Titel: Ein Teil von dir
Autor: Selia
Teil: 2 von 2
Fandom: South Park
Pairing: Style (Stan/Kyle)
Kapitel 2: Schweigegeld fürs Paradies
Es war seltsam. Seltsam, wenn man in einem Bus saß und es gewohnt war, eine bestimmte Person neben sich zu haben. Seltsam, wenn diese bestimmte Person fehlte und an ihrer Stelle jemand anderes den leeren Platz füllte. Seltsam, wenn dieser andere dann wie üblich quatschte und seltsam, wenn man doch die ganze Zeit über nichts weiter tun konnte, als an denjenigen zu denken, der fehlte.
Denjenigen, dessen Name Kyle war und dessen Rucksack man wohlbehütet zwischen den eigenen Füßen deponierte zu Beginn der Fahrt, indessen Kenny den Platz auf der Bank im Bus neben Stan beschlagnahmte und munter mit dem Mädchen aus der Reihe vor ihnen flirtete. Nicht dass dieses offene Anbaggern in irgend einer Weise etwas Neues für Kenny wäre – im Gegenteil – doch die blauen Augen konnten nicht mehr als mit verklärter Faszination dabei zuzuschauen, wie spielend einfach der blonde Junge Worte und Taten nutzte, deren Wirkung keineswegs auf sich warten ließ. Warum fiel es Stanley nur selbst so unerträglich schwer in Punkto Liebe Erfolge zu verzetteln? Warum konnte man Kyle vorhin nicht so zum Lachen bringen, wie es Kenny soeben geschafft hatte bei dieser Jenny? Hieß sie Jenny?
Dies nicht wissend seufzte man gedehnt, schielte zum Rucksack zwischen den Schuhen hinab und bemerkte, dass einer der Schnürsenkel offen war. Die Unterhaltung, die der Nebenmann mit seiner Flamme führte, ging durch das eine Ohr rein und durchs andere wieder hinaus; doch so wie man Kenny kannte, schleimte dieser das Objekt seiner Begierde gehörig zu und vergaß nicht, sowohl Ironie als auch Witz an den Tag zu legen. Das war höchstwahrscheinlich die richtige Methode, um seine Zielperson zu überzeugen. Aus diesem Sichtwinkel betrachtet musste sich ernsthaft gefragt werden, wie man es jemals fertig brachte, mit Wendy zusammen zu kommen. Immerhin war Stan zwar durchaus bereit, als verliebter Trottel vieles zu tun, doch die Befürchtungen siegten definitiv gegen den Heldenmut im Inneren.
Ein Quietschen ging in dem fidelen Geplärre aller Businsassen unter, bei dem das Transportmittel zum Stehen kam und sich die ersten Schüler von ihren Sitzen erhoben. Ohne eine Miene zu verziehen sah der Schwarzhaarige dabei zu, wie das Mädchen vor ihnen Kenny zum Abschied zuzwinkerte und dann mit einigen anderen Mädels ausstieg. Die Türen zischten abermals, als sie sich schlossen und der Bus daraufhin wieder anfuhr; nur noch eine Station, dann konnte man auch endlich selbst aussteigen und auf direktem Wege zu Kyle nach Hause marschieren.
„Gott, Alter, hast du ihre Titten gesehen? Und ihren Arsch erst? Das ist 'ne 1A-Schnecke und jede Wette, sie lässt mich ran, nachdem wir morgen im Kino waren?"
Irritiert verlagerte sich Stanleys Sichtfeld auf den Blondhaarigen neben ihm, der die Hände hinterm Kopf verschränkt hatte und in Gedanken bereits bei seiner morgigen Verabredung war.
„Kenny... wovon willst du das Kino bezahlen?" Zwar war man in der Hinsicht nicht wie Cartman, der sofort ein „Du bist viel zu arm, um sie einzuladen!" zum Besten gegeben hätte, doch da geahnt wurde, wohin die Unterhaltung führte, ließ Stan die Frage anklingen und versuchte sich zu erinnern, wie viel Geld er bei sich trug.
„Ähm... keine Panik, ich hab da was in Aussicht."
In Aussicht? Obwohl von der eigenen Seite aus eine Augenbraue gehoben wurde, ignorierte einen der Gefragte und fuhr sich einmal durch die zerzausten Haarsträhnen, die in sämtliche Richtungen abstanden. Vielleicht war es auch besser, wenn Stan nicht so genau erfuhr, wie sein Kumpel das Geld zusammenkratzte; es hatte garantiert was mit sexuellen Dienstleistungen oder ähnlichen, obskuren Geschäften zu tun. Und Kenny mal ausnahmsweise keine Knete zu pumpen, bedeutete, ein Wochenende lang sein Taschengeld nur für sich alleine zu haben. Denn selbst wenn Kenny einem nie wie versprochen die paar Dollar zurückzahlte, so borgte man ihm jedes Mal aufs Neue etwas – immerhin war er seit Jahren einer der engsten Freunde und erinnerte unterbewusst daran, wie gut man es doch hatte, in einem wohlhabenden Elternhaus groß zu werden.
„Ich will gar nicht wissen, was du wieder in Aussicht hast..."
„Hey, im Gegensatz zu dir hab kein Problem damit, 'nem Typen für 5$ einen zu blasen! Das ist doch das leichtverdienteste Geld, was du machen kannst!"
„Kenny, ich sagte, ich will das nicht wissen..." Desinteressiert wie so oft verdrehte man die Augen und war recht froh darüber, als die Bremsen des Busses abermals quietschten. Sich diese Geschichten aus Kennys Erfahrungsschatz anzutun würde nur dazu führen, extrem rot anzulaufen und zu allem Überfluss womöglich noch Bilder im Kopf zu produzieren. Und wenn Stan eines nicht gebrauchen konnte, so war es mit einem Ständer bei Kyle anzukommen.
