur im geringsten, was sie dachte?

„Willst du ehrlich, daß ich das beantworte?"

„Ja?" Er grinste unsicher.

„Na gut." Sie seufzte. „Nein, ich hab nicht immer was gegen dich. Manchmal, wohlgemerkt nur selten, kannst du tatsächlich ganz witzig sein. Du bist intelligent, du kannst noch über was anderes reden als Quidditch, Schach und irgendwelche Mädchen, die gerade vorbeigehen. Und du siehst mich weder als ein wandelndes Lexikon noch als eine Bedrohung für die reinblütige Welt. Alles in allem kann ich dich ertragen." Beim letzten Teil zwinkerte sie ihm zu.

Gegen seinen Willen spürte er Hoffnung in sich aufwallen. Also haßte sie ihn doch nicht. Und im nächsten Moment zerbrach er sich den Kopf darüber, warum ihm das überhaupt wichtig war. Mit einem Seufzen verdrängte er diese Gedanken und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.

„Ich bin dir gegenüber auch recht tolerant", erwiderte er beiläufig.

„Oh, vielen Dank." Sie setzte gerade dazu an, noch etwas zu sagen, als sein Magen sie mit einem lauten Grummeln unterbrach.

„Verdammt. Verräterische Körperfunktionen", murmelte er.

„Hungrig?" fragte sie und suchte in ihrer Tasche nach den übriggebliebenen Broten.

„Bin ich gestorben und in den Himmel aufgefahren?" fragte er, als er das Essen annahm und dankbar aß.

„Nein, aber bitte tu das, so schnell zu kannst", witzelte sie mit einem leichten Grinsen.

Er warf ihr einen gespielt finsteren Blick zu, konnte ihr aber nicht wirklich böse sein, immerhin war er am Verhungern, und sie hatte ihm gerade Essen gegeben. Das machte sie zu einer Göttin. Er ertappte sich wieder. Er sollte wirklich keine Zeit mit ihr allein verbringen, sie brachte ihn durcheinander.

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Drei Stunden später saßen sie noch immer in den Plüschsesseln. Blaise hatte Finnegans Wake für ein Buch mit dem Titel Die grüne Meile aufgegeben, Hermine war immer noch in Niemalsland vertieft. Da sie in nächster Zeit nicht hinauskommen würden, hatten sie es sich bequem gemacht und schlugen die Zeit mit Lesen tot, um sich nicht zu langweilen.

Aber der Grund, weshalb Blaise das Buch gewechselt hatte, war nicht, daß es ihn gelangweilt hatte, sondern daß er ständig abgelenkt war. Seine Gedanken kehrten immer zu Hermine zurück. Er dachte an etwas, was sie gesagt oder getan hatte, oder sogar etwas, das jemand anders getan oder gesagt hatte, das auf irgendeine Weise mit ihr zu tun hatte.

Mit einem Seufzen legte er das Buch beiseite und stand auf. Hermine sah ihn nicht mal an, und das machte ihn etwas wütend. Sie waren immerhin in der Bibliothek eingesperrt. Warum interessierte es sie überhaupt nicht, ob er aufstand und davonging? Vielleicht würde er sie alleinlassen, irgendeinen Weg nach draußen finden, und sich nicht darum kümmern, daß sie hier die ganze Nacht festsaß – allein.

Frustriert begann er, neben den Sesseln hin- und herzuwandern, wobei er jedesmal umkehrte, wenn er noch etwa dreißig Zentimeter von einem Bücherregal entfernt war. Er konnte einfach nicht mehr stillsitzen, er mußte etwas tun, oder er würde verrückt werden.

Nach einer Weile wurde er darauf aufmerksam, daß Hermine ihn von ihrem Sessel aus beobachtete. Ihr Buch hatte sie vor sich auf den Tisch gelegt. Sie schien leicht amüsiert zu sein, und ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Er warf ihr aus dem Augenwinkel einen Blick zu, schüttelte dann den Kopf, murmelte etwas, das nicht einmal er selbst verstehen konnte, und ging weiter auf und ab.

Gryffindors mit buschigen Haaren sollten in seiner Gegenwart nicht erlaubt sein. Sie lenkten ihn ab, gingen ihm auf die Nerven und waren nicht unbedingt gut für sein Selbstbewußtsein. Und die Tatsache, daß sie beinahe unerhört schön waren, war auch nicht hilfreich.

