Beta wie immer: die liebe Persephone Lupin – vielen, vielen Dank!
Eine besondere Danksagung in diesem Kapitel geht an Ginnyvere für eine weitere spontane Hilfeleistung in einer prekären Latein-Notlage… ;-)
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Bergamotte
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„Poppy, es tut weh!"
Snape saß an der Kante seines Betts, die rechte Hand im Baumwollstoff des Nachthemds verkrampft – so als wollte er dasselbe hinaufziehen, um den Widersinn auch optisch zu untermauern, Schmerzen in einer nicht mehr vorhandenen Gliedmaße zu verspüren. Nachdem er sich nach dem Willkommensfest für zwei volle Tage in seinen privaten Räumlichkeiten verkrochen hatte, und weder von Madam Pomfrey noch von Kingsley dazu bewegt werden konnte, sich wenigstens zum sporadischen Essen der Öffentlichkeit zu stellen, war er heute Morgen zu allem Überfluss mit Schmerzen aufgewacht – in seinem rechten Bein! Wie konnte etwas wehtun, das nicht mehr da war? Wurde er jetzt letztendlich doch verrückt?
„Da ist nichts mehr, was du untersuchen könntest, Poppy", zischte er, als Madam Pomfrey ihren Zauberstab schwenkte. Die Heilerin warf ihm einen Blick zu, der ihn zum Verstummen brachte, und richtete sich wieder auf.
„Du leidest unter Phantomschmerzen", stellte sie nachdenklich fest.
Snape verengte die Augen. „Phantomschmerzen…?" Er wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass ihn diese Hexe auf den Arm nahm. „Wie soll das funktionieren? Meines bescheidenen medizinischen Wissens nach benötigt man zumindest Nerven, um Schmerz zu fühlen…" Er griff mit der Hand nach dem Stumpf. „…und da sind keine Nerven. Da ist überhaupt kein Bein mehr!"
„Severus", setzte Madam Pomfrey zu einer Erklärung an, während das Gesicht des Tränkemeisters eine Mischung aus Ärger und Frustration widerspiegelte. „Phantomschmerzen sind nicht mit gewöhnlichen Schmerzen vergleichbar. Dein Gehirn spielt dir da einen Streich…"
„Ich bilde mir das nicht ein!" unterbrach sie der Slytherin entnervt und funkelte sie böse an.
„Nein, so habe ich das nicht gemeint", versuchte ihn die Heilerin zu beruhigen. „Phantomschmerzen sind noch nicht einmal in der Muggelmedizin restlos erforscht – ganz zu schweigen von unserer Heilkunst, in der Amputationen überhaupt äußerst selten vorgenommen werden müssen. Ich habe einmal mit Mr. Moody darüber gesprochen, und er hat mir anvertraut, dass er in der ersten Zeit nach seinem Verlust ebenfalls darunter gelitten hat."
Snapes Innerstes verkrampfte sich ein wenig. „Kann man etwas dagegen unternehmen?" fragte er knapp, aber ruhiger als zuvor.
„Laut Mr. Moody vergehen diese Schmerzen nach einiger Zeit zumeist von selbst", antwortete Madam Pomfrey. „Und in der Zwischenzeit kann ich dir ein leichtes Schmerzmittel geben."
Snape presste die Lippen aufeinander. Schön langsam aber sicher hatte er genug von all diesen Heilgebräuen, dachte er.
„Es scheint allerdings gewisse Auslöser für Phantomschmerzen zu geben", fuhr die Heilerin mit ernster Stimme fort. „Bestimmte Wetterlagen zum Beispiel – oder emotionaler Stress…"
Na das war ja einmal etwas ganz Neues, dachte der Slytherin düster. Emotionaler Stress… Ha!
Madam Pomfrey kramte in ihrer mitgebrachten Tasche und holte eine kleine Phiole heraus, die sie Snape hinhielt. „Hier, Severus… Das sollte die Schmerzen einstweilen ein wenig lindern."
