Die Gier in ihm war so stark wie schon lange nicht mehr, als Breda am nächsten Abend noch kurz vor Sonnenuntergang erwachte. Er hatte Alfred in der Nacht zuvor vielleicht doch ein wenig viel von seinem Blut trinken lassen.

Vorsichtig tastete er nach Sarah. Die junge Wirtstochter schlief tief und fest in seinen Armen. Von Krolock wartete noch etwa eine halbe Stunde, bis er Sarah behutsam an die Seite schob, den Sargdeckel öffnete und leise aus der Gruft schlich. Ohne einen Meter zu viel gegangen zu sein, erreichte er die Stallungen und sattelte Brantano in Windeseile. Kaum fertig, schwang er sich auf den Rücken des Hengstes und preschte durch die Nacht in Richtung der vom Dorf etwas abgelegenen Mühle. Brantano ließ er etwas vor dem Gebäude unter einer Gruppe Fichten zurück.

Mit seinen übermenschlichen Sinnen spähte er die Gegebenheiten aus. Er erspürte die Anwesenheit der Müllerstochter und begann, nach ihr zu rufen, ähnlich, wie er es bei Sarah getan hatte. Nach ein paar Minuten sah er zufrieden, wie sich oben die Luke auftat und er stellte die lange Leiter, die neben dem Schuppen gelegen hatte, leise an die Hauswand. Nach einigen weiteren Minuten des Wartens stand schließlich die atemlose junge Frau neben dem Vampirgrafen, der ihr galant die Hand reichte und sie rasch – denn der Hunger in ihm wuchs ins schier Unermessliche – hinter den Schuppen führte. Dort war das Tier in ihm, die Gier, endgültig erwacht. Ohne noch auf irgendetwas anderes zu achten, fixierte er den Punkt an ihrem Hals, an dem er die Pulsader pochen sehen konnte. Er bleckte die spitzen Eckzähne und grub sie tief in den Hals der jungen Frau, die nur noch kurz Zeit hatte, aufzuschreien.

Warmes, süßes Blut füllte augenblicklich seine Mundhöhle und benebelte seine Sinne. Die anfängliche Gegenwehr erstarb, und langsam wich das Leben aus der Müllerstochter. Bald würde sie nur noch eine leblose Hülle sein...

Adrian ging mit etwas unsicheren Schritten zurück zur heimischen Mühle. Der Weg vom Wirtshaus kam ihm sehr lang vor, und er hoffte, dass sein Vater ihn nicht erwischen würde, weswegen er sich so leise wie möglich fortbewegte. Er hatte es schon fast zur Tür hinein geschafft, als er plötzlich inne hielt. Hatte er seine Schwester da gerade schreien hören? Automatisch griff er nach der Mistgabel, die am Ochsenschuppen lehnte, und umrundete vorsichtig das Gebäude. Als er um die letzte Ecke bog, erstarrte er kurz, um dann mit einem wütendem Aufschrei zuzustechen.

Durch den Schrei aufgeschreckt, hatte von Krolock sich umdrehen wollen, als er einen brennenden Schmerz in seinem Rücken spürte...

Adrian riss die Mistgabel zurück, und der Fremde, der sich eben noch über seine Schwester gelehnt hatte, taumelte ihm entgegen, drehte sich ihm jedoch zu, weswegen er ein zweites Mal kräftig zustach. Von Krolock hatte sich gegen den Angreifer eigentlich zur Wehr setzen wollen, doch das war selbst für einen Vampir zu viel.

Er drückte die Gabel aus seinem Fleisch heraus, wobei er einmal vor Schmerz aufschrie, und schleuderte sie von sich. Taumelnd wich er ein paar Schritte zurück und fiel auf die Knie. Doch der Junge schlug Krach und schrie nach seinem Altvorderen. Der ließ nicht ganz so lange auf sich warten, wie Breda erhofft hatte. Sich mühsam aufrappelnd wankte er in die Richtung, aus der er gekommen war und pfiff nach Brantano.

Oben am Fenster erschien der Müller mitsamt seiner Flinte. Er schoss zwei Mal auf die dunkle, flüchtende Gestalt im Schnee, verfehlte sie aber beide Male, als ob die Kugeln abgelenkt würden. Adrian ließ den Wolfshund von der Kette.