Er blieb unvermittelt stehen. Schön? Also gut, jetzt verlor er den Verstand. Hermine Granger war nicht schön, nicht im Traum. Aber auf der anderen Seite … häßlich war sie auch nicht, soviel mußte er zugeben. Das buschige Haar mochte nicht das attraktivste der Welt sein, aber das glich sie wieder aus, indem sie keine lächerlichen Mengen von Make-up und Schönheitsprodukten trug. Im Grunde hatte er sie nur einmal mit Make-up gesehen: beim Weihnachtsball in der vierten Klasse.

Er hatte in einer Ecke gestanden und sich mit seiner Verabredung unterhalten, die Kürbissaft ausgeschenkt hatte, während er im Geiste sarkastische Bemerkungen über die übrigen Anwesenden gemacht hatte, als sich die Tür geöffnet hatte und Krum eingetreten war. Im Gegensatz zu all den anderen, hatte er sie sofort erkannt. Was ihn überrascht hatte war, wie entspannt sie aussah, wie glücklich, auf eine leicht triumphierende Weise. Es war seltsam gewesen, sie nicht besorgt über irgend etwas zu sehen, seien es nun ihre Freunde oder etwas anderes.

Er bemerkte nicht, daß er Hermine die letzten beiden Minuten angestarrt hatte, bis sie aufstand und mit der Hand vor seinem Gesicht herumwedelte. Er blinzelte und sah sie verwirrt an. Sie hob eine Augenbraue und klopfte mit dem Fuß auf den Boden.

„Was kann bloß so interessant sein, daß du mich so anstarren mußt?" fragte sie.

„Nichts", murmelte er, immer noch starrend.

„Nichts? Als würde ich das glauben. Jetzt sag schon", befahl sie.

Die nächsten Augenblicke können nur als impulsiv, unbegreiflich und mehr als ein wenig sonderbar beschrieben werden. Noch Jahre danach würde er darüber nachgrübeln, was genau ihn dazu gebracht hatte, zu tun, was er getan hatte, aber er würde nie eine sinnvolle Antwort finden.

Um es geradeheraus zu sagen: Er legte ihr seine Hände auf die Schultern, lehnte sich nach vorn und küßte sie. Um ein abgedroschenes Klischee zu benutzen, die Welt um sie herum schien stillzustehen, und nur noch sie beide schienen darin zu existieren.

Sekunden später löste er sich von ihr und starrte sie mit einer Mischung aus Schrecken, Überraschung und einer nicht geringen Menge Schock an. Ihr Ausdruck war ziemlich ähnlich, und für einen Moment sagte oder tat keiner von ihnen etwas, sie starrten sich nur gegenseitig an.

Dann ließ Blaise sie los, als hätte er sich verbrannt, und machte einen Schritt zurück. Er stolperte um ein Haar, konnte sich aber gerade noch abfangen. Er murmelte vor sich hin, während er Hermine mit schreckensgeweiteten Augen anstarrte.

„Das hätte ich nicht tun sollen. Das hätte ich nicht tun sollen", wiederholte er immer wieder, fast wie ein Mantra.

Er machte auf dem Absatz kehrt und ging davon. Nicht aus der Bibliothek, aber weg von dieser speziellen Abteilung. Er wußte, er mußte mit ernsten Konsequenzen rechnen, wenn er sich nicht rechtfertigte. Aber im Augenblick konnte er es nicht mal selbst verstehen oder den Grund dafür nennen, daher war es unmöglich, es ihr zu erklären.

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Hermine starrte ihm nach, als er hinter den Regalen verschwand, vor sich hin murmelnd und mit einem Ausdruck absoluten Grauens. Um die Wahrheit zu sagen, ihr selbst ging es nicht viel besser. Das letzte, was sie erwartet hatte, war, daß er sie küssen würde.

Und was für ein Kuß das gewesen war. Jetzt wußte sie, was es hieß, von einer Tonne Ziegelsteine getroffen zu werden. Sie hatte nie wirklich einen festen Freund gehabt. Trotzdem war es nicht ihr erster Kuß, aber es war bei weitem der beste. Und dabei hatte er nur ein paar Sekunden gedauert.