Der weiße Schnee knautschte unter den Fußsohlen, kaum dass sich beide Jungen in Bewegung setzten und den Bürgersteig entlang trotteten. Eingehüllt in die fast 12 Monate im Jahr in South Park vorherrschende Kälte trug man den eigenen Rucksack auf dem Rücken und hatte den anderen lässig über eine Schulter geworfen, indessen der Atem in Form von weißen Wölkchen aufstieg. Automatisch musste sich der Schwarzhaarige an die Situation auf der Toilette erinnern, als der gleiche Atem einer tropischen Hitze gleichkam und einen nahezu gar köchelte. Wie grundverschieden Dinge doch ausfallen konnten, wenn etwas fehlte – wie fad es doch war, wenn Kyle fehlte...
Die Hände tiefer in den Jackentaschen vergrabend schaute man erneut zu Kenny, welcher munter ein Kaugummi malträtierte und erst auf den düsteren Blick hin merkte, was er eigentlich tat.
„Oh, ich wette, du kannst die Teile heute nicht mehr sehen."
„100 Punkte für den Kandidaten."
Dass es nicht gerade einfach war, die voluminösen Locken von der pappigen Masse zu befreien, hatte sich zügig rumgesprochen. Cartman hatte wie so oft einen Anschiss und eine sechs kassiert, woraufhin er Mr. Buckley androhte, seine Mom zum nächsten Elternsprechtag zu scheuchen. Das würde dann genügen, um die Geschichtsnote zu retten; denn welcher alleinstehende Mann konnte dem Augenaufschlag einer als braven Hausfrau getarnten Nutte schon widerstehen?
„Und du hast echt alles aus seinen Haaren rausbekommen? Du hast nichts abgeschnitten? Kyle hat keine kahlen Stellen oder-."
„Heilige Scheiße, Kenny! Nein, verdammt! Das hast du mich vorhin schon alles gefragt! Man könnte glatt meinen-." Sich selbst unterbrechend blieb Stanley an Ort und Stelle stehen und schleuderte seinem Freund einen verurteilenden Blick entgegen; es war echt nicht mehr normal, wie tief Menschen für Geld und Essen sinken konnten... „Du spionierst für Cartman, richtig!"
„Also so hart kannste das nicht sagen, Alter. Er hat mir ein Schokoladentoast gegeben, den seine Mom gemacht hat, damit ich mal so ganz dezent anfrage. Und seine Mom macht den besten Schokoladentoast überhaupt!"
„...Du hast nicht dezent gefragt."
„Doch, vorhin schon. Dir kommt nur immer alles verdächtig vor; genauso wie du immer alles witterst, wenn's um Kyle geht."
Blank vor Entsetzen musste Stanley dabei zusehen, wie sein Gesprächspartner eine große Blase formte, welche zerplatzte und dann mit Hilfe der Zunge wieder von den Lippen in den Mund befördert wurde. Nebenbei war man wie mechanisch dazu übergangen, wieder neben dem Blonden herzulatschen und diesen anzustarren. Dieser hatte die letzten Sätze garantiert nur unüberlegt dahergesagt; anders konnte es nicht sein – anders durfte es nicht sein! Die etlichen Impulse, die durch den gesamten Körper wetzten, ließen Stan erschaudern und sich zugleich dafür rügen, jetzt nicht mehr zu tun als stumm aus der Wäsche zu gucken. Entsprechend wurde sich zusammen genommen und probiert, die deutliche Röte zu verbergen, indem man den Schal ein Stückchen höher zog.
„Ach, fick dich...! Er ist eben mein bester Freund; na und?"
„Ja, ist schon cool, 'nen besten Freund zu haben, auf dessen Arsch die Mädels Massenweise starren. Aber sie haben ja auch allen Grund dazu; denkst du nicht?" Kongruent zu seiner Frage, platzierte Kenny einen Arm um Stans Schultern und grinste verboten. Der altbekannte Kloß freute sich darüber, wieder im eigenen Hals einziehen zu dürfen und spätestens jetzt war das einzige, gewünschte Objekt eine Papiertüte, die man sich über den Kopf stülpen konnte.
„Okay, ich glaub, wir sind uns da einig." Wie von Engeln geführt hoben sich die Mundwinkel des blonden Jungens immer weiter, der seit Anbeginn der Junior Highschool seinen orangen Parker abgelegt hatte, was den eigennützigen Grund hatte, beim Flirten nicht jeden zweiten Satz wiederholen zu müssen.
„Herrgott noch mal...!" Vor lauter Peinlichkeit brachte Stanley indessen nichts Anderes zustande, als sich eine Hand auf die Augenpartie zu legen und die Lider zuzukneifen. Wenn Kenny ihn durchschauen konnte, dann konnte Kyle es wahrscheinlich erst recht und bald würde nicht mehr viel fehlen und die gesamte Schule wäre informiert. Spätestens dann, wenn ein altbekannter Fettarsch die glorreiche Nachricht erhielt und sie bestens an den Mann zu bringen wusste... Und das wiederum hieß auf wiedersehen zu Kyles Freundschaft zu sagen.
„Vor mir kannst du nix verstecken. Ich habe DIE Augen; denen entgeht nix."
„Okay, okay, ich hab 20$. Du kannst alles haben, aber kein Wort – zu niemandem! ...Bitte!" Symbolisch kramte man seine Geldbörse aus der Gesäßtasche, öffnete diese und hielt Kenny die paar zerknitterten Scheine vor die Nase. Der dabei entstehende Effekt war derselbe, als habe man einem ausgehungerten Eric Cartman ein Steak vorgesetzt; Stan hatte die längste Zeit 20 Dollar besessen und konnte jetzt lediglich noch dabei zuschauen, wie sein Freund die Scheine drückte, küsste und bejubelte als seien sie ein Heiligtum.