„Fass ihn, Reißer!" schrie er dem laut knurrenden Hund hinterher. Breda, der Brantano mittlerweile erreicht hatte, raffte seine letzten Kräfte zusammen, um sich auf das Pferd zu schwingen, als ihn der Hund an der Wade erwischte und sein Raubtiergebiss darin versenkte. Der Graf schrie noch lauter und gequälter auf, zückte seinen kleinen Dolch und stach zu. Der Hund ließ aufjaulend von ihm ab, und Breda zog sich mit letzter Kraft in den Sattel.

Brantano verlor angesichts des Hundes vollends die Nerven und preschte in das Dunkel des Waldes. Es dauerte lange, bis er sein Tempo zu verringern wagte. Von Krolocks Kleidung glänzte nur so von seinem eigenen Blut, und er spürte, dass er immer schwächer wurde. Kurz nachdem Brantano in den Schritt gefallen war, rutschte er seitlich von seinem Rücken und schlug dumpf auf dem Erdboden auf. Brantano sprang überrascht zur Seite, kam dann aber wieder näher heran und beschnupperte seinen gefallenen Herrn. Eine Weile suchte er den Boden ab, als sich sein Meister jedoch nicht weiter rührte, machte er sich auf in Richtung Schloss.

„Tut's noch weh?" erkundete sich Herbert besorgt bei Alfred.

„Kaum noch – aber wenn du drauf rumdrückst, ja!"

„Entschuldigung. Sieht halt interessant aus" Von draußen erklang einer von Sarahs berühmt-berüchtigten Alarmschreien. Herbert verdrehte etwas genervt die Augen und streckte dann den Kopf aus der Tür. „Was denn?"

„Brantano!"

„Was ist mit – tritt er Hades!"

„Äh... nein, er steht gerade auf dem Schlosshof"

„Da steht er öfters"

„Aber nicht gesattelt!" Das war dem Grafensohn dann doch etwas suspekt. Zusammen mit Alfred schlenderte er Richtung Hof, wo sie Brantano begutachteten. Herbert wurde noch eine Spur weißer als er ohnehin schon war.

„Der Sattel ist ja voller Blut!" rief Alfred schließlich.

In Herberts Gesicht spiegelte sich nur noch für wenige Sekunden Entsetzen und Furcht. Dann schlug es in Wut, Ernst, vor allem aber Hass und einer Spur von Angst um.

„Koukol! Sattele Hades, sofort!" Er wandte sich an Alfred. „Den reitest du!" Anschließend wandte er sich an Sarah. „Sag du dem Professor Bescheid! Sorg dafür, dass alles bereit ist, wenn ich mit Vater wiederkomme! Er scheint schwer verletzt zu sein!" Sarah starrte ihn für einen Moment mit großen Augen an, dann eilte sie davon.

Herbert stürmte in Richtung Waffenkammer. Er schnappte sich seinen Säbel und ein Gewehr. Für Alfred nahm er dasselbe mit.

Als er mit den Waffen beladen wieder auf dem Hof ankam, hatte Koukol Hades schon gesattelt und Alfred war aufgesessen. Ohne noch eine Sekunde zu vergeuden schwang sich Herbert auf Brantano, reichte Alfred die Waffen und gab dem Pferd seines Vaters dann die Sporen.

Schweigend und rasch ritten die beiden jungen Vampire durch den Wald, immer auf den Spuren, die Brantano durch den Schnee gezogen hatte. Sie brauchten lange Zeit, denn sie spähten nach allen Seiten und hielten immer wieder inne, um zu lauschen. Sie hatten bereits den halben Weg zum Dorf hinter sich, als Alfred auf dem Weg einen großen Schatten entdeckte.

„Herbert! Da vorn!" Sie galoppierten die letzten Meter zu der am Boden liegenden Gestalt. Noch ehe sein Pferd stand, sprang Herbert herab. Er kniete sich neben seinen Vater, rief ihn an, musste aber bald feststellen, dass es keinen Zweck hatte. Breda von Krolock war in eine tiefe Bewusstlosigkeit gefallen. Rings um ihn hatte sich eine große, dunkle Lache Blut ausgebreitet.

