„Habt ihr ein neues Rätsel für mich?" fragte sie die beiden.
„Nöööö", meinte Alph. „Aber du hast eines für uns: wer ist das?"
Ralph musterte mit zwei halb geöffneten Augen Toby, der sich vorsichtshalber halb hinter Sarah verborgen hatte. Angst hatte er natürlich keine, er versteckte sich nicht! Aber es war doch gut, wenn Sarah eine Rückendeckung hatte...
„Oh, das ist mein Bruder Toby", stellte Sarah ihn vor und zog ihn nach vorne.
„Der kleine Toby?" fragte Ralph jetzt hellwach.
„Genau der", antwortete Sarah.
„Hallo Junge!" begrüßten ihn die beiden leicht misstrauisch.
„Hallo" grüßte Toby sie schüchtern.
„Was heißt das: ihr habt kein neues Rätsel für mich?" wollte Sarah wissen. „Ich muss zum Schloss!"
Alph und Ralph sahen sich ratlos an. „Ja, weißt du..." begann Alph schließlich, „wir haben deshalb kein neues Rätsel für dich, weil Jareth verschwunden ist und es außer ihm keinen mehr gibt, der genügend Fantasie hat, sich Rätsel auszudenken. Und in deinem Land denkt schon lange keiner mehr an uns!"-„Geh' einfach durch!" meinte Ralph und trat zur Seite, „du kennst ja den Weg."
Sarah beugte sich zu Toby nieder. „Hab' keine Angst bei dem, was jetzt kommt. Es ist ein wenig unheimlich, aber nicht gefährlich. Antworte ‚nach oben', wenn du gefragt wirst, wohin du möchtest." Sie öffnete die Tür und trat vor.
„Aaah!" Toby schrie auf, als er in den Schacht stürzte und noch mehr, als er gleich darauf gepackt wurde.
„Wir sind die helfenden Hände, wohin wollt ihr: nach oben oder nach unten?"
„Nach oben!", quiekte Toby. „Nach oben", sagte Sarah ruhig. „Sie wählten nach oben!" bestätigten die helfenden Hände und hoben Toby und Sarah sanft den Schacht empor. Sie bedankten sich am Ende der Reise und schauten sich dann suchend um.
Sie befanden sich in einer kuppelförmigen Zinne des Schlosses. In ihren Mauern befanden sich viele Fenster, die jedoch mit hölzernen Läden verschlossen, einige sogar mit Balken fest verrammelt waren. In der Mitte des Raumes, zirka zwei Meter über dem Schacht der helfenden Hände, schwebte waagerecht ein großer, runder Spiegel.
Trübe glommen zwei Fackeln links und rechts neben der Eingangstür des dunklen, runden Raumes. Bilder hingen an den Wänden zwischen den Fenstern und auf den Regalen lag jede Menge Zeugs – koboldüblich wirr durcheinander und nach der Dicke der darauf liegenden Staubschichten sortiert.
Die Decke und der hintere Teil des Raumes verschwanden in modriger Finsternis. Um sich besser umsehen zu können, wollte Sarah Licht einlassen und ging zu einem der Fenster, die geschlossen, aber noch nicht verrammelt waren. Sie öffnete es und wurde von einer lawinenartigen Flut technischer Kleinteile fast erschlagen. Schrauben, Muttern, Nägel, Konstruktionspläne...Massen!
Unter dem Gerümpel, das in den Raum gefallen war, lugte ein kleiner, brauner Stofffuß hervor. Sarah bückte sich und entdeckte einen Teddy, der ganz zerknautscht unter all dem Zeugs gelegen hatte. Sorgsam hob sie ihn auf und legte ihn auf eine halbwegs frei anmutende Stelle. Dann schloss sie den Fensterladen wieder. Vorsichtig öffnete sie das nächste Fenster und erschrak beim Klang dröhnender Stimmen: „Der Angeklagte...das Plädoyer...SCHULDIG!"
Sie hielt sich die Ohren zu und schloss es hastig wieder. Hinter dem nächsten Fenster, das sie öffnete fand sie Elfen und Zwerge von Plastikspielzeug und Computern erschlagen und eine Kinderstimme bettelte schrill und laut nach noch mehr toten Gedanken.
Sarah begann zu verstehen. All dies waren Wege gewesen, auf denen Träume von Kindern in diese Welt gelangt waren und dort mit dem Licht der Fantasie das Land der Kobolde erhellt hatten. Träume von Kindern, die verlernt hatten zu spielen, Träume von Kindern, die erwachsen wurden, Träume, die dem Glauben an die Absolutheit der Realität weichen mussten.