„Krass! Danke, Alter! Ich hätte übrigens eh nichts gesagt; und Fettarsch schon drei Mal nicht. Das weißte doch..."
Hätte man es mit Sicherheit gewusst, so hätte man sich nicht von dem schwerverdienten Taschengeld getrennt. Säuerlich und zugleich sprachlos verstaute der Schwarzhaarige sein Portemonnaie wieder und atmete hörbar aus.
„Na klar...!"
„Du hast ja auch nie verraten, dass ich was mit Miss Jankins hatte."
„Du hattest was mit unserer Kunstlehrerin!" Völlig entsetzt über diese Neuigkeit beschlich einen langsam der Verdacht, den heutigen Tag lieber im Bett verbracht zu haben als einen Abgrund nach dem nächsten zu erleben. Kennys Gesichtszüge wiesen nun Spuren von Verdutztheit auf, während er nach wie vor mit den grünen Scheinchen wedelte und erklärend gestikulierte.
„Ich dachte, du wüsstest das. Aber ist eh schon drei Monate her. Wir haben es auf diesen unbequemen Tischen im Kunstsaal getrieben wie die Tiere. Hölle, die Frau hat eine Stimme. Nur gut, dass die Wände so dick sind. Weißt du, sie hat total darauf gestanden, wenn ich in ihre Nippel gebissen und-"
„Wir sehen uns, Kenny." Mit einem Kopfschütteln wurde sich verabschiedet und um die nächste Ecke geschlurft. Dem Weg sei dank musste man es nicht noch weitere Straßen lang ertragen, diese Unterhaltung zu führen, die das Gefühl von Erniedrigung gepachtet zu haben schien. Stattdessen konnte Stanley jetzt dazu übergehen, sich selbst zu bemitleiden und sich Gedanken darüber zu machen, wie er zweideutige Sprüche von Kenny in Kyles Gegenwart bestmöglich ignorierte in Zukunft.
Alternativ dazu musste er die überflüssige Verliebtheit loswerden; doch aus Erfahrung wusste man unlängst, dass Gefühle dieser Art sich nicht einfach auf Befehl auslöschen ließen. Pessimistisch betrachtet würde man womöglich bis zum Eintritt ins Himmelreich Kyle anschmachten, während dieser sein eigenes Leben in aller Ruhe lebte und vor der eigenen Nase mit einem Weib rumknutschte. Die bloße Vorstellung produzierte Übelkeit in der Magengegend, sodass hastig der Kopf geschüttelt und tief Luft geholt wurde. Noch war es ja nicht so weit; noch waren sie beide süße 14 und mit etwas Glück lief einem bei nächstbester Gelegenheit irgend ein anderes, bezauberndes Wesen über den Weg, dem man hoffnungslos verfiel. Kontrollierend streifte das Sichtfeld bei dem Wunsch die übrigen Passanten; bei der Auswahl war ein neues Ziel wohl doch nicht all zu bald zu erwarten...
Im Vorbeigehen checkte Stanley sein Äußeres in einem Schaufenster, kam sich nicht mehr vor wie ein direkter Verwandter einer Tomate und überquerte die Straße, um kurz darauf auf ein ihm wohlbekanntes Haus zuzutraben. Gleichzeitig bedauerte er, nicht mal mehr genügend Kohle für eine Pizza oder einen Burger übrig zu haben dank der Schweigegeldzahlung an Kenny, der seine ersehnten Erfolge bestimmt erzielen würde an diesem Wochenende. Das war doch unfair! Warum konnte Kenny durch die Gegend laufen und fast jede Braut vögeln, indessen es einem selbst nicht mal gegönnt war, Kyle einen läppischen Kuss zu geben!
Entsprechend frustriert darüber presste Stan den Zeigefinger auf den Klingelknopf, woraufhin das penetrante Geräusch durch das Innere des Hauses tönte.
Sex für Kenny; nicht mal Händchenhalten für Stan.
„Verdammte Scheiße, das Leben ist so ungerecht...!" Mit einem Male erstaunlich angefressen maulte der Schwarzhaarige, war jedoch zu sehr in Gedanken verloren, um zu bemerken, dass sich in just diesem Moment die Türe öffnete.
„Warum? Hat Cartman dich etwa auch noch verarscht?"
„Äh... äh..." In etwa so intelligent ausschauend wie ein Fisch, probierte Stanley Worte herauszupressen, wobei sich sein Mund unkontrolliert zu öffnen und wieder zu schließen schien. Nebenbei wurde der Kopf geschüttelt und dem natürlichen Rouge abermals hallo gesagt. Wenn man so weitermachte, wären die 20 Dollar Schweigegeld eine Fehlinvestition gewesen; denn dann würde das Gegenüber von selbst hinter das blamable Geheimnis kommen.
Aus der Not heraus wurde sich deswegen nun mit der einen Hand auf die Brust geschlagen und ein Verschlucken simuliert, auf das hin Stan endlich in der Lage war, etwas Vernünftiges von sich zu geben, indessen er an Kyle vorbei ins Haus ging.
„Ne, ich... ich glaub, ich hab mich erkältet. In meinem Hals ist so ein seltsames... Kratzen. Ja, scheiße, es kratzt total."
Das urplötzliche Losprusten verriet, erneut vollkommen zu übertreiben und war Grund genug für den Besucher, sich so lange wie nur irgend möglich damit zu beschäftigen, Jacke und Schuhe auszuziehen.