„Rasch! Hilf mir, ihn aufs Pferd zu bekommen!" Herbert wusste, dass Eile geboten war, wenn er seinen Vater nicht verlieren wollte. Vampire konnten zwar an hohem Blutverlust nicht sterben, dafür aber auf unbestimmte Zeit in einen komaähnlichen Zustand fallen. Die beiden jungen Vampire mühten sich lange mit dem nicht ganz leichten Obervampir ab, bis sie ihn schließlich auf Brantanos Rücken verfrachtet hatten und Herbert sich hinter ihn schwingen konnte.

„So. In ein paar Minuten müssen wir die Transfusion beenden. Wenn es bis dahin nicht geklappt hat, müssen wir es die nächsten Tage noch einmal probieren. Ich kann aber nichts versprechen, er muss sehr lange im Schnee gelegen haben." Professor Abronsius trat von dem breiten Bett zurück, auf das sie den mittlerweile verbundenen Grafen gebettet hatten. Herberts Arm war mit dem seines Vaters durch einen dünnen Schlauch verbunden. Er war sehr ernst und schweigsam geworden und plötzlich fand Alfred, der sich im Hintergrund des Zimmers an die Wand gelehnt hatte, dass er seinem Vater sehr ähnlich sah. Sarah saß leise weinend in einem der großen Sessel.

Es vergingen einige Minuten unbehaglichen Schweigens, dann trat der Professor wieder vor und zog die Kanüle aus Herberts Arm.

„Ich kann aber noch ein wenig!"

„Junge, du bist schon ganz bleich" tadelte der Professor und drückte einen Tupfer auf den Stich.

„Egal! Ich bin immer bleich! Ich kann noch!"

„Herbert, er hat Recht. Es ist genug. Heute können wir nichts mehr tun." Der Professor sah aus dem Fenster.

„Ihr solltet schlafen gehen, die Sonne geht gleich auf. Ich kann hier bleiben und aufpassen."

„Nein. Ich mache das" Der alte Mensch zuckte die Schultern.

„Dann verdunkle ich die Fenster" Alfred führte die völlig aufgelöste Sarah aus dem Raum. Bald war Herbert mit seinem Vater ganz allein. Den ganzen Tag wich er nicht von seiner Seite. In ihm wechselten sich Phasen von Angst und Wut ab, doch schließlich überwog die Wut. Wer auch immer dafür verantwortlich war, dass sein Vater in diesem Zustand war, würde dafür teuer bezahlen. Er konnte sich denken, wo Breda gewesen war...

Als die letzten Sonnenstrahlen gerade hinter den Bergen verschwanden, strich der Grafensohn seinem Vater noch einmal über das dunkle Haar, stand auf und suchte sein Zimmer auf. Als er die Doppeltüren wieder aufschmiss, war er komplett verändert: Anstatt seiner üblichen hellen Kleidung war er nun ganz in schwarz gewandet, um seine Schultern lag der lange Umhang, den ihm sein Vater vor Ewigkeiten geschenkt hatte. An seiner Seite war noch immer der Säbel vom Vorabend. So gekleidet eilte er hinunter in die Stallungen, die er kurz darauf mit einer brennenden Fackel in der Hand und auf Hades' Rücken verließ. In halsbrecherischem Tempo ging es durch den dunklen Wald. Als er über den Fundort seines Vaters ritt, stieg seine Wut ins Unermessliche. Nach verhältnismäßig kurzer Zeit hatte er die Mühle erreicht.

Adrian hielt, wie es sich gehörte, am Bett seiner toten Schwester die Totenwache. Nur eine rote Kerze hatte er entzündet, die jetzt den Raum mit flackernden Schatten füllte. Er machte sich schwere Vorwürfe, dass er nicht früher gekommen war, und somit vielleicht hätte verhindern können, dass seiner Schwester etwas passierte. Er saß an ihrem Fußende, den Blick auf ihrem nunmehr totenbleichen Gesicht. Somit sah er nicht, wie sich der Schatten, den er an die Wand warf, verdichtete. Sein Schattenselbst zitterte und bebte, wurde schärfer und erhielt schließlich die Form eines jungen, aristokratisch gekleideten Mannes, der aus den Schatten heraus in den Schein des Ewigen Lichts trat.