Toby stand vor dem Letzten der unverriegelten Fenster, das noch sehr neu zu sein schien, aber dennoch fest verschlossen war. Sarah zögerte es zu öffnen. Sie ahnte, was sie dahinter finden würde. Zögernd streckte sie ihre Hand nach dem Riegel aus. Sie öffnete das Fenster und sah eine gähnende Leere. Wie durch einen Tunnel, in weiter Ferne, sah sie ein Mädchen über eine Wiese laufen und Verse rezitieren. Sie wurde aufmerksam beobachtet von einer weißen Eule die einsam darauf hoffte, dass dieses Mädchen ihre Wünsche erfüllen würde und gleichsam bereit war, ihr dafür alles, was es sich wünschte, zu geben. Sarah sah sich ihre Geschichte an. Sie wusste nun endgültig, dass sie Jareth Unrecht getan hatte.
Er hatte versucht Toby zu rauben – aber sie sah sich in diesem trostlosen Raum um und begann zu verstehen, warum.
Still nahm sie eine der eben noch glimmenden Fackeln aus der Halterung und sah sich eine Inschrift über der Tür an, die Toby ihr zeigte. Die Schriftzeichen änderten ihre Art und Gestalt je nachdem, wer sie anschaute, so dass Toby ihre Bedeutung ohne Hilfe erkennen konnte. „Halle der Könige", las Sarah leise.
An den Mauervorsprüngen zwischen den Fenstern hingen jeweils ein oder mehrere Portraits. Langsam ging sie links herum. Hier hingen die ältesten Bilder. Auf jedem Bild war ein Koboldkönig oder eine Königin mit Ihrem Gefährten und dem nachfolgenden Kind zu sehen. Auf einigen stand: ‚geraubt von' oder ‚gebeten zu holen durch..." und deshalb hätten sie eigentlich grausam wirken müssen, aber in ihren Augen stand nur das Wissen um das Wesen der Dinge und um die Macht der Träume. Toby stöberte in den Regalen, während Sarah sich die Bilder ansah. Der Raum wurde immer größer, je länger sie sich in ihm aufhielt. Weit hinten im Raum entdeckte Toby eine Leinwandrolle, die er sofort zu Sarah schleppte. Sarah hängte ihre Fackel an einen der leeren, eisernen Wandständer auf und entrollte langsam das Bild: es war offensichtlich unfachmännisch aus dem Rahmen geschnitten und seit geraumer Zeit im Regal vergessen worden.
Beim Anblick von Jareths Gesicht hielt Sarah erschrocken den Atem an. Sie hatte vergessen, wie sehr seine Augen sie in Bann schlagen konnten.
„Was zeigt es? Bitte las mich das Bild sehen, Sarah!" bettelte Toby.
Sie senkte ihre Arme und hielt das Bild in den Schein der Fackeln. Jareths Züge wirkten gelassen im letzten Flackern des Fackellichtes, fast freundlich. Er blickte ihnen ruhig entgegen und hielt in seinem Arm die noch nicht fertigen Umrisse eines kleinen Jungen in einem gestreiften Strampelanzug.
Toby zeigte auf die Stelle. „Ist das...?"
„Ja", bestätigte Sarah, „das ist dein Strampelanzug."
Toby nagte einen Moment an seiner Unterlippe. „So schlecht ist es hier gar nicht und wenn Jareth so traurig und allein ist..."
„Vergiss es!" sagte Sarah entschieden und schaute sich noch einmal das Bild an.
Wieder fesselten Jareths Augen sie und sie hörte die Musik des Ballsaales in ihren Gedanken. Sie sah sich die kostümierten Menschen an die, derbe Späße machend, sich amüsierten und tanzten. Hinter ihr begann es zu summen. Erschrocken drehte sie sich um. Der große Spiegel hatte begonnen zu rotieren, zu schrumpfen und eine durchsichtige Kugel zu bilden. In ihr sah sie den Ballsaal und die Menschen, die darin tanzten – auch Jareth und sich selbst.
Gefangen von der Vision hielt sie verblüfft den Atem an.
„Sarah, bist du das?" fragte Toby ungläubig, als er seine Schwester in Jareths Armen tanzen sah. „Du bist sooo schön!"
Ihre Konzentration brach und der Spiegel fand wieder seine Ruheposition. Dann kam ihr eine Idee: sie trat auf den Spiegel zu, konzentrierte sich und begann eine Realität zu schaffen, in der sie Jareth um Verzeihung bat, woraufhin er sie und Toby in ihre Welt zurückschickte. Die Silhouette nahm kristalline Formen an, als Sarah plötzlich inne hielt und die Kugel gedanklich zerschlug.