„Eine Erkältung? Wehe, du steckst mich nicht an. Ich hab keinen Bock auf Schule nächste Woche. Aber ich glaub, in unserem Badezimmer steht noch was von diesem Hustensaft, den wir vor einigen Jahren immer getrunken haben, um high zu werden." Ohne Vorwarnung schnappte sich Kyle nun mit der einen Hand seinen Rucksack und mit der anderen den Arm seines Freundes, um diesen hinter sich die Stufen in den ersten Stock hinauf zu schleifen. Bei der Aktion verdankte man es lediglich den guten motorischen Fähigkeiten, sich nicht dezent auf die Schnauze zu legen, denn alles, worauf die blauen Augen gucken konnte, war der von Kenny vorhin in höchsten Tönen gelobte Hintern.
„Klingt geil, echt. Ich wollte schon lange wieder über dämliche Sachen lachen." Sich auch schon ohne Hustensaft wie benebelt fühlend, blieb man nun im Badezimmer stehen und beobachtete den anderen Jungen dabei, den Spiegelschrank überm Waschbecken aufzuklappen und zu durchforsten. Zuvor hatte Kyle seinen Rucksack elegant im Flur fallen lassen, was nichts anderes bedeuten konnte, als dass seine Mutter zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht daheim war. Andernfalls wäre solche Unordnung sogleich reklamiert worden; doch ein Horchen versicherte Stanley, mit seinem Kumpel allein zu sein.
Dieser zupfte einige Medikamente aus dem Schränkchen und ließ es sich nicht nehmen, sie mit entsprechenden Kommentaren zu versehen.
„Was ist das...? Meine Mom nimmt die Pille! Boah, eklig, Alter!"
„Ich sag's dir gleich: ich schluck nicht noch mal Hormone! Mir hat's gereicht, einmal Brüste zu haben. Hölle, da konnte ich ja nicht mal mehr meine Füße sehen, geschweige denn meinen Schwanz!"
„Die Brüste standen dir auch nicht... zumindest nicht zusammen mit dem Bart. Hm, hier hab ich Kopfschmerztabletten. Ne, auch nicht das richtige. Fieberzäpfchen!"
„Ich warn' dich!" Weder an die einstige Einnahme von Hormonen und die damit verbundenen Auswirkung noch an irgendwelche widerwärtigen Zäpfchen, die man sich in den Arsch schieben musste, wollte gedacht werden. Mit eindeutiger Abneigung gesegnet, nahm Stan deshalb auf dem Wannenrand Platz und stellte seinen Rucksack auf den gekachelten Boden.
„Keine Panik..."
„So wichtig ist das mit dem Hustenzeugs auch nicht." Lasziv winkte man die ganze Angelegenheit ab und studierte seinen Freund nebenher, welcher eine andere Mütze aus seinem gewaltigen Sortiment trug und nun ein weiteres Päckchen aus dem Schrank hervorzauberte, bevor er diesen wieder schloss.
„Na okay, du wirst trotzdem nachher versuchen, mir in den Mund zu spucken. Jede Wette, dass wir nächste Woche 'nen Test in Geografie schreiben."
„Kyle, du-" Noch ehe der Sitzende ankreiden konnte, dass der andere Junge sehr gut in besagtem Schulfach stand, unterbrach er sich und musste zwangsläufig grinsen bei der Aussicht auf Zielspucken. Das war zwar nicht direkt küssen, aber zumindest tauschte man Körperflüssigkeiten aus...
„Ja?"
„Ach nix. Was hast du da?" Irritiert musste Stan das Thema wechseln, während er auf die Pappschachtel in den Fingern seines Gesprächspartners deutete, welcher daraufhin wie aus dem Nichts einen triumphierenden Stolz hervorkramte.
„Das hier ist die Lösung all meiner Probleme, Stan!" Wie in einer Werbesendung hielt Kyle einem präsentierend das Produkt unter die Nase, sodass es möglich war die fetten Lettern aus nächster Nähe zu lesen und ihretwegen schockiert zwischen dem Schriftzug und Kyle hin und her zu blicken.
„...Haarfärbemittel?" Eintönig erlaubte man es sich, sein Augenmerk letztlich auf dem Gesicht des Rothaarigen ruhen zu lassen und dessen zuversichtliches Vergnügen mit jeder weiteren, verstreichenden Sekunde als wachsende Gefahr einzustufen.
„Ja! Siehst du? Schwarz. Ich werde mir die Haare einfach schwarz färben! Darauf hätte ich schon viel früher kommen müssen. Ist das nicht cool!"
„...Haarfärbemittel?" Die Wiederholung schien beide Anwesenden nicht weiter zu bringen; zumal sich weder Stanleys noch Kyles Miene änderte. Indessen letzterer voller Euphorie nickte, konnte ersterer lediglich die Augenbrauen tiefer ziehen nach einer schieren Ewigkeit und dann seine Begeisterung kund tun.
„Fuck...! Kyle, das ist die beschissenste Idee, die du in deinem ganzen Leben hattest!"
Als handele es sich beim Antlitz des Gegenübers um eine Glasplatte, gegen die mit einem heftigen Hieb geschlagen wurde, splitterten die Scherben der Freude zu Boden und gaben freie Sicht auf die darunter befindliche Verletzlichkeit. Eben diese war es, die Kyle mühsam mit Wut zu verstecken versuchte, kaum dass auch ihm bewusst zu werden schien, wie spielend leicht er soeben Einblick in sich hatte gewähren lassen.
„Aber... Aber es ist schwarz, verdammt noch mal! Was zur Hölle passt dir daran nicht! Es sind schließlich meine verfluchten Haare und ich kann damit machen, was ich will! Außerdem hätten wir sogar die gleiche Haarfarbe!"
Die Beschaffenheit des Raumes ließ den tosenden Ärger an den Wänden abprallen und im Zuge des Wiederhalles erneut auf Stan einschlagen, der sich nicht rühren konnte. Zu laut war die Anfuhr und zu groß die Befürchtung, seinen besten Freund noch mehr in Rage zu versetzen – ganz gleich womit; ganz gleich, ob man recht hatte...
