Zumindest bot er ihr mehr Anhaltspunkte als der letzte: sie wußte jetzt, daß ihr Verehrer in ihrer Jahrgangsstufe war (denn er war bei dem Intermezzo am Valentinstag im Zaubertrankunterricht anwesend gewesen) und er war entweder aus Slytherin oder Gryffindor, denn aus den anderen Häusern war niemand da gewesen. Sie hatte auf dem Ball mit ihm getanzt, aber das half ihr nicht weiter, da sie mit so vielen Jungen getanzt hatte. Sogar Vincent Crabbe hatte sie einmal aufgefordert. Ob er wohl derjenige war, der diese Briefe schrieb? Zugegebenermaßen würde es mehr Sinn machen, wenn einer aus Slytherin, die ja auf reines Blut soviel Wert legten, heimlich in sie verliebt war, ihr aber seine Identität nicht offenbarte, da er sonst in Konflikt mit seinen Eltern kommen würde. Allerdings blieb dann auch wirklich nur Vincent übrig, denn er war der einzige aus Slytherin, mit dem sie getanzt hatte.
Und neulich war sie direkt vor ihrem Bewunderer gestanden... da fiel ihr ein, daß ihr in Geschichte der Magie letzte Woche ihr Federmäppchen heruntergefallen war, und Vincent hatte ihr geholfen, die Stifte und Federn wieder einzusammeln. Aber in Kräuterkunde in der gleichen Woche war sie wie so oft mit Neville in einer Gruppe gewesen, und sie hatten zusammen eine tobende Hibiskuspflanze umgetopft. Dabei waren sie oft auch sehr nah beieinander gestanden.
Ach, diese Überlegungen führten zu nichts. Sie konnte jetzt zwar mit ziemlicher Sicherheit ihren potentiellen Verehrer auf zwei Personen einschränken, aber solange er sich nicht dazu entschloß, die Katze aus dem Sack zu lassen, würde sie nie ganz sicher sein.
Ihren Freundinnen gegenüber erwähnte sie nicht, daß sie noch einen Brief bekommen hatte. Ihr wurde das langsam zu kompliziert, und die beiden waren sowieso fest davon überzeugt, daß Neville der Briefschreiber war. Würde sie ihnen mit Vincent kommen, würden sie wahrscheinlich laut zu lachen anfangen, denn diese Theorie wäre ihnen sicher viel zu abstrus. Am nächsten Morgen beobachtete sie sowohl Neville als auch Vincent eingehend, kam aber trotzdem nicht weiter. Beide verhielten sich wie immer. Zum Abendessen wurde ein weiteres Hogsmeade-Wochenende verkündet, in zwei Wochen, und Sabrina freute sich schon jetzt darauf, unter lauter Pärchen das fünfte Rad am Wagen zu sein, wie beim letzten Mal. Sie hatte sich irgendwann abgesetzt und war für ein paar Stunden im Buchladen verschwunden, wo sie auf Hermine getroffen war, die sich für eine halbe Stunde von Ron losgeeist hatte. Ansonsten hatte sie den Tag allein verbracht.
An diesem Samstag hatten Carina und Marianne ihre Party angesetzt, die im Raum der Wünsche stattfinden sollte. Anwesend waren ungefähr fünfzig Leute aus den verschiedensten Jahrgangsstufen und allen Häusern. Harry hatte mit Ron und Hermine zusammen haufenweise Butterbier und Feuerwhiskey aus Hogsmeade organisiert, Elisabeth hatte auf Sabrinas Bitte hin fünf Kästen Augustinerbier in geschrumpfter Form zugeschickt, die von Ginny eins-zwei-drei wieder vergrößert wurden, Vincent und Gregory (die seit Professor Snapes Outing viel freundlicher zu ihren Klassenkameraden aus den anderen Häusern waren) holten aus der Küche tonnenweise Leckereien, Seamus besorgte einen Plattenspieler, den er verhexte, sodaß er mit Magie funktionierte, Ernie McMillan lieferte nicht weniger als dreißig LPs, von den Beatles über die Rolling Stones bis hin zu Roxette, und Andrew brachte jeden Jungen dazu, an dem Abend einen Schottenrock zu tragen. Marianne legte Ablenkungszauber in den Gang, damit die Lehrer und der Hausmeister samt Katze plus Poltergeist keine Gefahr darstellten, und Carina kümmerte sich um die Eindämmung akustischer Signale. Alle waren aufgeregt, als es los ging, von Anfang an wurde viel gelacht, geredet, gegessen und getrunken. Vor allem das Trinken war den beiden Gastgeberinnen wichtig, insbesondere Sabrinas Alkoholkonsum. Diese hatte sich jedoch, ohne viel gedrängt werden zu müssen, auf ihr Lieblingsbier gestürzt und war bereits bei der vierten Flasche, als von Carina der Vorschlag kam, Blinde Kuh zu spielen. Sie kicherte beschwipst und fand den Vorschlag umwerfend klasse. Marianne und Carina sahen das Kind schon geschaukelt. Als allen die Spielregeln klar gemacht waren beschloß man, sich in mehrere Gruppen aufzuteilen, da fünfzig Leute und nur eine Blinde Kuh ein bißchen langweilig gewesen wäre. So bildeten sich fünf Grüppchen, wobei Carina und Marianne unauffällig Neville, sich selbst und Sabrina in die gleiche bugsierten. Da Sabrina in der Zwischenzeit zwei weitere Flaschen geleert hatte und langsam unvernünftig wurde, meldete sie sich freiwillig als Blinde Kuh, solange sie nur ihre siebte, achte und neunte Flasche mit auf die Suche nehmen dürfe. Besser hätte der Plan gar nicht laufen können!