„Nein!" rief sie entschlossen. „Ich will nicht von Träumen manipuliert werden und ich werde das auch bei keinem anderen tun! Ich kann reden, überzeugen und bitten, aber ich werde Jareth nicht auf diese Weise zwingen, uns nach Hause zu bringen."
Toby war sich im Nachhinein nie ganz sicher, ob der Koboldkönig auf dem Bild, das vergessen in Sarahs rechter Hand herunterhing, nicht leise gelächelt hatte.
Wenig später hatte Sarah Jareths Thronraum gefunden, in dem der alte Weise schon seit geraumer Zeit auf sie wartete. Er wusste, dass sie zurückkommen würde – er hatte es in ihren Augen gesehen, als sie ging. Daher hatte er sich den angenehmsten Ort zum Warten ausgesucht und es sich in der leicht erhöhten Ecke des Thronraumes bequem gemacht. Sein immer wachsamer und aufmerksamer Hut blickte ihnen keck entgegen, als sie den Raum betraten. Dann bog er den Hals nach unten und schauten den Alten kopfüber an: „Ehy! Sarah ist hier! Wach endlich auf!"-„Hmpf?" Der Alte erwachte langsam aus seinen Träumen.
Er begrüßte Sarah und rief nach einer der Koboldwachen, die er wegschickte, um die Bewohner des Schlosses am Rande der Koboldstadt zusammenzurufen. Ab und zu von einem Räuspern und der Unruhe durch hereinplatzende Kobolde unterbrochen, schilderte Sarah ihnen ihre Erlebnisse. Toby saß zu ihren Füßen und sah sich belustigt das Tohuwabohu an, das in diesem Raum herrschte. Schließlich hatte Sarah geendet.
„Und was willst du jetzt tun?" fragte der Alte bedächtig.
„Ich werde Jareth suchen gehen", antwortete Sarah ihm. „Nur, was mache ich mit Toby? Er kann mich unmöglich auf dem langen Weg begleiten."
„Ooch, kein Problem! Er kann doch bei uns bleiben!" sagte der Hut spontan. „Als Jareths Nachfolger passiert ihm hier garantiert nichts."
„Er ist nicht Jareths Nachfolger!" hielt Sarah ihm aufgebracht entgegen. Ein Einwand, den er großzügig überhörte. „Und woher weiß ich, dass ihr mit Kindern umgehen könnt?" fragte sie aufgebracht.
„Weil wir durch die Träume von Kindern und Erwachsenen geschaffen werden. Hier kann er nach Herzenslust spielen und wir haben wieder Träume." Der Hut schaute sich ausgiebig um. „Vielleicht schafft er es sogar, aus diesem müden Haufen wieder Kobolde zu machen!"
Um den Aufruhr zu stoppen, der sich erhob, als der Hut die Kobolde als ‚müden Haufen' bezeichnete, hob der weise Alte gebieterisch die Hand. „Seid still!" Er konzentrierte sich auf Sarah. „Woher weißt du, dass er lang ist?"
„Wer?"
„Der Weg. Woher weißt du, das er lang ist?"
„Ich vermute es. In Märchen und Geschichten ist er immer lang", erwiderte sie unsicher. „Der Weg nach außen ist manchmal ein Weg nach innen!" flüsterte der Alte beinahe.
„Äh! Sind wir heute wieder prophetisch!" schnarrte der Hut, aber Sarah wusste, dass der Alte schon einmal mit seinen Worten recht gehabt hatte. „Um zu sehen, musst du die Augen öffnen: um zu erkennen musst du sie schließen", fügte der Alte noch hinzu. Dann gähnte er müde und schlief wieder ein. „Oh Mann! Du hast wirklich einen direkten Draht zur Quelle der Erkenntnis!" spottete der Hut über seinen nunmehr schlafenden Herren.
Sarah dachte einen Augenblick nach. Dann stand sie entschlossen auf und nahm den Kobolden das Versprechen ab, gut auf Toby acht zu geben. Sie wollte Toby auch versprechen lassen, brav zu sein, aber dagegen wurde von den Kobolden energisch protestiert.
Toby gab ihr seine Kette mit dem magischen grünen Stein und die Kobolde schafften jede Menge Proviant und überflüssige gute Ratschläge herbei. ‚Ich habe keine andere Wahl', dachte Sarah schließlich, als sie nach einem letzten Abschied von Toby die Koboldstadt verließ.