„Ich dachte echt, du würdest mich mal unterstützen!"
Mal unterstützen? Das klang ja beinahe so, als würde man Kyle sonst nie beistehen; als würde man ihn mit seinen Schwierigkeiten immerzu alleine lassen und sich nur dann um ihn scheren, wenn man nichts Besseres zu tun hatte! Reflexartig ballten sich die eigenen Hände zu Fäusten, während Stan erneut registrierte, dass die hitzige Luft die Eigenschaft von kleinen Nadelstichen besaß.
„MAL unterstützen! Alter, ich mach seit Jahren nichts Anderes! Ich hab dir deine verfickten Schulsachen nach Hause gebracht! Ich hab dir diesen widerlichen Kaugummi aus den Haaren gepopelt, an dem Cartmans Rotze klebte! Ich tret' dem Fettarsch in die Eier, wenn er dich beleidigt und du nicht da bist! Ich nehm' dir 'Terrance & Philipp' auf, wenn du's nicht gucken kannst! Du kannst sogar nachts jederzeit durch mein Fenster bei mir einsteigen, wenn du Stress Zuhause hast! Also tu hier nicht so, als würde ich nie was für dich machen!"
„Stan, ich-"
„Und deine Haare sind nun mal rot und ja verdammt, ich hab was dagegen, wenn du sie färbst, weil ich dich nämlich nur mit roten Haaren kenne! Und weil diese roten Haare – egal, ob sie dir auf den Sack gehen oder nicht! – für mich einfach ein Teil von dir sind! Und nein, ich kann nicht akzeptieren, dass du sie nur färbst, weil ein paar dahergelaufene Wichser wie Cartman darüber Witze reißen!" Ohne sich unterbrechen zu lassen, wurde weitergewettert, sich aufgerichtet und die einen Dorn im Auge darstellende Packung rabiat aus Kyles Hand gerissen. Die sich derzeitig entladende Energie konnte nicht nur aus dem ungerechten Kommentar vorhin resultieren, sondern musste auch in Zusammenhang mit der sich selbst zugeschriebenen Schuld stehen. Denn wäre man nicht in ständiger Sorge darum, seine wahren Gefühle zu sehr nach außen zu kehren, hätte man schon lange klipp und klar zur Sprache gebracht, dass diese roten Locken nicht ansatzweise so schlimm waren wie Kyle glaubte.
Allerdings stand dieser jetzt bloß noch da, die Lippen ein kleines Stückchen geöffnet und ein undeutbares Mosaik aus Zweifeln, Pikiertheit und abschwellender Aggression beherbergend. Bedauerlicherweise hatte dieses zusammengewürfelte Gemisch eine zunehmend demotivierende Wirkung auf Stan, dessen Lungen nach der Anfuhr gierig nach dem stechenden Sauerstoff schnappten, was den an die Angst gekoppelten Schmerz bewusst machte.
Eben, vor nicht mal einer Minute, hätte man noch schreien können, dass diese Haare immerzu ein Phänomen für einen waren; doch jetzt gewann die Unsicherheit wieder vollends Überhand und zwang den Dunkelhaarigen dazu, trocken zu schlucken.
Höchstwahrscheinlich würde Kyle einen nun ebenfalls ankeifen.
Höchstwahrscheinlich begriff er gar nicht, was er für einen Fehler beging, wenn er sich nur wegen der Meinung anderer zu einer Färbung hinreißen ließ.
Höchstwahrscheinlich würde man in seiner Lage genauso reagieren, denn manchmal bedeutete den besten Freund zu kennen auch sich selbst zu kennen...
„Und... und wenn ich sie nicht nur wegen der scheiß Kommentare der anderen färbe!" War der Beginn der Frage noch verhältnismäßig ruhig gehalten, so schlug sie gegen Ende in seit je her bekannten energischen Trotz um, der Stan spontan die Finger stärker um das Päckchen krallen ließ.
„Aber warum dann? Rot ist doch... ganz okay." Die Gelegenheit, die positiven Äußerungen in Bezug auf die Farbe kund zu tun, zog ein weiteres Mal an einem vorbei und schien einen eisigen Wind hinter sich her zu ziehen, der Kyles gesamte Mimik einfror.
Ganz okay? Um sich das ärgerliche Funkeln in den grünen Augen zu ersparen, verschränkte man den einen Arm vorm Oberkörper und stützte den anderen so hinauf, dass mit der Handfläche das Gesicht verdeckt werden konnte. Denn wenn Stanley es bis eben nicht fertig gebracht hatte, seinen Freund wütend zu machen, dann hatte er es mit diesen letzten beiden Worte todsicher.
„Oh Jesus..."
„Oh Jesus? OH JESUS! Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du jemals auf eine Rothaarige scharf warst! Also laber nicht ständig, dass du rot okay findest!"
Was hatte das nun wieder mit dieser Debatte zu tun? Unwissenheit durch den eigenen Gesichtsausdruck kenntlich machend konnte Stan nicht anders, als den Kopf langsam und verneinend zu schütteln.