Dessen Anwesenheit blieb dem Müllerssohn nicht lange verborgen. Er fuhr herum. Auf seinen Schläfen und seiner Stirn perlte Schweiß.

„Guten Abend. Trauerfall in der Familie?" fragte Herbert von Krolock leise und beinahe sanft. Adrian schluckte schwer und druckste ängstlich herum.

„...ja?"

Langsam beugte sich Herbert vor.

„Stell dir vor... bei mir auch..." hauchte er. Eine halbe Sekunde später hatte er seine Zähne schon tief in Adrians Hals gerammt. Der Junge hatte keine Zeit mehr zu schreien. Doch schon kurz danach ließ Herbert wieder von ihm ab. „Mit dir bin ich noch nicht fertig..." Er warf ihn zur Tür hinaus und prügelte ihn anschließend die Treppen hoch.

Durch den Lärm aufgeschreckt tauchten der Müller nebst Frau am Treppenabsatz auf. Der Müller legte auf den Fremden an, der jedoch plötzlich vor ihm stand und den Lauf des Gewehrs verbog. Seine Frau begann zu schreien, während er selber panisch die Augen aufriss.

Herbert kümmerte das wenig. Mehr oder minder sanft verfrachtete er die gesamte Familie in das oberste Stockwerk der Mühle, schubste sie in einen kleinen Vorratsraum und verbarrikadierte die Tür mit schweren Balken. Ohne auf ihr Schreien und Klopfen zu achten, schritt er ruhig in das Totenzimmer zurück, wo er den Dolch des Grafen, der neben dem Ewigen Licht lag, an sich nahm.

Im Untergeschoss verteilte er das Stroh und den Weizen aus dem Schuppen großzügig auf dem Boden und sämtlichen Möbelstücken. Zuguterletzt öffnete er sämtliche Fenster in den oberen Etagen, ehe er im Untergeschoss seine Runde drehte und alles, was ihm unter die Finger geriet, anzündete. Gemächlich verließ er die brennende Mühle und stieg auf Hades. Die Fackel warf er durch eines der Fenster und entfernte sich dann in langsamen Tempo, hinein in das schützende Dunkel des Waldes. Dann drehte er sich um und lauschte den immer lauter werdenden panischen Schreien und sah dem zerstörerischen Werk des Feuers zu. Der Schnee rings um die Mühle schimmerte rot.

Als die ersten Dorfbewohner nach etwa einer halben Stunde eintrafen, war von den Schreien über dem lauten Prasseln des Feuers schon nichts mehr zu hören. In aller Seelenruhe wendete Herbert seinen Hengst und ritt langsam zurück.

Am Schloss wurde er bereits erwartet. Alfred hing für einen kurzen Moment ob des Aussehens seines Freundes die Kinnlade am Boden. Er fing sich aber sehr schnell wieder und beantwortete Herberts Frage nach dem Befinden seines Vaters mit einem traurigen Kopfschütteln. Der silberhaarige Vampir reagierte nicht darauf, sondern schwang sich von seinem Pferd und führte es in dessen Box, wo er ihm ungewöhnlich schweigsam das Sattelzeug abnahm.

„...Wo warst du?" fragte Alfred scheu. Herberts Verhalten wirkte auf ihn befremdlich.

„Vaters Dolch wieder holen." Alfred nahm den Dolch, der ihm hingehalten wurde, gab sich damit aber nicht zufrieden.

„Du riechst nach Rauch" Herbert beachtete ihn nicht weiter, sondern drängte sich an ihm vorbei, um seinen Vater aufzusuchen.

Auch nach der zweiten Transfusion hatte sich von Krolocks Zustand nicht verändert. Er lag noch immer wie im Tiefschlaf auf seinem Bett. Sarah saß neben ihm und hielt leicht apathisch seine Hand. Herbert stand am Fußende, den Umhang und die Waffe hatte er abgelegt. Ernst betrachtete er seinen Vater. Es war nicht klar, ob er jemals wieder zu sich kommen würde. Sein Sohn würde ihm jeden Tag etwas Blut geben, wie lange es auch dauern mochte. In der Zeit lag es an ihm, das Schloss zu führen und auf all seine Bewohner Acht zu geben. Die schwere Bürde des Grafen von Krolock lag jetzt auf seinen Schultern...