Im Land der Tränen kämpften Hoggle und die Gefährten gegen Sarahs und ihre eigenen Alpträume. Ihre kleine Schar war beständig zusammengeschrumpft, als sie auf ein neues Schrecknis gestoßen waren: in den Sümpfen verborgen lagen Blasen, in denen das Wesen dieses Unlandes konzentriert zu sein schien. Lösten Erschütterungen die Blasen aus ihrem Grund, so schnellten sie nach oben und schlossen alles, was sich über ihnen befand, in eine Hülle des Schreckens ein.
Ludo hatte als Schwerster und Ungeschicktester der Gruppe die erste Eruption ausgelöst. Erstarrt stand er in einer durchsichtigen, anthrazitfarbenen Hülle, die sich selbst ständig zu verschlingen schien. Er durchlebte immer wieder seine Erinnerungen an das Geschehen seit dem Eintreffen an diesem grauenhaften Ort. Jede Sekunde schien zu Tagen gedehnt zu werden, jeder Schrecken tausendfach verstärkt. Wie auf der Oberfläche von kochendem Öl verzerrten sich diese Alptraumbilder und rannen die Innenwände des Kokons hinab, um immer neuen Visionen Platz zu machen.
Nach ihm war eine der Wachen einer Blase zum Opfer gefallen. Hoggle konnte den Ausdruck ohnmächtigen Entsetzens auf ihren Gesichtern nicht vergessen. Sie hatten versucht, Ludo und die Wache zu befreien, doch bei jeder Annäherung schien die Blase sich auszudehnen und auch die Retter verschlingen zu wollen. Und so schlichen er und der Rest der kleinen Gruppe nun schweren Herzens weiter, in der Hoffnung Sarah zu finden oder einen Ausweg aus diesem grauenhaften Land.
Hoggle schwor Jareth grausame Rache, sollte er ihm jemals wieder begegnen. Irgendwie würde er es schaffen ihn zu zwingen Ludo und die Wachen zu befreien. Doch der Schwur kam zu spät. Hoggle spürte nur im Unterbewusstsein, wie sich tief unten, aus dem Leib dieses gepeinigten Landes, eine Blase löste, sich scheinbar bis zur Unendlichkeit ausdehnte, um sich dann zusammenzuziehen, nach oben zu schnellen und den Frevler einzuschließen, der es gewagt hatte, ihr ruhiges Dasein zu stören. Hoggle schrie auf. Er wollte ohnmächtig werden, wollte vergessen- doch dieses Ding durchdrang sein Innerstes und zwang ihm mit jedem Funken seines Bewusstseins, ihm zu Willen zu sein.
Sarah wanderte. Durch das Land der roten Spiegelfelsen, die auf jede erdenkliche Weise Spiegelbilder wiedergaben und verzerrten, durch die Feensümpfe, wo diese lästigen Plagegeister überhand nahmen, bis weit hinaus in die Steppe der Unwirklichkeit, in der man Träume und Wünsche als Abbilder erschaffen konnte, die dann gen Himmel stiegen und wie Seifenblasen zerplatzten.
Müde und hungrig wankte sie durch die Dämmerung auf der Suche nach einem Lagerplatz für die Nacht, als sie in der Ferne ein Lagerfeuer entdeckte. Sie hoffte, kein Irrlicht vor sich zu sehen, als sie über die karstige Steppe hastig darauf zueilte. Doch das Feuer blieb an seinem Platz. Nachdem sie im flackernden Licht des Lagerfeuers einen Zigeunerwagen und zwei Pferde ausgemacht hatte, ging sie langsam näher. Der Wagen schien verlassen zu sein und die Pferde, die neben ihm angepflockt waren, grasten ruhig vor sich hin. Weit und breit war niemand zu sehen und doch musste das Lager bewohnt sein: über dem Feuer hin ein verführerisch duftender Topf mit Stew.
„Hallo?", rief Sarah vorsichtig, doch niemand antwortete. Mit einem schlechten Gewissen ging sie zum Topf. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, als sie nach dem Löffel griff, umrührte und einen Happen Stew probierte – es schmeckte himmlisch!
„Nimm' dir ruhig. Es ist genug dafür zwei!", sagte plötzlich eine Stimme. Sarah fuhr herum und stand einer kleinen Frau gegenüber, die aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien.
