Lieber Professor,
Ich kann nur hoffen, daß Alexander Sie findet. Er kam heute morgen mit der kurzen Notiz für den Schulleiter und ich habe die Gelegenheit genutzt, ihm diesen Brief mitzugeben.
Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.
Natürlich bete ich, daß Sie die Dryade sicher wieder zu ihrem Baum geleiten konnten, aber ich weiß auch, daß ich beinahe alles zerstört hätte, was Sie geplant hatten. Ich habe gehört, daß man den Kopf dieser Diebesgilde fassen konnte und daß dieser Ihnen gesagt hat, aus welchem Wald die Dryade stammte. Ich hoffe, daß er sich erst geweigert hat, auszusagen... Es ist so unfassbar grausam, was diese Leute diesem armen Wesen angetan haben – und all das nur für Geld.
Der Schulleiter hat kein böses Wort darüber verloren, daß Sie das Wesen ins Schloß gebracht haben, auch wenn die Hausregeln es eigentlich verboten hätten. Er war im Gegenteil offenbar verwundert, daß Sie ihm nicht einfach gesagt haben, was Sie vorhatten. Aber angesichts des Risikos kann ich es durchaus nachvollziehen und ich denke – er auch... Es ist kaum zu glauben, daß dieses Wesen, so zart, zerbrechlich und hilflos es ausgesehen hat, doch so gefährlich sein kann. Ich wünschte, ich könnte sie einmal in ihrer natürlichen Umgebung sehen, aber ein solches Risiko wäre dann wohl doch zu groß. Bitte seien Sie vorsichtig, wenn Sie sie wieder mit ihrem Baum zusammenbringen!
Als wir am nächsten Morgen wach wurden, hatte ich mit Zorn gerechnet, mit lautem Schreien, mit einer Strafpredigt, mit Anklage – nichts von alledem wäre so schlimm gewesen, wie Ihr eisiges Schweigen. Wir haben nie viel miteinander gesprochen. Aber nun von Ihnen mit dieser Stille gestraft zu werden, ist mehr als ich auf Dauer aushalte! Die Kälte durch die Dryade war schon klirrend – aber das, was Sie in diesen letzten drei Tagen getan haben...
Bei Merlin, ich habe begriffen, daß ich niemals in Ihr Quartier hätte kommen dürfen. Ich weiß, daß ich mich in all der Zeit viel zu viel in Ihre privatesten Dinge einzumischen versuche und daß es unverzeihlich ist, daß ich Sie in diese missliche Lage gebracht habe – aber zählt es denn kein bißchen, daß ich letztendlich helfen konnte, die Dryade zu retten? Zählen nur die Fehler? Zählen wirklich immer nur meine Fehler?
Ich bin doch auch nur jemand, der versucht, alles so gut zu machen wie möglich. Ich weiß, daß ich in so vielen Dingen unzureichend bin. Und weil ich das weiß, bin ich so besessen davon, auf diesem einen Gebiet auf dem ich gut zu sein scheine, so viel zu leisten wie möglich. Aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß mir so sehr bewußt ist, daß ich außer der Fähigkeit gut lernen und logisch denken zu können, nicht viel zu bieten habe. Vor allem wenn mir jemand wichtig wird, beginne ich, über jedes Ziel hinauszuschießen und mich lächerlich zu machen.
Lachen Sie über mich, Severus? Lachen Sie über meine ärmlichen Versuche, Ihnen zu zeigen, was Sie für mein Leben bedeuten? Was Sie für mich bedeuten? Bei Merlin... wenn ich diesen Brief weiterschreibe, reite ich mich vermutlich noch tiefer in Ihre Verachtung als es bisher schon der Fall war.
Dabei war ich gerade so weit, zu glauben, ich könnte an Ihrer Seite stehen. Ich habe in Ihrer Aufmerksamkeit gebadet, habe mich in der Sonne gewärmt, die die Zeit darstellte, die Sie mir geschenkt haben und unser Tag in London war schöner als jedes Weihnachtsfest. Mit Ihnen zu Arbeiten ersetzt Essen und still neben Ihnen zu sitzen und gemeinsam mit Ihnen zu lesen, löscht jeden Durst... was soll ich Ihnen sonst noch sagen? Ich will nicht weg von Hogwarts. Aber nicht, weil ich Hogwarts so sehr vermissen würde – sondern weil ich den Gedanken nicht ertrage, von Ihnen getrennt zu sein.
Ich kann auf menschlicher Ebene nachempfinden, wie sich eine Dryade fühlen muß, die man von ihrem Baum trennen will...
Warum ich Ihnen diese geballten Emotionen einer aufgelösten Gryffindor zumute? Weil Sie sich gerade in sicherer Entfernung von mir befinden und ich das Gefühl habe, platzen zu müssen, wenn ich all dies hier nicht wenigstens aufschreibe kann, wenn ich es schon niemals wagen würde, es Ihnen offen ins Gesicht zu sagen.
