Dezember 1851. Ein Jahr später

Der kleine Junge saß in der Ecke im Sand des Schlosshofes und weinte bitterlich. Er hatte die Nase seines kleinen Pferdes umklammert, welches ihn gerade in die einzigen Brennnesseln weit und breit gesetzt hatte. Seine Mutter kam aus dem Schloss gelaufen. „Was ist passiert, Breda?" Als Antwort streckte ihr Sprössling ihr den geröteten Arm entgegen und deutete mit dem anderen auf die Brennnesseln. Die Gräfin von Krolock nahm ihren fünfjährigen Sohn auf den Arm und wollte gerade dem Pferd mit der flachen Hand einen Klaps verpassen, als klein Breda lautstark protestierte und sich in ihren Arm hängte. „Nich haun, er hat gar nichts gemacht" „Wenn du das sagst..." Sie ließen das Pferd Pferd sein und gingen ins Schloss, um die Gouvernante seinen Arm kühlen zu lassen.

Gerade als der kleine Breda wieder zur Tür herausgefegt war, trat sein Vater aus den Schatten.

Er hatte das ganze Szenario missgestimmt beobachtet. „Das ist also mein ältester Sohn. Verweichlicht bis in die Knochen." „Er ist erst fünf. Er kann noch lernen." „Das kann er aber nur, wenn er nicht nur von tratschenden Weibern umgeben ist. Ein echter von Krolock bleibt auf dem Pferd, egal was rings um ihn passiert"

Breda stand an der offenen Tür und lauschte.

Aurel lief schnell durch den großen, prachtvollen, Garten. Sein Bruder, der nur ein Jahr älter war als er, folgte ihm schnell. „Ich fange dich ja doch Aurel!" rief Breda ihm nach und legte mühelos noch ein wenig an Tempo zu, so dass er ihn im nächsten Moment erreicht hatte. „Du bist ja auch viel größer als ich!" maulte der Jüngere von beiden. „Das ist unfair."

Es war nicht unfair. Die Tatsache, dass er nicht der älteste Sohn im Haus war, sollte ihm eine ganze Menge ersparen...

Aurel! Es wird Zeit für dich rein zu gehen. Deine Mutter wartet." Auch sein Bruder wollte der Anweisung des Vaters folgen. Er wurde jedoch vom ihm zurück gehalten. Eine Weile gingen Vater und Sohn schweigen nebeneinander her.

Du bist nun alt genug, mein Sohn." „Alt genug wozu, Vater?" „Alt genug, um von einem verweichlichten Kind zum Mann zu werden." Der 12 Jährige Junge wusste nicht, was es hieß, ein Mann zu werden. Er wusste nicht, was in den nächsten Jahren auf ihn zu kommen würde...

Unter der harten Hand des Vaters hatte er das strenge spanische Hofzeremoniell zu lernen, lernte zu kämpfen und zu töten. Die gesamte Ausbildung hatte innerhalb von 5 Jahren einen harten, strengerzogenen jungen Mann aus dem fröhlichen unbeschwertem Kind gemacht, das Breda von Krolock einst gewesen war.

Durch den frühen Tod des Vaters war er erst 18 Jahren alt gewesen, als er erfahren musste, was es hieß, Graf von Krolock zu sein. Nun war er das Oberhaupt der gesamten von Krolocks.

Oberhaupt über seine 9 Geschwister, seine kranken Mutter und mittlerweile eigene Frau.

Er führte ein Leben, um das ihn niemand beneidete. Nach dem Tod der Mutter war erst durch Herberts Geburt wieder ein kleiner Schimmer am Horizont gewesen. Und Herbert sollte der Einzige für sehr lange Zeit bleiben...

Langsam, ganz langsam glitt der Graf wieder zurück in das Leben. Er hatte seit langer Zeit das erste Mal wieder von etwas geträumt. Er hatte von seiner Kindheit geträumt.

Vorsichtig, wie um zu probieren, ob noch alles funktionierte, bewegte der Graf zunächst nur die Finger, dann allmählich auch die anderen Gliedmaßen. Zuletzt schlug er endlich die Augen auf. Seine anfangs ziemlich verschwommene Sicht klärte sich bald und zeigte ihm den Baldachin seines Bettes. Verwirrt sah er sich in dem dunklen Zimmer um. Wie kam er hierher? Warum war er nicht in seinem Sarg?

Die Erinnerung kehrte nur in Bruchstücken zurück.

Die Mühle.

Die junge Frau.

Der brennende Schmerz in seinem Rücken.

Der Hund.

Der fluchtartige Ritt und der Sturz von Brantano.

Unwillkürlich tastete er nach den Einstichstellen, die er davongetragen haben musste. Aber da war nichts. Kein Verband, nicht mal das geringste Anzeichen irgendeiner Verletzung.

Um einiges verwirrter als vorher, richtete sich Breda vorsichtig auf und setzte sich auf die Bettkante. Dort stellte er zum ersten Mal fest, dass er nur spärlich bekleidet war und beschloss deswegen, zuerst einmal seinen Schrank aufzusuchen.

„So?"

„Nein, so nicht. Ich glaube... so. Was meinst du, Herbert?"

„Da festmachen!"

„Stimmt doch nicht! Das muss da rüber, und das da drunter durch!"

„Geht nicht. Ist zu kurz."

„Weiß nicht. Ziemlich kompliziert das Ganze. Wie kann Sarah sich das merken?"

„Keine Ahnung."

„Sie hat es dir doch gezeigt."