Das Bemerkenswerteste an der Zigeunerin waren ihre stahlblauen Augen, die weit hinter alle Fragen zu sehen vermochten. Das lange, braune Haar war mit einem Kopftuch zurückgebunden, ihre Kleidung war bunt und mit Münzen reich geschmückt. „Setz' dich und sei mein Gast", sagte sie und wies einladend auf einige plötzlich neben dem Feuer bereitliegende Kissen.
„Du bist Sarah", stellte sie mit ruhiger Stimme fest und reichte ihr Teller und Löffel. Sarah nickte.
„Nun, vor mir brauchst du keine Angst zu haben. Ich bin eine Wahrsagerin – ich suche Fragen und beantworte sie."
Sarah überlegte, während sie aß. „Ich habe eine Frage", sagte sie schließlich. „Kannst du mir sie beantworten?"
„Ich kenne deine Frage und bevor du sie mir stellst, werde ich dir sagen, dass es die falsche Frage ist." Sarah schaute sie verblüfft an.
Die Frau erwiderte ruhig ihren Blick. „Du wolltest fragen, ob ich weiß, wo Jareth ist."
Sarah nickte.
„Nun, deswegen antworte ich nicht. Die richtige Frage hätte heißen müssen: ‚Wie gelange ich zu ihm?' – aber da du die falsche Frage noch nicht gestellt hattest, werde ich sehen, wie ich dir mit der Beantwortung der richtigen Frage helfen kann."
Die Zigeunerin starrte ins Feuer und dachte einen Augenblick lang nach. „Wo ist Toby?" fragte sie schließlich. Sarah schaute sie verwundert an. Diese Frau wusste alles über sie und angeblich noch so vieles mehr und doch fragte sie, wo Toby war?
„Im Schloss am Rande der Koboldstadt", antwortete sie schließlich.
„Und in deinen Gedanken?"
„Ist Toby immer bei mir."
Die Wahrsagerin nickte. „Du lebst immer noch nicht ganz in dieser Welt der Träume, Kind. Hier haben Worte und Gedanken Macht!"
Sarah fing an zu begreifen. „Sie meinen, ich bräuchte nur fest an Jareth zu denken, mir zu wünschen ihn zu sehen und wäre bei ihm?"
„Das käme darauf an, wie sehr du ihn sehen möchtest." Sarah schaute zu Boden. „Ich muss ihn um Verzeihung bitten."
Die Zigeunerin nickte und ergriff Sarahs Hände. „Ich weiß nicht, ob das ausreichen wird. Denk' an Jareth und singe etwas, während ich nachdenke", sagte sie und schaute Sarah tief in die Augen. Das Mädchen wollte dem Blick ausweichen, doch sie schaffte es nicht, den Kontakt zu brechen. Langsam beruhigte sie sich. Die stahlblauen Augen gaben ihr Halt und Frieden stieg in ihr auf.
Leise, am Rande ihres Bewusstseins, begann sie eine zarte Melodie zu hören. Eine Melodie wie ein Windhauch, die von einer Spieluhr her zu stammen schien. Und dann stiegen die Worte aus der Tiefe der Gedanken zu ihr empor.
Plötzlich waren es nicht mehr stahlblaue Augen, sondern Jareths Augen und sie sang mit leiser Stimme, das Lied, das er damals für sie gesungen hatte:
"There's such a sad love
deep in your eyes, a kind of pale jewel
open and closed within your eyes
I'll place the sky within your eyes
There's such a fooled heart
beating so fast in search of new dreams
a love that will last within your heart
I'll place the moon within your heart
As the pain sweeps through
makes no sense for you
every thrill has gonst
wasn't too much fun at all
but I'll be there for you-oo-oo
as the world falls down
Falling, falling in love
I'll paint you mornings of gold
I'll spin you Valentine evenings
though we're strangers till now
we're choosing the path between the stars
I'll leave my love between the stars
As the pain sweeps through
makes no sense for you
every thrill has gone
wasn't too much fun at all
but I'll be there for you-oo-oo
as the world falls down
Falling, falling in love…"
Dann versagte ihr sie Stimme und sie sah sich wieder der Frau gegenüber. Die Zigeunerin spann ein Netz aus Licht in ihren Händen und legte es auf den Boden. Sie nahm Sarah bei der Hand und stellte sie sanft in die Mitte des gewebten Lichtkreises. „Ich glaube, es wird reichen. Denk' an Jareth und du wirst zu ihm gelangen."
Sarah zweifelte noch immer. „Ich kann das nicht – ich bin nicht aus dieser Welt."