„Zur Hölle noch mal, was soll das, Alter? Was hab ich damit zu tun?" War etwa der eigene Geschmack maßgebend für Kyles Entscheidung oder interpretierte man dessen letzte Bemerkungen vollkommen falsch? Der Highway im eigenen Kopf, der heute früh noch so wundervoll von der Informationsflut befahren wurde, war zu einer ausgedörrten Landstraße mutiert, auf der sich Steine und vertrocknete Grasbüschel zwischen dem staubigen Sand tummelten und den klaren Gedanken kein Durchkommen erlaubten. Gleichzeitig senkte der schwarzhaarige Junge die Hand wieder herab und fühlte erneute Wogen der Nervosität durch sich hindurchfluten, kaum dass ihm das immense Beißen auf die Unterlippe beim Gegenüber auffiel. Vielleicht war Kyle ja einfach nur furchtbar sauer auf einen, weil man ihn seit je her mit dummen Sprüchen abspeiste, wenn es um sein Haar ging; vielleicht befürchtete er, man würde in Wahrheit nur aus Freundlichkeit die Floskeln zu Rate ziehen und die Abneigung vieler anderer teilen.
Indessen man heimlich beobachtete, wohin sich das Sichtfeld des Gesprächpartners flüchtete, wartete Stanley vergebens auf Antwort. Anscheinend hatte Kyle auf stur geschaltet, was seine gesamte Körperhaltung bestätigte, und erwartete, dass man in sein Hirn gucken und seine verworrenen Überlegungen lesen konnte. Manchmal war es doch einfacher, wenn einem der beste Freund einfach rücksichtslos entgegenbrüllte, was ihm nicht in den Kram passte, denn im Raten war man seit je her eine absolute Niete. Dennoch raunte die Stimme im eigenen Körper fortwährend, sich endlich zu überwinden und durch ein paar aufrichtige und nicht ganz so alltägliche Worte derjenige zu sein, der als Erster das Schweigen brach. Bedauerlicherweise stand man nun nicht mehr nur dem Problem gegenüber, sich selbst zu blamieren und zu viel von seinen Empfindungen preiszugeben, sondern könnte ebenso auf Ablehnung stoßen. Denn nachher würde Kyle einem nicht mal glauben, sondern noch mehr durchdrehen.
Von einem Streifzug durchs Badezimmer zurückgekehrt, richtete sich das blaue Augenpaar auf die noch immer in der einen Hand befindliche Packung Haarfärbemittel und konnte nun auch das Preisschild ausfindig machen, welches auf der Rückseite klebte. Wahrscheinlich hatte der andere Junge sein Taschengeld für diesen Schmarn rausgeschmissen und Stanley musste ungewollt seine Mundwinkel minimal anheben, als ihm bewusst wurde, nicht mehr der einzige zu sein, der knapp bei Kasse war.
„Ich hoffe, du hast den Kassenbon noch..."
„Ach, gib her!"
Den guten Reflexen war es zu verdanken, dass man seine Hand rasch bewegen und so vereiteln konnte, dass sich Kyle parallel zu seiner Aufforderung hin selbst bediente.
„Alter, ich mein's ernst. Du brauchst dieses beschissene Zeug nicht. Deine Haare sind... faszinierend. Ich mag sie. Färb sie nicht, okay!"
„Faszinierend...?" Eine von Unglauben berichtende Tonlage konfrontierte Stan plötzlich mit genau dem, wovor er sich gefürchtet hatte. Dazu zählte dieser ihn wie eine Maschine scannende Blick, der von Kyle ausging und seinen gesamten Körper ausgiebig unter die Lupe nahm. Es war naheliegend, dass das Gegenüber nun bemerkte, dass man verstärkt schwitzte, unnatürlich nervös war, nicht gerade selbstbewusst klang bei dem Versuch, ein Kompliment zu machen, und zum krönenden Abschluss nicht einmal wusste, wie man in irgend einer Weise locker bleiben sollte. Stattdessen wurde minimal gewippt und im recht leeren Oberstübchen nach Rechtfertigungen gesucht, die nichts mit den Auswirkungen von Entführungen durch Außerirdische oder dergleichen zu tun hatten.
Bevor es allerdings dazu kam, die spärlichen Resultate vorzutragen, verzog der Rothaarige seinen Mund und wirkte genauso angefressen wie zuvor.
„Du magst sie! Seit wann denn das? Bisher waren sie immer nur okay!"
„Ich-ich weiß, was ich immer gesagt hab, aber... ich hätte es dir früher gesagt, wenn ich geahnt hätte, was du jetzt für 'nen Scheiß vorhast! Außerdem wusste ich nicht, dass dir meine Meinung so wichtig ist! Du tust gerade so, als läg' es jetzt einzig und allein an mir, dass du deine Haare färben willst!"
„Du kapierst es einfach nicht, Stan!"
Man kapierte es einfach nicht? Sich von dem ungerechten Urteil wie von K.O.-Schlag in die Magengrube getroffen vorkommend, taumelte etwas im Inneren und ließ Stanley sowohl erbost als auch enttäuscht zurück. Wie sollte man Kyle denn auch verstehen, wenn dieser ununterbrochen in Rätseln sprach und sich in seinen Ärger hineinsteigerte, sofern man nachhakte? Wie sollte man diesem Kerl überhaupt noch irgendwas recht machen? Immerhin hatte man ihm gesagt, wie man zu seinem angeblichen Problem stand und das war der eigenen Person keineswegs leicht gefallen! Jetzt so elegant die kalte Schulter zugewandt zu bekommen, war in etwa so angenehm als habe jemand einen Eimer Eiswasser über dem pochenden Herzen ausgeschüttet, welches daraufhin in unkontrollierbaren Krämpfe der Kälte erbärmlich unterlag.
„Ja, du hast recht: ich check's echt nicht! Ich hab keinen Plan, was du noch willst! Aber das ist jetzt eh scheißegal, weil du was Bestimmtes auch nie gerafft hast!" Obschon die Worte in Punkto Lautstärke nicht mit denen des anderen Jungen konkurrieren konnten, waren sie mit einer unterschwelligen Bitterkeit versehen, indessen Stan das Päckchen Färbemittel mit aller Kraft auf den Fußboden donnerte. Sollte Kyle doch auf Knien den einzigen Weg aus seinem sonst so verkorksten Leben finden; spätestens wenn die natürliche Farbe nach einigen Wochen am Ansatz sichtbar wurde, bekam er Probleme, da man sich nicht vorstellen konnte, dass seine Mutter ihm erlaubte, nachzufärben.