Ich weiß bei Ihnen nie, woran ich bin! Erst habe ich geglaubt, Sie würden mich nur schwerlich ertragen, dann aber hatte ich das Gefühl, wir würden wirklich Seite an Seite arbeiten. Das eine Mal beschimpfen Sie mich, das andere Mal setzen Sie in dem Artikel über unseren Trank meinen Namen noch vor Ihren. Auf der einen Seite finden Sie auf alles was ich sage eine beißende Antwort, auf der anderen Seite senden Sie mir die wunderschöne Postkarte mit diesem ganz und gar außergewöhnlichen Text. Und um aus genau diesem Text eine Formulierung zu stehlen – manches Mal haben Sie mich glauben lassen, ich sei nah Ihrer Seele gewesen – aber was weiß ich schon von Ihnen...
Und nun sitze ich hier. Vergehe vor Sorge, weil ich weiß, daß Sie noch lange nicht wieder so gut zurecht sind, daß Sie eine Reise wie die, die Sie angetreten haben, problemlos absolvieren könnten und weil ich weiß, daß die so liebenswert wirkende Dryade in dem Moment in dem Sie sie zu ihrem Baum zurückbringen, möglicherweise keineswegs Dankbarkeit zeigt, sondern sich an Ihnen für das rächen will, was Menschen ihr angetan haben. Sie ist ein magisches Wesen und schon allein deshalb nicht einschätzbar. Was soll ich tun, wenn sie ihre magischen Kräfte um Sie spinnt und Sie in ihren Baum hineinzieht? Ich weiß, daß Sie nicht alleine dort sind – aber das macht die Angst nicht kleiner, solange auch nur ein winziges bißchen Gefahr besteht!
Severus! Haben Sie nicht genug Gefahr erlebt, als der dunkle Lord noch unter uns weilte? Müssen Sie sich weiter in Gefahr bringen? Warum tun Sie das uns, die sich solche Sorgen um Sie machen, an? Ich möchte Merlin bitten, MICH in eine Dryade zu verwandeln und wenn Sie zurückkehren, binde ich Sie magisch in mich hinein, lasse Sie nie wieder fort und gebe auf Sie acht. Den Büchern nach, leben die Gefangenen einer Dryade in der Täuschung von größter Glückseeligkeit. Aber Glücklichsein kann doch nicht täuschen. Entweder man ist glücklich, oder man ist es nicht. Ist es da nicht unerheblich, ob der vermeintliche Grund für das Glück real ist?
Das klingt eigentlich nicht, wie aus der Feder einer Gryffindor, nicht war? Aber wissen Sie was? Das ist mir, verflucht noch einmal egal! Es ist mir völlig egal! Ich will nur endlich nicht mehr jeden Tag, jede Stunde rätseln müssen, ob ich glücklich bin, sein kann... sein darf!
Sie verbieten mir den Umgang mit Alexander? Ich habe das Gefühl, er läßt sich den Umgang mit mir ebensowenig verbieten, wie ich mir den Umgang mit ihm. Im Gegenteil! Er freut sich, weil ich ihm gerade Zimtplätzchen gegeben habe und ich freue mich, weil der von Ihnen vielgelobte Wein, von dem Sie ja stets ein paar Flaschen auf Lager haben, tatsächlich hervorragend ist! Eigentlich mag ich gar keinen Wein, aber zum einen ist dieser hier wirklich phantastisch und zum anderen brauche ich nur einen gewissen Grad an Depression erreicht zu haben, um plötzlich das dringende Bedürfnis nach einem großen Glas mit schimmernd rotem Alkohol zu verspüren!
Wissen Sie, wo ich bin, lieber Severus? Ich bin in ihrem Wohnzimmer... ich wollte mein Buch holen und verschwinden – mein Versprechen einlösen, daß ich Hogwarts nur mit dem Buch verlasse. Ihr großartiges Angebot mit dem Stipendium nutzen und vorher für ein paar Wochen bei meinen Eltern wohnen. Aber ich habe es nur bis in den Halbkreis aus diesen grandiosen Fachbüchern geschafft. Anstatt mein Buch zu nehmen und zu gehen, habe ich mich im Schneidersitz davorgesetzt und stundenlang die Notizen studiert, die Sie ergänzt haben... und da war es dann wieder, dieses Gefühl, daß ich Ihnen wichtig sein könnte... warum sonst würden Sie Stunden über Stunden mit meinem Buch verbringen und jedes noch so kleine Detail daraus bearbeiten? Warum? WARUM? Ich sitze hier und kann Sie fühlen und muß dabei, vom Alkohol offenbar ein wenig enthemmt, abwechselnd lachen und weinen. Ja, ja... ich bin nun einmal eine Gryffindor. Überzogen und theatralisch von Geburt an! Na und? Warum darf ich Ihnen nicht sagen, wie ich mich fühle? Warum muß ich das mit einem Brief tun? Warum wechseln wir im Labor kein privates Wort? Warum kann ich zwischen den Zeilen Ihrer Briefe soviel mehr lesen, als IN den Zeilen? Warum schreibe ich genauso verschlossen zurück? Warum?