Entschlossen schüttelte ihr Gegenüber den Kopf und trat zurück. „Du kannst es: hier und in jeder anderen Welt. Du hast die Macht – Jareth hat sie dir gegeben und bald wirst du auch ihren Namen wissen. Dieses Netz hilft dir, dich zu konzentrieren. Jetzt versuche es."
Sarah Schloss ihre Augen. Ruhig stand sie da. Sie dachte an Jareth und an ihren Wunsch ihn zu finden. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihn am Feuer sitzen, ein Bein aufgestellt, einen Arm auf das Knie gestützt und nachdenklich in die Flammen starrend. Er sah überrascht auf. „Sarah?"-„Das kann nicht sein!" dachte sie und stand wieder neben dem Lagerfeuer.
„Nur Mut Kind, du hast es fast geschafft!" sprach die Frau zu ihr. „Versuch es noch einmal. Denk' an das Lied!"
Wieder hörte Sarah die leise Musik in sich aufsteigen. Dann sah sie Jareths Augen und wünschte sich mit aller Macht, bei ihm zu sein. Ihr war, als hüllte sie ein Nebel aus Sternen ein und klärte sich plötzlich wieder.
Vor Ungewissheit schwer atmend fand sie sich an seinem Lagerfeuer wieder. Langsam stand er auf und ging auf Sarah zu. Sie erstarrte aus Angst vor seiner Wut und seinem Ungestüm.
Dann standen sie sich gegenüber. Sarah wich seinem Blick aus. „Jareth", begann sie leise, „ich habe dir Unrecht getan..."
„Shhh...", sagte er nur und legte seinen Zeigefinger auf ihre Lippen. Vorsichtig zog er sie zu sich heran. Auch er hatte Fehler gemacht, hatte versucht, sie zu beherrschen und ihr Sklave zu sein. Er hatte nicht geglaubt, dass Sarah ihn um seiner selbst willen lieben konnte. Er wusste, dass er sie jede Sekunde wieder verlieren konnte . Das durfte nicht geschehen, nicht noch einmal!
„Ich liebe dich", flüsterte er leise, nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie zart. Sarah hob ihren Blick und versank in den Tiefen seiner Augen. Plötzlich kannte sie den Namen der Macht, die Jareth ihr gegeben hatte. „Ich liebe dich auch, Jareth!" sagte sie mit leise zitternder Stimme.
Er nahm sie fest in die Arme und versuchte sie mit allen seinen Sinnen zu spüren, sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich da war. Nach einer Weile löste er sich sanft von ihr und geleitete sie zu seinem Lagerplatz.
„Komm' zum Feuer", sagte er. „Die Nacht ist kalt und wir haben einander viel zu erzählen." Sie hüllten sich in seinen weiten Umhang und ließen sich neben dem leise knisternden und flackernden Feuer nieder.
Verloren in Zeit und Raum starrte Jareth hinauf zu den Sternen, um eine Antwort auf seine brennende Frage zu finden. Mit all seinen Sinnen war er sich Sarahs Gegenwart bewusst. Er spürte ihren Herzschlag, roch ihr Parfüm und sah das Sternenlicht auf ihren Haaren glänzen. Und dennoch konnte er es kaum fassen, dass sie in seinen Armen lag, ihn liebte und ihm vertraute – für ihn und nur für ihn da war.
Leise beugte er sich zu ihr hinab und küsste zärtlich ihr Gesicht, das friedlich an seiner Schulter lag. ‚Würde sie verstehen?' fragte er sich. Er wusste, worum sie ihn bitten würde. Sanft befreite er sich aus ihren Armen und legte sie auf seinem Umhang am Feuer nieder. Er hielt die Arme vor seiner Brust verschränkt und schritt unruhig im Dunkel jenseits des Feuers auf und ab.
Er wollte ihr helfen: er wusste, was zu tun war. Mehr als alles andere wollte er ihr Leid und Schmerzen ersparen. Es gab einen Weg ihr zu helfen, kurz und ohne Gefahr; und doch würde der Weg nicht der Beste sein, denn er lehrte Sarah nichts über Jareth und über das Wesen dieser ihrer neuen Welt. Sie würde ihn lieben, ja, aber würde sie auch diese Welt lieben? Könnte sie verstehen, dass der Herzschlag eines jeden Wesens dieser Welt auch in seinen Adern floss? Könnte sie begreifen, dass er bereit war sich und sie zu opfern, um diese Welt mit neuem Leben zu erfüllen? Seine Entschlossenheit, ihr Leid zu ertragen, um ihr die Liebe dieser Welt zu schenken? Flehend suchten seine Augen nach Antwort in den Sternen: ‚Würde sie verstehen?'