Man beschloß, wagemutig zu sein und das Spiel auf das ganze Schloß zu erweitern, da der Saal, in den der Raum der Wünsche sich anläßlich der Party verwandelt hatte, zu klein war. Jede Gruppe bekam ein Stockwerk zugeteilt, und viele liefen kichernd, torkelnd und lallend vor ihren Blinden Kühen davon. Sabrina erwischte hintereinander Carina (die sie sofort an ihrer Leibesfülle erkannte), Luna und Ernie. Luna hätte sie fast küssen müssen, doch erkannte sie sie letztendlich am Quibbler unter ihrem Arm. Ernie verriet sich durch sein Kichern, als sie ihm über das Gesicht tastete. Da die neuen Spielregeln besagten, daß eine Blinde Kuh erst alle aus der Gruppe mindestens einmal erwischen mußte, suchte Sabrina weiter, vorsichtig sich vorwärts tastend. Ab und zu nippte sie immer mal wieder an ihrer achten Flasche Bier, stieß gegen Wände und holte sich viele blaue Flecken. Sie wußte, daß irgendwo in ihrer Nähe lautlos immer jemand sein mußte, denn sie hatten sich ausgemacht, daß einer die Blinde Kuh vor sich bewegenden Treppen schützen mußte, die auf einmal in den Abgrund führten. Schließlich grapschte sie auf ein Geräusch hin nach links und bekam den Ärmel von jemandem zu fassen. Kurze Haare, Hose... also kein Junge, die trugen ja alle Schottenröcke. Sie griff dem Mädchen zielstrebig an den Busen, was ein Quietschen zur Folge hatte, und erkannte sofort, daß es Marianne war. Sie suchte weiter. Sich an einer Wand entlangtastend, kam sie um eine Ecke herum, als sie merkte, daß unmittelbar vor ihr jemand sein mußte. Sie ging vorsichtig auf die Person zu, streckte die linke Hand aus und ertastete eine Schulter. Schulterlanges Haar... kein Busen... abgesehen davon waren in ihrer Gruppe sonst keine Mädchen mehr. Hm, die Person trug eine Robe über seinen/ ihren Sachen.
„Schummler!" lallte sie. Dann tat sie etwas völlig unerwartetes: sie stellte die Bierflasche auf dem Boden ab.
„Aufpössn, daßßß diench umschmaißö!" befahl sie ihrem Gegenüber. Jetzt tastete sie mit beiden Händen das Gesicht ab.
„Henry?" Der Mensch (war es nun ein Mann oder eine Frau? Wieviele Mädchen waren gleich nochmal in ihrer Gruppe? Oh Mann, sie hätte nicht soviel Ethanol konsumieren sollen!) schüttelte den Kopf. Sie tastete weiter: groß und schlaksig. Sie roch an ihm/ ihr. Roch nach Vincent! Als sie erfreut den Namen rief, schüttelte die Person immer noch den Kopf. Ja sowas!