Der Tränkemeister griff ein wenig widerwillig nach der Medizin, während ihn Madam Pomfrey mit ernster Miene musterte und sich dann räusperte.
„Was ist los, Severus?" fragte sie vorsichtig. „Ich kenne dich mittlerweile seit Jahren – Jahrzehnten – und müsste schon ausgesprochen blind sein, um nicht zu bemerken, dass dich irgendetwas belastet."
Snapes Gesichtszüge verhärteten sich. „Es ist nichts", fauchte er ein wenig schärfer als beabsichtigt.
„Mach mir nichts vor", entgegnete Madam Pomfrey. „Mir ist klar, dass du nicht gerade als Gesellschaftstyp bekannt bist, aber dass nicht einmal Kingsley und ich dich in den letzten beiden Tagen aus deiner Wohnung zerren konnten – das ist nicht einmal für dich normal."
Den Teufel würde er tun und dieser Hexe gestehen, dass er einer Bande Halbwüchsiger aus dem Wege ging, dachte Snape und senkte unwillkürlich den Kopf.
„Kingsley hat mir von eurem Zusammentreffen mit Mr. Potter und seinen Freunden erzählt…"
Ein zischender Atemzug entfuhr dem Slytherin bevor er ihn verhindern konnte. So weit war es also schon mit seiner Selbstkontrolle gekommen, dachte er bitter. Nicht einmal sein Gesicht konnte er mehr wahren, wenn es darauf ankam.
„Das ist es also…" sagte die Heilerin leise. „Ich habe mir so etwas in der Art gedacht – und Kingsley ebenfalls."
Snapes Gesicht fuhr hoch, und er funkelte Madam Pomfrey an. Diese jedoch ignorierte seinen Blick.
„Kingsley hat mir erzählt, was bei dem Zusammentreffen passiert ist", sagte sie mit ernster Miene. „Severus, lass dich doch davon nicht dermaßen aus dem Konzept bringen! Niemand wusste, was mit dir passiert ist, und die Schüler waren durch die Situation einfach überfordert – genauso wie du."
Der Slytherin presste die Lippen aufeinander und senkte den Blick. „Sie gaffen… und zerreißen sich wohl gerade das Maul über mich…"
„…und das ist so schwer nachzuvollziehen für dich?" unterbrach ihn Madam Pomfrey. „Ehrlich Severus, was erwartest du denn? Die Schüler müssen sich ebenfalls erst an diese …Tatsache gewöhnen. Sie waren überrascht, vermutlich schockiert – und sie meinten es mit Sicherheit nicht böse", fügte sie hinzu.
„Was ich ernsthaft zu bezweifeln wage…"
„Unsinn", entgegnete Madam Pomfrey und schüttelte unwillig den Kopf. „Es hilft auf jeden Fall kein bisschen, wenn du dich hier verbarrikadierst und in Selbstmitleid versinkst."
„Ich versinke nicht in Selbstmitleid!" fauchte Snape aufbrausend.
„Doch, das tust du", stellte die Heilerin fest, aber in ihrer Stimme schwang Verständnis mit. „Du darfst dich nicht gehen lassen, Severus, auch dein Leben geht weiter. Und gib auch deinem Umfeld eine Chance, sich daran zu gewöhnen – immerhin kommt so ein Fall in unserer Welt nicht gerade häufig vor. Natürlich starren die Schüler da erst einmal ein wenig…"
Vor allem, wenn es den verhasstesten Lehrer der Schule betrifft, dachte Snape und kräuselte bitter einen Mundwinkel. „Hm", brummte er unbestimmt, während eine ganz leise Stimme in seinem Hinterkopf der Tirade der Heilerin heimlich nachgab.
„Niemand will dir etwas böses, Severus…"
Das war nun schon die zweite Neuigkeit an diesem Morgen, dachte der Tränkemeister sarkastisch. Und diese wagte er definitiv ernsthaft anzuzweifeln.
„Pomona hat gestern Abend nach dir gefragt", wechselte Madam Pomfrey behutsam das Thema.