Die Frage, die ihr im Moment auf der Seele brannte, war allerdings: warum? Warum hatte er sie geküßt? Warum hatte er sie angestarrt? Warum hatte er sich überhaupt auf eine Unterhaltung eingelassen, die man als zivilisiert bezeichnen konnte, nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war?

Aber diese Fragen konnten warten, entweder bis er zurückkam oder bis sie aus der Bibliothek herausgelassen wurden. Was immer zuerst passierte. Alles, was sie jetzt noch zu tun hatte, war, ihre eigenen Gedanken zu ordnen. Und das war wirklich keine leichte Aufgabe. Sie war noch nie in ihrem Leben so verwirrt gewesen.

Sicher, es war nicht gerade so, daß sie etwas gegen ihn hatte. Er war manchmal arrogant, aber auf eine spöttische Art. Er konnte unendlich nerven, aber er war ihr wenigstens geistig ebenbürtig. Aber nichts davon störte sie wirklich.

„Arg", murmelte sie zu sich selbst. „Das ist nicht hilfreich, nicht im geringsten. Was denke ich mir eigentlich, so was überhaupt in Betracht zu ziehen? Er ist ein nerviger kleiner Blödmann, und so sollte es auch bleiben. Aber wenn er so ein Blödmann ist, weshalb zum Teufel hab ich dann den Kuß so verdammt genossen?"

Sie sank in ihren Sessel und stützte den Kopf in die Hände, während sie verzweifelt, aber erfolglos versuchte, vernünftig, logisch und ruhig nachzudenken.


Anhang:
Die Slytherin-Erwerbsregeln

1. Slytherins sind nicht für die Dummheit der anderen Häuser verantwortlich.

2. Traue niemals jemandem, dessen Robe besser aussieht als deine.

3. Laß niemals zu, daß deine Familie einer günstigen Gelegenheit im Weg steht.

4. Sorge dafür, daß deine Lügen widerspruchsfrei sind.

5. Es schadet nie, sich beim Vorgesetzten einzuschmeicheln.

6. Schlafe nicht mit Verwandten deines Vorgesetzten.

7. Schlafe immer mit deinem Vorgesetzten, außer es ist Voldemort.

8. Verkünde von Zeit zu Zeit Frieden. Es wird deine Feinde vollkommen verwirren.

9. Je breiter das Lächeln, desto schärfer das Messer.

10. Wenn du etwas sowieso ertragen mußt, mach es dir bequem.

11. Gestehe nie, wenn Bestechung eine Alternative ist.

12. Diskutiere nie mit der Spitze eines Zauberstabes.

13. Flirten kann dir zu allem verhelfen. – Und wenn es nicht funktioniert, biete Sex an.

14. Gib nie einen Fehler zu, solange du jemand anderen beschuldigen kannst.

15. Behandle Menschen, die in deiner Schuld stehen, wie deine Familie: Nutze sie aus.

16. Sogar in den schlechtesten Zeiten macht irgend jemand Gewinn. – Stelle sicher, daß du das bist.

17. Was du umsonst bekommst, kostet manchmal entschieden zu viel.

18. Das Geheimnis des einen ist die Gelegenheit des anderen.

19. Je mehr du jemandem nimmst, desto größer muß das Ablenkungsmanöver sein.

20. Viel ist gut, alles ist besser.

21. Tief im Innern ist jeder ein Slytherin.

22. Wenn du immer das beste hoffst und das Schlechteste erwartest, wirst du nie enttäuscht sein.

23. Wenn niemand es beweisen kann, ist es nie passiert.

24. Tue nie etwas selbst, wenn du jemand anderen dazu bringen kannst, es an deiner Stelle zu tun.

25. Ehre ist immer verkäuflich.

26. Ein ehrloses Leben ist besser als ein ehrenhafter Tod.

27. Die beste Gelegenheit zum Töten ist die, die die Zeugen am meisten ängstigt.

28. Das Böse ist eine Frage des Standpunkts.


Anmerkung:

Was im Anhang steht, stammt aus einer Anmerkung der Autorin, die ihrerseits den Inhalt dieses Anhangs von übernommen hat. Ursprünglich scheint das Ganze an die aus Star Trek bekannten Erwerbsregeln angelehnt zu sein.