„Ichhgla-hub diakainwo-at!" sie schwankte leicht hin und her, ihr Gegenüber griff sie bei den Schultern, damit sie nicht umfiel. Sabrina strengte ihr vernebeltes Gehirn an. Eine Chance hatte sie noch, dann ging es ans Küssen. Neville war noch in ihrer Gruppe! Aber wenn sie es sich recht überlegte, roch die Person vor ihr verdammt gut und wenn sie jetzt richtig läge, würde sie vielleicht gar nie niemals in ihrem ganzen erbärmlichen Leben geküsst werden. Also kicherte sie ein bißchen, legte die Arme um den Hals des/ der anderen und stellte sich auf die Zehenspitzen. Zuerst erwischte sie das Kinn, doch das störte sie überhaupt nicht, sie ertastete sich einfach mit den Lippen den Weg zum Mund. Wer auch immer es war (Waiew), er/ sie/ es (Mrs. Norris?) war stocksteif geworden und Sabrina konnte förmlich spüren, wie Waiew den Atem anhielt. Doch als ihre Lippen eine Weile auf denen von Waiew geruht hatten, teilten seine/ ihre sich und eine Zunge schob sich in Sabrinas Mund. Was diese äußerst angenehm fand. Sie spielte mit Waiews offenen Haaren, als sie einen Arm um ihre Taille und den anderen an ihrem Hinterkopf spürte. Waiew löste das Haargummi aus ihrem Pferdeschwanz und zwirbelte eine Strähne zwischen seinen/ ihren Fingern. Irgendwann fiel Sabrina ein, daß sie nun gerne wissen würde, wen sie da so innig küßte, doch als sie die Hände von Waiew löste und an die Augenbinde hob, wurde sie in der Bewegung aufgehalten. Hektisch kramte Waiew umher, dann wurde ihr etwas in die Hand gedrückt und sie wurde sanft mehrmals um sich selbst gedreht, wovon ihr ganz schwindlig wurde. Als sie auf dem Boden liegend nicht mehr weiter abwärtes konnte und auf die schlaue Idee kam, die Augenbinde nun abzunehmen, war Waiew verschwunden. Sie krabbelte zu ihrer letzten Bierflasche, nahm erstmal einen tiefen Zug, dann stellte sie sich umständlich auf zwei wacklige Beine und torkelte auf die nächste Ecke zu, wo sie auf einen anderen Gang sah. Er wackelte hin und her, war aber ansonsten leer. Sie suchte noch eine Weile in sich drehenden Gängen, doch Waiew war fort. Nun bekam sie Schluckauf, sie hatte keine Ahnung, wo sie war, also legte sie sich einfach unter eine Stechpalme, die auf dem Gang herumstand, rollte sich zusammen und schlief ein.
Mitten in der Nacht fand man sie endlich. Ernie entdeckte sie und rüttelte sie wach.
„Wasnlos?" fragte sie immer noch total betrunken. Sie bekam die Augen kaum auf. Ernie nahm die leere Bierflasche, die sie wie einen Teddybären an sich gedrückt hielt, weg, was lautstarke Proteste auslöste. Gleich darauf war sie aber wieder eingeschlafen. Kurzerhand nahm er sie auf den Arm und brachte sie in den Hufflepuff-Gemeinschaftsraum, wo ein paar der Mädchen noch wach waren und ihr ins Bett halfen. Er ging wieder hinaus, um den anderen Bescheid zu sagen, daß er sie gefunden hatte.
Am Sonntag morgen erwachte sie mit stechenden Kopfschmerzen. Immer noch leicht alkoholisiert konnte sie sich nur dunkel an die Geschehnisse vom Vortag erinnern. Beim Frühstück erzählte Luna ihr, daß sie, nachdem sie von ihr erwischt worden war, ihren Treppenaufpasser gespielt hatte, doch war Sabrina nach Mariannes Entdeckung auf eine Treppe getreten, die sich justament in diesem Augenblick bewegt hatte, sodaß die beiden Mädchen ihr nicht folgen konnten. Sie hatten versucht, über Umwege wieder zu ihr zu stoßen, doch sie konnten sie nirgends finden.
„Aber ich bin doch, nachdem ich Marianne erwischt hatte, bloß einen Gang entlang und um die Ecke gegangen!" warf Sabrina ein. Luna schüttelte den Kopf.
„Das bildest du dir vielleicht ein, aber du warst auch ganz schön zu! Du bist die Treppe hoch, die gottseidank oben in einen Gang mündete, und dort bist du dann weiter. Gefunden haben wir dich zwei weitere Stockwerke höher in einem ganz anderen Teil des Schlosses, in der Nähe von der Eulerei. Wir haben alle, die wir finden konnten, sofort mobilisiert, um dich zu suchen, aber es hat fast zweieinhalb Stunden gedauert!"