Snape verengte die Augen. Offensichtlich war schon in den ersten beiden Tagen der erste Kessel explodiert, dachte er höhnisch. „Was wollte sie denn?"
„Sie bat mich, dir auszurichten, dass eines ihrer Bergamottebäumchen schon zwei Früchte trägt", sagte die Heilerin. „Sie meinte allerdings, dass du die Früchte bald ernten solltest, weil sie nicht garantieren könne, dass die Bäume so bald wieder tragen würden. Sie sagte, die Früchte seien zeitig, denn die normale Erntezeit wäre erst ab frühestens November."
Der Slytherin nickte. „Ich werde mich darum kümmern. Danke, Poppy."
Also doch keine Kesseleinschmelzungen, dachte Snape fast bedauernd, während Madam Pomfrey seine Kleidung holte und dann begann, ihm beim Anziehen zu helfen.
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Nachdem ihn die Medihexe nach den mittlerweile schon gewohnten Morgentätigkeiten wieder verlassen hatte, verbrachte Snape den Vormittag hauptsächlich damit, ein paar weitere Studien zu seinen geplanten Projekten anzustellen. Er stellte mit einiger Befriedigung fest, dass das Gehen an den Krücken immer besser zu bewerkstelligen war, und als er schließlich zum wiederholten Mal von seinem Sessel aufstehen und sich wieder hinsetzen konnte, schickte er schließlich einen Hauselfen zu Madam Sprout, um bezüglich eines möglichen Treffens am Nachmittag anzufragen – zwecks Ernte der Bergamottefrüchte. Kingsley hatte sich zum Mittagessen angekündigt, und der Tränkemeister wollte vorher noch einige Dinge erledigt wissen – einerseits, um sie aus dem Kopf zu haben und andererseits, um seine Gedanken von Madam Pomfreys morgendlicher Tirade abzulenken. Der Vorwurf und die anschließende widerwillige Erkenntnis, dass er sich tatsächlich in Selbstmitleid suhlte, kratzten schwer an Snapes Stolz. Gerade als er langsam zu einem Wandschrank humpelte, in dessen Tiefen er eine spezielle und leider sehr selten gebrauchte Aufsatzsammlung zum Thema „Mediterrane Zitrusfrüchte und deren praktische Verarbeitung in der magischen Braukunst" vermutete, klopfte es an der Tür. Snape nickte befriedigt. Er war durchaus nicht unglücklich über Kingsleys offensichtlich überpünktliche Ankunft, denn er stellte fest, dass er seinem Körper wohl einmal mehr zuviel zugemutet hatte. Sein Bein zitterte und die Schultern schmerzten, als er umständlich seinen Zauberstab aus der linken Ärmeltasche seiner Robe fingerte.
„Komm herein, Kingsley", sagte er, als er die Tür im Vorraum aufspringen hörte. Keine Minute zu früh, dachte er, als er sich mit immer mühsamer werdenden Bewegungen in Richtung Esstisch aufmachte.
„Professor Snape…" hörte er eine schüchterne Stimme sagen, die verdächtig …nicht nach Kingsley klang! Ein Adrenalinstoß durchfuhr seinen Körper, als er sich langsam umdrehte und das infernalische Trio im Eingang stehen sah.
„Was haben Sie hier zu suchen?" mühte sich Snape mit seidiger Stimme ab, nachdem er den ersten Schock und Ärger über seine eigene Unachtsamkeit überwunden hatte. Sein Bein brannte und drohte vor Anstrengung nachzugeben, seine Schultergelenke schmerzten, und zwischen ihm und dem ersehnten Sessel standen drei verdammte Gryffindors in der Tür, die nervös mit den Füßen Löcher in seinen Teppich scharrten. Großartig.
„Ich höre…?" setzte er mit gefährlich leiser Stimme nach.
„Professor Snape…" begann Harry noch einmal, während ihn Snape aus verengten Augen fixierte. „Bitte entschuldigen Sie die Störung…" stammelte er.