Doch das war nicht mehr die eigene Angelegenheit; entsprechend strammen Schrittes stapfte der Dunkelhaarige aus dem Badezimmer, durch den Flur der ersten Etage und dann die Treppenstufen hinab, um am Kleiderhaken anzuhalten und sich seine Jacke überzuwerfen. Es wäre wohl am besten gewesen, Kyle niemals zu widersprechen – geschweige denn, ihm zu erzählen, was man wirklich von seiner glorreichen Idee hielt. Dann hätte man zwar einen Stein im Magen, doch das war bei weitem besser als das miese Gefühl, welches wie ein drückender Schatten in der eigenen Brust thronte und seine helle Freude daran hatte, bei jedem weiteren Schlag auf das bedauernswerte Herz einzuprügeln. Nach dieser Auseinandersetzung war es fraglich, wie lange es dauerte, bis wieder einigermaßen normal miteinander gesprochen werden konnte; falls es überhaupt möglich war...
Die Ohren fingen ein stolperndes Geräusch auf, während sich die eben erst ausgezogenen Schuhe geangelt wurden. Stan bemühte sich, zu ignorieren, dass sein Freund hinter ihm die Treppe heruntergestürmt war und sich den Lauten nach zu urteilen in letzter Sekunde am Geländer festhalten musste, damit er nicht hinfiel im Eifer.
„Stan... warte!"
Da man nicht reagierte, sondern unbeirrt nun auch in den zweiten Turnschuh schlüpfte, schlang sich im nächsten Moment eine Hand ums eigene Handgelenk. Der Plan, mit erhobenem Haupt und falschen Stolz davon zu stolzieren, war somit zum Scheitern verurteilt, weil Stanley sich trotz Sturheit nicht dazu zwingen konnte, sich loszureißen und ihn einfach in die Tat umzusetzen. Anstelle dessen hatten sich die blauen Augen zu Schlitzen verformt und ruhten auf dem Teppichboden, welcher Gefahr lief in Flammen aufzugehen bei der hitzigen Atmosphäre.
„Ich... ich wollte vorhin nicht behaupten, dass du nie was für mich tust..."
Zwar stand man nachhaltig mit dem Rücken zu Kyle, aber trotzdem lugten die Pupille verstohlen zur Seite; Stan machte die Tatsache, dass sich sein Hintermann nun doch endlich zu diesem im Streit gefallenen Aspekt äußerte, dafür verantwortlich. Eventuell schaltete das Hirn eines gewissen Einserschülers heute einfach eine Spur zu langsam...
Man wäre dazu übergegangen, andere fiese Erklärungen im Stillen für sich zu finden, meldete einem die empfindliche Haut nicht soeben, dass sich die fremden Finger vom Gelenk langsam abwärts bewegten und letzten Endes die eigenen Finger zugleich zögernd als auch entschlossen umfassten. Spätestens das war der Zeitpunkt, in dem man die störende Röte abermals im Gesicht wahrnahm und es demzufolge erst recht nicht wagte, sich umzudrehen oder gar etwas Ungeschicktes zu stammeln.
„Eigentlich macht kaum jemand so viel für mich wie du... Wenn meine Mom meint, sich für mich einsetzen zu müssen, ist es entweder übertrieben oder peinlich... oder beides zusammen. Aber du weißt immer, wie du's richtig machen musst. Danke..." Ebenso wie die Stimme mit jeder Silbe leiser wurde, bis lediglich noch ein Wispern übrig blieb, verriet der warme Atemzug, dass Kyle mit kleinen Schritten unmittelbar hinter einen getreten war. Höchstens ein paar lausige Zentimeter durften fehlen, damit dieser sein Kinn auf der Schulter des Schwarzhaarigen betten konnte, dessen Blut so enorm schnell pulsierte, dass befürchtet wurde, jedes Klopfen aus dem Brustraum sei noch im Nachbarhaus zu vernehmen.
Ein Hauch von Milde feierte parallel zu den Sätzen Einzug aufgrund der Betonung und dem vorgetragenen Inhalt, der die gröbsten Ausmaße der Versteifung aus Stan hinauspustete wie ein fideler Herbstwind es bei buntem Laub spielend zu tun vermochte. Dem gegenwärtigen Stand der Dinge nach zu urteilen, glaubte man, das Projekt 'Haare färben' sei gestorben; Kyle wirkte nicht mehr beleidigt oder gar übelst sauer, sondern schien mit der ebenfalls empfundenen Reue des Streites zu kämpfen. Ihm ein Zeichen dafür gebend, keinen Deut besser dran zu sein, wurden die Finger dahingehend bewegt, die seichte Umschließung zu erwidern. Und genauso wie man es am Vormittag heimlich bei den Locken getan hatte, so probierte Stanley auch jetzt, sich das unverwechselbare Gefühl der Verbindung der Finger einzuprägen.
„Sag mir bitte, was ich bei dir nie verstanden hab." Es kostete kaum zwei Sekunden, bis Kyle einen elegant umrundete und demnach von Angesicht zu Angesicht geredet werden konnte. Bloß dass einem die Worte fehlten, um auf die Bitte zu antworten; denn was man eben wie bei einer Explosion vor Verlassen des Bades von sich gegeben hatte, sollte ursprünglich nie ans Tageslicht kommen.
„Sag du mir zuerst, wieso ich an deiner Unzufriedenheit schuld bin."