„Hab ich so lange auf dem Gang geschlafen?" Hermine, die sich zu ihnen gesetzt hatte, verneinte dies mit:
„Nein, du mußt ewig herumgeirrt sein, denn eins der Porträts in einem Gang in der Nähe sagte Ernie, daß du erst 20 Minuten vorher an ihm vorbeigekommen warst." Sabrina schüttelte ungläubig den Kopf, wovon ihr ganz schlecht wurde. Sie verbrachte den Rest des Tages schlafend im Bett. Gegen halb sieben wachte sie wieder auf, alle anderen waren beim Abendessen, doch einer der Hauselfen räumte gerade auf, und Sabrina bat ihn, ihr etwas zu essen zu bringen. Sie schleppte sich mit knurrendem Magen unter die Dusche, zog dann die Bettlaken ab und bat den Hauself um frische Bezüge, da alles nach Bier stank. Als sie sich über das Steak mit Kartoffelbrei und Soße hergemacht hatte, fiel ihr ein Umschlag auf, der neben ihrem Bett auf dem Boden lag. Sie hob ihn auf, er war an sie adressiert. Nanu, wo kam der denn her? Dunkel fiel ihr ein, daß sie gestern Nacht ihren ersten Kuß bekommen (und auch gegeben) hatte und Waiew ihr etwas gegeben hatte, bevor er/ sie/ es sich einfach aus dem Staub gemacht hatte. Mit zitternden Händen öffnete sie das Kuvert, denn es sah genauso aus wie die beiden ersten Liebesbriefe...
Meine liebe Sabrina,
hier schreibe ich Dir schon wieder, denn ich vermisse Dich sehr! Ich weiß gar nicht, ob Du meinen letzten Brief erhalten hast, denn diesmal hast Du kein Wort darüber verloren. Letztesmal bist Du auf Deine Freundinnen losgestürzt, gleich nachdem Du ihn gelesen hattest. Ich habe Dich am Valentinstag sehr genau beobachtet. Eigentlich schaue ich Dich immer an, ich kann nicht anders. Neulich in Arithmantik hast Du wegen irgendetwas vor Dich hingelächelt, das sah sehr süß aus! Du spielst meistens im Unterricht mit Deinen Haaren, ich bin nicht gleich dahintergekommen, warum. Mittlerweile bin ich mir sehr sicher, daß Deine Haare bestimmt sehr weich sind. Sie schimmern seidig, und sie sind ganz fein. Kein Wunder, daß Du sie immer um Deine kleinen Finger zwirbelst. Ich würde das auch gerne einmal machen!
Trink heute Abend nicht zu viel, hörst Du! Bestes Bier der Welt hin oder her, es ist es nicht wert, erwischt zu werden!
Ich möchte gerne Deine Hand halten. Würdest Du mit mir nächstes Hogsmeade-Wochenende zusammen verbringen? Wir könnten uns die ganze Zeit unterhalten oder küssen, was auch immer Du lieber magst. (Ich würde letzteres bevorzugen.)
Denkst Du manchmal an mich, so wie ich an Dich, die ganze Zeit? Sabrina, wenn Du mir nur EIN Zeichen geben würdest, daß Du mehr für mich empfindest als für alle anderen Jungen, würde ich Dir sagen, wer ich bin. Aber Du siehst mich wie jeden andern an, obwohl ich mir gern einbilde, daß Du mich öfter anlächelst. Einbildung ist auch eine Bildung, so sagen die Deutschen. Ja, ich höre immer sehr genau hin, bei allem, was Du sagst...
Denk immer daran: irgendwo gibt es jemanden, dem Du so wichtig bist wie sein eigenes Leben. Du bist mein Augustiner unter den Mädchen!