Der Morgen brach an und Sarah erwachte in Jareths Armen. Sie schaute ihn zärtlich an, als er ihr einen ‚guten Morgen' wünschte und war überrascht über sich selbst, als sie seinen Gruß erwiderte und sanft über seiner Wange streichelte. Sie begannen den Tag mit einem Frühstück, das sie aus ihren kläglichen Vorräten zusammenstellten. Auf Sarahs Frage hin, ob sie sich in diesem Land der Fantasie nicht schlichtweg ein nahrhaftes Frühstück wünschen oder zaubern könnten sagte Jareth ihr, dass das normalerweise im Bereich seiner Möglichkeiten liegen würde. Aber wie Toby und Sarah vermutet hatten, hatte er sich bei der Rettungsaktion für Sarah verausgabt und seine Kräfte bisher nicht voll wiederhergestellt. „Ich hätte es tun können", sagte Jareth, „aber ich war nicht bereit dazu – bis jetzt noch nicht."
Sarah begann zu verstehen, dass Jareth weder ein Traumprinz war, noch der Unhold, den sie in ihm gesehen hatte. Aber er war etwas Besonderes – nun, eben Jareth. Langsam wuchs ihr Vertrauen in ihn. Jedoch erst gegen Ende der Mahlzeit wagte sie es die Frage zu stellen, die ihr seit geraumer Zeit auf der Zunge brannte: „Kannst du mir helfen Hoggle und die Anderen aus dem Land der Tränen zu befreien?"
Jareth schüttelte den Kopf. „Wenn du es selbst nicht schaffst, kann ich dir nicht helfen. Ich habe zwar schon einen Teil meiner Kraft zurückgewonnen, aber dies erfordert mehr, als ich geben kann. Selbst wenn ich es könnte, würden sie mir nicht vertrauen, weil ich ihnen den Weg in dieses Grauen gewiesen habe." Er dachte einen Augenblick lang angestrengt nach, dann schaute er sie ernst an. Wie er befürchtet hatte, sah er einen Schatten des Zweifels in ihren Augen.
Er wusste, sie kämpfte noch immer mit sich selbst, mit dem lang gehegten Misstrauen gegen ihn. Er holte tief Luft und fasste sie fest an beiden Armen. „Ich werde dir helfen sie zu befreien, aber..." er schaute sie eindringlich an, „dafür werde ich meine volle Kraft brauchen. Und nur mit deiner Hilfe kann ich sie wieder erlangen!" Er legte den Kopf in den Nacken und schluckte trocken. „Es wird wahrhaftig nicht einfach sein!"
Sarah schaute ihn zögernd einen Moment lang an. Sie sah die Linien der Erschöpfung, die sich um Jareths Augen eingegraben hatten und hörte den sonoren Klang seiner Stimme.
Dann ging sie hinüber zur Asche des längst erloschenen Feuers, holte seinen Umhang und ihr Bündel, ging zurück an seine Seite und legte ihre Hand in die seine. Mit einem leisen Händedruck dankte er ihr und führte sie einer weiten Steppe entgegen.
Zwei Tage mühsamen Wanderns vergingen, bis die Steppe langsam einem karstigen Felsboden wich. Jareth und Sarah plagte der Hunger, denn hier wuchs nichts außer einigen Moosen und Flechten. Abends, wenn die Dämmerung heraufzog stiegen schwarze, schwere Nebelschwaden auf, die ihnen den Atem nahmen und ihre Ruhe raubten.
Wann immer möglich umgingen sie sie, doch diese Schwaden waberten unruhig durch die Nacht und pirschten sich an die erschöpften Schläfer heran.
Sarah schreckte mit einem Aufschrei aus dem Schlaf, um sich zitternd an Jareths Seite wieder zu finden. Er beruhigte sie, half ihr auf die Beine und geleitete sie aus der sich verdichtenden Nebelfront heraus. „Jareth...", Sarah versuchte sich zu sammeln, doch ein schwer greifbarer Schrecken saß immer noch in ihren Gliedern. „Ist es nicht möglich, dass wir so ins Land der Tränen gelangen, wie ich dich gefunden habe, mit unseren Gedanken?"