Als habe man soeben ein Kommando gegeben, senkten sich die Lider des Gegenübers und die Schwere eines Seufzens lag in der Luft. Vorerst konnte für sich vermerkt werden, Zeit mit einer Gegenfrage zu schinden, doch danach würde entweder eine Notlüge oder aber die nackte Wahrheit preisgegeben werden müssen. Eine Notlüge fiel Stan nicht ein, passende Umschreibungen für seinen wirklichen Zustand ebenso wenig und dass sich der Rothaarige in just dieser Sekunde zu einem hinüber beugte, um einem etwas zuflüstern zu können, schaltete die Denkfunktion gänzlich aus.
„Du magst doch schwarzes Haar... Du warst mit Wendy zusammen und-und ich dachte, du sagst immer nur ‚okay' zu meinen Haaren, weil du nett sein willst. Nicht, weil sie dir gefallen..."
Sollten sie das denn in erster Linie? War Kyle schon in einer derartigen Weise darauf fixiert, dass ihn die wildesten Zweifel ritten? Sprachlos, woran die sich nicht ändernde Haltung zueinander nicht unschuldig war, konnte aus all den Worten nur eine Schlussfolgerung gezogen werden: es musste einen Grund dafür geben, warum Kyle einem so verbissen gefallen wollte und wäre dies ein Traum, so hätte Stan sogleich von sich auf seinen Freund geschlossen. Doch was nur heimlich zu hoffen gewagt wurde, konnte nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Bestimmt gab es eine logischere Erklärung als durchgebrannte Gefühle; eine, die womöglich total simpel war und einem gerade deswegen nicht in den Sinn kam.
„Ich mag dein Haar... wirklich. Ich verarsch dich nicht, indem ich einfach was behaupte, nur um dich ruhig zu stellen." Die trockenen Gesprächsbrocken schafften es irgendwie, Hals, Stimmbänder und Mund zu passieren und an dem beinahe unhörbaren Wohlfühlgeräusch konnte festgemacht werden, dass sich Kyles Mundwinkel im Zuge eines beruhigten Schmunzelns anhoben.
„Ich weiß... Ich hätte dir glauben sollen, es war mir nur so wichtig... Du bist mir wichtig, Stan."
Nur all zu gerne hätte man eine positive Resonanz kund getan – nicht zuletzt, da sich das Gegenüber wieder zurücklehnte und einem kurzweilig direkt in die Seele zu blicken schien – doch noch ehe man eine Chance dazu erhielt, hauchte Kyle einem einen vorsichtigen Kuss auf die Lippen. Kaum zu spüren und gleichzeitig so schmeichelnd wie eine warme Sommerbrise, die ein Bedürfnis nach mehr weckte. Allerdings fehlte auch hier die Möglichkeit, selbst aktiv Teil zu nehmen, denn das ganze Schauspiel schien nicht mal eine Sekunde zu dauern und artete in fahrige Befürchtungen aus.
„Jetzt wirst du mir wahrscheinlich nicht mehr erzählen wollen, was ich nie begriffen habe..."
„Hast du mich gerade geküsst?" Perplex sprudelte die Frage aus Stanley hinaus wie aus einer freigelegten Quelle, spiegelte den erlittenen Überraschungseffekt wider und veranlasste den anderen Jungen dazu, erneut die Lider zu senken. Nun war es einem erstmalig klar; jetzt konnten erstmalig die von Nervosität herrührenden Signale auch bei Kyle identifiziert werden, welcher sich auf die Lippe biss, unverkennbar beschämt erschien und in die Verteidigung abrutschte.
„Ja, schon, aber... ich hatte das doch nicht geplant! Das-das hat sich so ergeben nach der ganzen letzten Zeit. Sei nicht sauer auf mich; ich werd's auch nie wieder tun, ich versprech's. Wir können doch Freunde bleiben; bitte...?"
„Nein! Äh, ich mein... Ach, verdammt noch mal! Kyle, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber ich stehe sogar so sehr auf dich, dass ich Kenny schon Schweigegeld gezahlt habe, damit er den Rand hält."
Das war erniedrigend, nichts weiter. Es war erniedrigend, wie leicht man zu durchschauen war und es war erniedrigend, sich zunehmend blamierter vorzukommen, indessen auf dem Gesicht des anderen Jungen die fatale Verzweiflung wie Eis hinwegschmolz und einem undefinierbaren Grinsen Platz machte. Sich ausgelacht vorkommend, wurde etwas Unverständliches gemurmelt und darauf gewartet, dass aus der nächstbesten Ecke ein dämlicher Moderator hervorsprang, der einem eröffnete, soeben für irgendeine grottenschlechte Fernsehshow gefilmt zu werden.
Jedoch blieb letztere Befürchtung nur eine Alptraumvorstellung, wohingegen die Fingerspitzen, die sich unter Stans Kinn schummelten und ihn dazu nötigten, geradewegs in die grünen Augen zu schauen, real waren. Ebenso real wie das nachhaltig bestehende sonnige Gemüt von Kyle, welcher wie ein Honigkuchenpferd von einem Ohr zum anderen smilte und in keiner Weise entsetzt erschien.
„Shit, das Geld hätten wir uns beide sparen können. Aber okay, Kenny ist arm..."
„Beide...?"
„Ja, Kenny hat doch die DIE Augen und ich hatte echt keinen Bock darauf, Gesprächsthema Nummer 1 in der Penne zu sein."
Wer wollte das schon? Immerhin hatte man aus derselben Panik heraus Scheinchen springen lassen und beneidete Kenny nun nicht mal mehr ansatzweise so sehr um sein Date wie vor knapp einer Stunde noch. Denn der knisternde Mix aus warmfeuchter Atemluft und sich annähernder Lippen war garantiert erst der Auftakt zum Eintritt in ein Paradies, das keiner von ihnen jemals wieder missen wollte.
Ende