Ja, ich weiß, warum, warum, warum... aber ich muß es doch fragen, wenn ich mir diese Fragen, die so unvergleichlich wichtig sind, nicht alleine beantworten kann! Denn vielleicht können SIE mir sagen, warum ich Tag und Nacht nur daran denke, was Sie von mir halten, was Sie über mich denken, warum ich still werde, wenn Sie mich berührt haben? Warum ich den Atem anhalten, wenn Sie den Raum betreten? Warum mir kalt wird, wenn Sie gehen? Warum ich so unendlich oft von Ihnen träume und morgens die Augen auch dann noch geschlossen halte, wenn ich schon lange wach bin, weil ich die Bilder der Nacht nicht gehen lassen will? Warum, warum, warum... die Antwort ist eigentlich so offensichtlich... aber die Antwort auf all diese Fragen ist auch so groß, daß ich nicht einmal mit Hilfe des Weines wage, sie hier niederzuschreiben, wenn ich befürchten muß, von Ihnen nichts als mitleidiges Gelächter zu bekommen. Der Gedanke, daß Sie dies hier lesen und danach vielleicht diese Seiten kopfschüttelnd und angewidert ins Feuer halten läßt mich erschaudern – und doch weiß ich, daß die Chancen dafür gar nicht so gering sind.
Sie sind mir so unendlich wichtig... wie kann ich nur die richtigen Worte dafür finden, ohne daß Sie mir danach einen Strick daraus drehen? Machen meine Worte es schon unmöglich, mit Ihnen noch weiter im Labor zu arbeiten? Natürlich tun sie das... Es gibt eigentlich nur drei Arten, wie Sie auf meinen Brief reagieren können. Erstens können Sie mich rauswerfen und mir sagen, daß ich Ihnen nie wieder vor die Augen kommen soll. Zweitens könnten Sie – wie nach all unseren Briefen – so tun, als sei nichts gewesen. Und drittens könnten Sie... nein... eigentlich gibt es nur diese zwei Möglichkeiten.
Wissend, was Sie davon halten werden, daß ich den Abend gemütlich in ihrem Wohnzimmer vor Ihrem Kamin verbringe und Ihren Wein trinke, sollte ich wohl besser versuchen, das Schloß noch heute Nacht zu verlassen, bevor Sie morgen wiederkommen. Aber wie soll ich irgendwo anders als in Hogwarts leben, wenn ein Teil meines Lebens hier ist? Und nein, Sie Fachgenie mit der emotionalen Intelligenz eines Goldhamsters, damit meine ich nicht die Arbeit! Damit meine ich SIE!
Hm. Mir fällt gerade auf... sind Sie Harry Potter immer noch so schlecht gesonnen? Dann schicken Sie ihm diesen Brief – er wird sich danach sofort erschießen... Er hat immer geahnt, daß es einmal ein schlechtes Ende mit mir nehmen wird – aber daß es SO düster sein würde, daß ich, mich in melancholischen Emotionen schwelgend, auf dem Teppichboden von Professor Severus Snapes Wohnung vor dessen Kamin sitzen würde, das hat sicher nicht einmal er vermutet.
Mir gehen die Worte aus und mein Kopf ist langsam zu benebelt um noch vernünftige Sätze zu schreiben – hui, dieser Wein hat es wirklich in sich! – aber ich kann noch nicht wieder hier weg. Die Tür ist von innen verriegelt und das Feuer im Kamin brennt noch zu hoch. Ich habe gerade versucht, es zu löschen, aber der Zauberstab macht einfach nicht, was ich von ihm will... blöder Zauberstab...
Gebe ich diesen Kauderwelsch jetzt wirklich Alexander mit? Er sieht mich mit seinen käferschwarzen Augen an und ich glaube, er hat gerade genickt! Kann das sein? Oder... egal.. wie auch immer... schlimmer als jetzt kann es eigentlich nicht werden, oder?
Hoffentlich ist das Feuer bald herabgebrannt. Nehme ich das Buch dann mit? Oder lasse ich es hier? Bleibe ich in Hogwarts, oder flüchte ich schon mal vorsorglich? Heute Abend passen keine Fragen mehr in meinen Kopf. Ich sollte keinen Wein mehr trinken...
In Liebe, Hermine