„Aber viel zu schnell!"

„Na toll. Und jetzt?"

„Dreh's doch mal um!"

„..."

„OK, so auch nicht."

„Und jetzt? Soll ich Sarah holen?"

„Alfred, wir haben gesagt, dass wir das machen, also machen wir das auch!"

„Aber wie denn!"

Der Graf hatte schon den ganzen Gang hinab dieser Diskussion zugehört. Etwas verwundert lugte er um die Ecke. Herbert und Alfred standen über irgendetwas gebeugt und hantierten bzw. gestikulierten. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt trat der Graf näher, in der Absicht, den beiden über die Schulter zu schauen, um herauszufinden, was das Ding war, das sie so beschäftigte. Auf halbem Weg stutzte er. Herbert sah extrem... anders aus. Langer Umhang, schwarze Kleidung, die Haare streng nach hinten gebunden und auch an seiner Haltung hatte sich etwas geändert.

Im selben Moment drehte Herbert sich abrupt um. Überrascht wich der Graf einen Zentimeter zurück. Ihm war, als blicke er in einen Spiegel. Derselbe ernste, würdevoll musternde Blick, mit dem er immer auftrat, um sich Respekt zu verschaffen, wurde ihm vom Gesicht seines Sohnes zugetragen.

Dieses Spiegelbild hielt jedoch nur ein paar Sekunden. Dann begannen Herberts Augen zu leuchten und wurden um einiges größer.

„PAPA!" Ehe sich Breda versah, hatte er einen ausgewachsenen Mann auf dem Arm.

„Äh... Herbert? Du bist keine sechs Jahre mehr..."

„Das ist mir völlig egal, du bist wieder wach!"

„...Ja? Bin ich?"

„Du hast ein Jahr lang geschlafen!" Von Krolock ließ seinen Sohn beinahe fallen und bekam selbst große Augen.

„So lange?"

„Ja, du warst ziemlich schwer verletzt. Hattest viel Blut verloren" Der Graf schwieg. Er wusste, was mit ihm geschehen war.

„Ein Jahr also?"

„Ja. Und es hat sich ziemlich viel verändert"

„Hat es das? Nun, dann hast du mir wohl viel zu erzählen, mein Sohn" Herbert begann nervös mit den Füßen zu scharren.

„Ja, allerdings... Womit soll ich denn anfangen?" fragt er schließlich schüchtern.

„Du musst mir das doch nicht hier erzählen. Gehen wir in die Bibliothek? Wo ist Sarah eigentlich?"

„Sarah isst gerade zu Abend. Müsste aber bald wieder kommen."

Im Hintergrund versuchte Alfred, sein und Herberts Problem von gerade ruhig zu halten. Er tanzte vor dem Ding auf und ab und schnitt Grimassen.

„Sag mal Herbert, was macht Alfred da eigentlich?" fragte Breda leise. Herbert seufzte resignierend. Sein Vater musste es sowieso erfahren. Da kam es auf die Situation auch nicht mehr an.

„Hm... ja. Also, da ist etwas. Das solltest du eigentlich schon wissen..." „Dann sag es mir doch einfach." In der Stimme des Grafen lag ein wenig Ungeduld. Herbert grinste nervös. „Hm... Schau doch selbst..." Er trat einen Schritt zur Seite. Alfred tat es ihm gleich.

Graf Breda von Krolock schluckte schwer und ging mit großen Augen einen Schritt auf das Ding zu.

„Oh" gab er schließlich zum besten. „Deins, Herbert?"

Dieser verdrehte entnervt die Augen. „Wie bitte soll das den funktionieren?" Ganz langsam ging dem Grafen ein Licht auf. Neugierig trat er noch einen Schritt näher heran. Vorsichtig streckte er einen Finger nach dem Baby vor sich aus.

„Er ist wundervoll! Ein Geschenk der Götter!" Graf Breda von Krolock, aristokratisch, würdevoll, stolz, der Fürst der Finsternis... – saß da und weinte. Er saß in seinem großen Lehnsessel, Sarah auf der Armlehne und fuhr ihrem Breda durchs Haar. Janos spielte mit seinen kleinen Händchen ebenfalls mit dem Haar seines Vaters.

Herbert lehnte nachdenklich im Türrahmen.

„Ob er bei mir damals auch so ein Theater gemacht hat?" Alfred knuffte ihn in die Seite.

„Bestimmt"

Der Graf brauchte eine geschlagene halbe Stunde, um sich wieder zu beruhigen.

Als er dann wieder runter gekommen war, war es auch schon kurz vor Sonnenaufgang.

„Papa?" Herbert zog seinen Vater kurz zur Seite, der sich gerade auf den Weg in Richtung Gruft befand. „Ich wollte dir noch sagen, dass sich deine Geschwister angekündigt haben. Sie wollen uns in den nächsten Wochen besuchen kommen." Breda bekam große Augen.

„Alle?" Es war eine Ewigkeit her, dass er seine Brüder und Schwester gesehen hatte. Sie lebten über die ganze Welt verstreut.

„Ja, Alle neune!"

„Und wann genau wollten sie kommen?"

„Die Ersten vermutlich schon nächste Woche."

„Dann sollten wir zusehen, dass bis dahin entsprechende Vorkehrungen getroffen sind." Herbert nickte, und ging dann neben seinem Vater hinunter in die Gruft, wo er schnell zu Alfred in den Sarg kletterte und Breda zusah, schnell zu seinem zweiten Sohn und seiner Geliebten zu kommen.