In Liebe,
ich, der Dich liebt
Sabrina konnte sich bei dem letzten Satz ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ihr heimlicher Verehrer kannte sie wirklich gut, wenn er wußte, daß sie es als Kompliment auffassen würde, wenn sie mit einer Biermarke verglichen wurde! Aber ach! ansonsten stürzte dieser Brief sie in viel größere Ungewissheit! Er schrieb davon, daß er ihr in Arithmantik zugesehen hatte, wie sie Tagträumen über ihren Verehrer nachhing, doch dieses Fach hatte sie mit Ravenclaw zusammen. Was die in Frage kommenden Jungen wieder auf vier Häuser ausweitete. Dieser Kerl mußte entweder überall mit einem Tarnumhang herumschleichen, oder gute Spione haben, daß er über solche Details Bescheid wußte, ohne selbst anwesend gewesen zu sein. Und was war diese Sache mit Hogsmeade? Wie bitte sollte sie mit ihm den Tag verbringen, wenn er sich weigerte, die Hosen herunterzulassen und ihr zu sagen, wer er war?
Irgendjemand rief nach ihr. Sie ging in den Gemeinschaftsraum, wo Ernie auf einem Tisch Blumen und Essen sowie Kürbissaft aufgestellt hatte.
„Ich dachte, du hast sicher Hunger." sagte er. Sie fand es so lieb, daß sie es nicht übers Herz brachte, ihm zu sagen, daß sie schon gegessen hatte, und zwang sich noch ein halbes Steak hinein.
„Du hast mich gestern gefunden, oder?"
„Ja." sagte er errötend.
„Danke! Ich war echt superblau..." Danach schwiegen sie sich eine Weile an.
„Hey, hast du Lust, nächstes Wochenende mit mir nach Hogsmeade zu gehen? Ich würd mich gern mal ungestört mit dir unterhalten..." Sabrina hatte sich zwischenzeitlich Reflektionen hingegeben und mittlerweile war endlich der Groschen gefallen, und sie verstand, daß sie gestern Nacht mit ihrem Bewunderer zusammengestoßen war, und ihn geküßt hatte.
„Was hast du gesagt?" fragte sie geistesabwesend.
„Ist schon gut." erwiderte Ernie.
Etwa eine halbe Stunde später erhielt Sabrina noch einen Brief.
Warum?
Wieso hast Du das getan?
Du hast mich geküßt!
Ich kann es nicht glauben, Du hast mich wirklich geküßt!
Aber Sabrina, Du warst total betrunken, ich habe Deine Fahne schon gerochen, noch bevor ich Dich um die Ecke biegen sah. Es hat also wohl nichts bedeutet. Das sage ich mir immer und immer wieder. Aber eigentlich will ich das Gegenteil glauben. Die Vernunft sagt mir, daß Du nur ein dummes Spiel gespielt hast, und nicht wußtest, wen Du vor Dir stehen hast. Du hast ja auch zweimal falsch genug geraten. Doch mein Herz, mein unvernünftiges Herz, das versucht mir einzureden, daß Du ganz genau gewußt hast, daß ich es bin, und daß Du meinen Namen zehnmal hättest sagen können, beim Drittenmal, aber nicht wolltest, weil Du mich lieber küssen wolltest. Du machst mich wahnsinnig!
Warum muß es eigentlich so kompliziert sein? Deine Freundinnen haben es doch auch geschafft, sich innerhalb von fünf Sekunden mit ihren Angebeteten einig zu werden. Aber Du blockst mich jedesmal ab, wenn ich Dir nur ein bißchen näher komme. Warum? Magst Du mich nicht? Aber Du bist immer nett zu mir, immer lächelst Du mich an und ich kann Dir kaum in die Augen sehen, weil ich immer rot werde.
Jeder Vorstoß, den ich bis jetzt unternommen habe, hat ins Nichts geführt. Deshalb habe ich angefangen, Dir diese Briefe zu schreiben. Ich kann es nicht für mich behalten, ich muß Dir einfach sagen, wie sehr ich Dich verehre und bewundere. Aber ich bin so feige, so feige! Hätte ich Dich gestern Nacht doch nicht aufgehalten, als Du die Augenbinde lösen wolltest... dann wüßtest Du jetzt, wer ich bin, und ich wüßte, ob Du meine tiefen Gefühle erwiderst. Aber ich bin so erschrocken, ich war so verwirrt. Kannst Du das verstehen? Es war mein erster Kuß. War es auch Dein erster?
Den Brief wollte ich an Dich schicken, aber mir fiel nichts dümmeres ein, als ihn Dir in die Hand zu drücken. Weiß auch nicht, wieso. Jetzt weißt Du wenigstens, daß Du den, der sich nach Dir verzehrt, schon einmal geküßt hast. Es hat mir auch nichts ausgemacht, daß Du nach Bier geschmeckt hast. Wenn Du es mich immer in dieser Form konsumieren läßt, werde ich bald auch allen erzählen, daß es das beste Bier der Welt ist.