Jareth schüttelte abwesend den Kopf. „Ich habe nicht die Kraft dazu und du weißt nicht, wonach du suchen solltest. Selbst wenn ich es dir erzählte, würde es nichts nützen. Diese Nebelschwaden kommen aus jenem Land, das dicht neben dem unseren liegt. Ich befürchte, dass sie auch die uralte Kristallquelle mit ihren Ausdünstungen befleckt haben. Nein, ich kann es spüren. Aber ich kann dir nicht sagen, in wie weit die Kristalle schon in Mitleidenschaft gezogen sind. Die Präsenz der anderen Welt hier ist immer stärker geworden und ich brauche deine Hilfe, um sie zu bannen."
„Meine Hilfe?" Sarah war maßlos erstaunt. „Aber ich konnte ihnen doch nicht einmal allein entkommen! Wie soll ich dir dabei helfen?"
„Du ahnst es nicht einmal, oder?"
Er zog sie neben sich auf Felsblock nieder und sah ihr in die Augen. „Du bist diejenige, die diese Welt geschaffen hat! Alpträume gab es vorher schon und wird es auch immer geben. Aber dadurch, dass sie für dich real wurden, hast du ihnen eine Welt gegeben. Hoggle und die anderen sind jetzt dort gefangen. Je realer diese Welt für sie wird, desto mehr Macht wird sie über sie erlangen. Dadurch, dass du hierher gekommen bist, hat dein Unterbewusstsein, das noch immer unter den Auswirkungen deiner Gefangenschaft dort leidet, ihnen ein Tor in diese Welt geöffnet. Dein Hass auf mich hat ihnen den Weg zur Kristallquelle geebnet- und diese Quelle ist das Zentrum meiner Macht."
Sarah erstarrte, als das Gehörte Eingang in ihr Denken fand. „Dann habe ich dich zerstört?" Sie sprang entsetzt auf und wich vom Felsen zurück.
Jareth eilte ihr nach und nahm sie fest in seine Arme. „Noch ist es Zeit. Diese Quelle birgt die Essenz allen Wissens und die Persönlichkeiten der uralten Koboldkönige in sich. Wenn du bereit bist, den Schrecken aus dem Land der Tränen entgegenzutreten, werden sie und ich dir helfen das Tor zu dieser Welt für immer zu schließen."
Er sammelte sich und holte tief Luft. Der Augenblick, in dem Sarah sich entscheiden musste war da. Eindringlich flüsterte er: „Die Quelle der Macht ist hier jedoch nur dem Koboldkönig und seiner Königin zugänglich. Noch ist der Weg zurück frei...wenn du..." Er brach ab, seine Arme sanken mutlos herunter und wandte ihr den Rücken zu.
Sarah verstand, was er ihr hatte sagen wollten. Sie spürte, dass sie sich endgültig entscheiden musste. Jareth und sein Land hatten viel von dem Schrecken ihres ersten Besuches verloren, aber für immer hier zu bleiben... Sie dachte an ihre Freunde, die ihretwegen litten, die finstere Kammer der Könige, die trübsinnigen Kobolde und sie sah die Liebe in Jareths Augen.
Irgendwie ahnte sie, dass wenn sie ihn zurückweisen würde, er nicht mehr den Willen aufbringen würde, seine Kraft zu erneuern und sein Land wieder herzustellen. Es würde siechen, bis er starb und ein neuer Koboldkönig das Land heilen würde - wenn es dann noch ein Land gab.
Sie sah sich selbst in Jareths Augen, den Augen, die auch so grausam sein konnten.
Noch immer von ihr abgewandt, streckte er hinter seinem Rücken seine Hand aus.
Langsam, Sich vollkommen ihrer Entscheidung bewusst, ergriff sie sie.
Ihre verbundenen Hände begannen zu leuchten. Der Glanz weitete sich um sie herum aus, bis er auch Jareth einhüllte. Er wandte sich ihr zu und nahm sie in seine Arme.
Sarah wurde erfüllt mit dem Wissen um das Wesen der Dinge und begann zu begreifen.
Sie sah seine Träume und die Hoffnung auf Hilfe aus der Außenwelt. Wie mit den Augen eines fremden Betrachters sah sie sich selbst: sie schien von innen heraus zu leuchten.
Das Leuchten lief durch ihren Körper hindurch und floss auf die Erde hinab. Plötzlich nahm sie helle Ströme wahr, die von ihr aus einem fernen Punkt am Horizont entgegen eilten.
Dann sah sie Jareth an und erschrak. Das Licht, das von ihm ausstrahlte war matt, viel schwächer als ihres und pulsierte mühsam. Er lächelte entschuldigend. Jetzt, da sie wusste, wie es um ihn stand, brauchte er sich nicht mehr mit dem letzten Rest seiner Kraft zu verstellen.