Ich habe den Kuß so genossen! Hätte er doch nur eine Ewigkeit gedauert, dann würden wir jetzt noch dort stehen, und ich würde Deine Hände diesmal nicht festhalten, Du würdest sehen dürfen, wer ich bin. Auch wenn Du mich nicht liebst, ich weiß, daß Du mich nicht auslachen würdest.
Dieser Kuß!
Ich denke immerzu an ihn.
Ich denke immerzu an Dich.
ICH LIEBE DICH!
Carina und Marianne verstanden überhaupt nichts mehr. Neville hatte absolut nicht versucht, sich Sabrina in wüster Verkleidung in den Weg zu stellen, um einen Kuß von ihr zu erhaschen. Ganz im Gegenteil, er war gleich zu Anfang des Spiels verschwunden wie das Würschtel vom Kraut und die ganze Nacht nicht mehr aufgetaucht. Am Sonntag versuchten sie herauszubekommen, wo er abgeblieben war, doch er grinste nur dämlich vor sich hin, als sie ihn bei jedem Essen mit Fragen bombardierten. Schließlich mußten sie das Handtuch werfen. Mit Sabrina war auch nicht viel anzufangen, da sie sich an fast gar nichts mehr erinnern konnte, nur, wie sie sich unter einer Pflanze eingerollt hatte und dann irgendwann von Ernie geweckt worden war. Am Montag platzte dann die Bombe:
Neville und Ginny waren seit der Party ein Pärchen. Sabrina dachte „Na endlich.", ihren beiden Freundinnen kullerten fast die Augen raus.
„Aber, wieso? Ich dachte... Neville und du..." kam es von Marianne, Carina hingegen begriff schneller:
„Deswegen ist er also verschwunden! Okay, Neville war also doch nicht der anonyme Briefschreiber. Aber wer ist es dann?" Und flugs gingen die beiden dazu über, wiederum alle potentiellen Kandidaten durchzugehen, Pros und Contras abzuwägen und sich darüber zu streiten, ob es möglich wäre, daß vielleicht einer der Lehrer dahintersteckte.
„Ich habe mir schon überlegt, ob ich die Briefe vielleicht selbst geschrieben habe." warf Sabrina irgendwann ein. Als sie verständnislose Blicke erntete, erklärte sie etwas umständlich: „Ihr wißt doch sicher, daß manche Leute gespaltene Persönlichkeiten haben. Und ich dachte mir, vielleicht bin ich auch so jemand, und weil ich keinen Freund habe, mir aber einen wünsche, und gerne im Mittelpunkt stehe, ohne dies zugeben zu wollen, hat ein Ich angefangen, Liebesbriefe an das andere zu schreiben..."
„Briefe?" fragte Marianne.
„Häh?" fragten Sabrina und Carina.
„BriefE?" betonte Marianne. „Ich weiß nur von EINEM Brief! Gibt es da etwas, was du uns erzählen wolltest?" Sabrina wurde rot.
„Und das mit der Multiplen ist Blödsinn!" streute Carina wie beiläufig ein.
„Naja, ich hab am Sonntag noch einen Brief bekommen. Diesen Sonntag erst! Also gestern." stammelte sie.
„UND DAS SAGST DU UNS ERST JETZT?" wüteten die beiden. Sabrina duckte sich.
„Tut mir leid, ich war viel zu fertig..." Die beiden standen auf.
„Her damit! Sofort!" Sabrina schüttelte ungläubig den Kopf. Die beiden konnten einen echt fertigmachen. Sie weigerte sich mit der Begründung, daß der Inhalt zu intim sei und sie nicht wolle, daß jemand anderes las, was ihr Verehrer über sie dachte, und erzählte den beiden nur oberflächlich, was sie aufgrund der Briefe auf den Schreiber schließen konnte. Für den Rest der Woche hatten die beiden genug damit zu tun, ihre Freundin mit „intimen Inhalten" zu triezen, die in ihren Vorstellungen sehr obszöner Natur waren (ihr bestes bis jetzt war: „Liebe Sabrina, ich habe ein Foto von Dir gemacht und sehe es mir jede Nacht ganz genau an. Mittlerweile hat es schon so viele Flecken, daß ich einen neuen Abzug machen lassen mußte. Dein Verehrer"), und legten die Suche nach einem neuen Opfer erstmal auf Eis.