„Potter…" knurrte Snape ungeduldig. Der Sessel schien in immer weitere Ferne zu entschwinden. „Sollten Sie etwas zu sagen haben, dann sagen Sie es. Andernfalls verlassen Sie bitte meine Wohnung, ich bin wirklich nicht in der Stimmung für unmotiviertes Geplauder."
Der Schüler reckte sein Kinn in die Höhe und holte tief Luft. „Wir wollten uns für unser Verhalten entschuldigen, Professor Snape", sagte er, während Ron und Hermine hinter ihm zustimmend nickten. „Wir… wir wollten Sie nicht verletzen… und es tut uns leid."
Der Tränkemeister hob eine Augenbraue und kräuselte einen Mundwinkel. „Wer hat Sie geschickt?"
„Niemand…" sagte Harry und machte ein verständnisloses Gesicht. „– Professor", fügte er eilig hinzu.
„Uns hat niemand geschickt, Professor", wiederholte Hermine. „Hätte uns jemand schicken sollen?"
Sich schwer auf die Krücken stützend schüttelte Snape den Kopf und machte eine unwillige Handbewegung. „Nein", antwortete er knapp. „Sonst noch etwas? Ja, Mr. Weasley?" fragte er, während er versuchte den Schweißfilm zu ignorieren, der sich in der Zwischenzeit auf seiner Stirn gebildet hatte. Es stand dem hochgewachsenen, schlaksigen Rotschopf ins Gesicht geschrieben, dass er noch etwas vorbringen wollte. Und je schneller er dies tat, desto schneller konnte Snape die Bälger wieder aus seiner Wohnung werfen.
„Wie… wie geht es Ihnen, Professor Snape?" stammelte Ron, während sein Gesicht so rot glühte, dass nicht einmal mehr eine einzige Sommersprosse auszumachen war.
Für einen kurzen Moment glaubte Snape, sich verhört zu haben. „Mr. Weasley…" begann er in gefährlicher Tonlage, aber das sarkastische Lächeln, das begonnen hatte, seine Lippen zu umspielen, erstarb wieder. Er fühlte sich so müde. Dass sich die drei gerade diesen Zeitpunkt ausgesucht hatten, um ihr offensichtlich plötzlich erwachtes Mitgefühl zu plakatieren, erschien ihm fast wie ein weiterer, zynischer Schicksalsschlag.
„Es geht den Umständen entsprechend, Mr. Weasley", sagte er so ruhig als möglich. „Ihre Entschuldigung ist akzeptiert. Bitte gehen Sie jetzt."
So schnell, wie die Schritte der drei Gryffindors im Eingang und zur Tür hinaus verhallten, rückte auch die ersehnte Sitzgelegenheit wieder näher – und als sich Snape schließlich langsam auf seinem Sessel niederließ, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. Es tut ihnen leid, dachte er kopfschüttelnd, während ihm die Predigt der Medihexe erneut in den Ohren klang. „Hm", brummte er nachdenklich in sich hinein, während er begann, gedankenverloren seinen noch immer viel zu mageren Oberschenkel zu kneten.
Beim Mittagessen mit Kingsley, der kurz darauf auch eintraf, erwähnte der Tränkemeister den Besuch der Schüler nur beiläufig, und auch sein Freund hatte sich scheinbar dazu entschlossen, die Ausführungen Snapes nur mit einem Lächeln zu quittieren. Stattdessen betrieben sie leichte Konversation über Kingsleys erste Unterrichtsstunden und über das Faktum, dass die Schüler ihren neuen Lehrer wohl zu lieben schienen – eine kaum verwunderliche Tatsache, wie Snape nur mäßig überrascht feststellte.
„Heute Vormittag hatte ich die Hufflepuff-Erstklässler", erzählte Kingsley fröhlich, während er sich eine zweite Portion auf seinen Teller lud. „Wir haben die Zauberstabbewegungen geübt – goldig, sag ich dir! Kaum zu glauben, dass wir auch einmal so klein waren. Und so bemüht und arbeitsam sind sie – Pomona wird ihre Freude haben mit ihrem Neuzuwachs", fügte er hinzu.
„Die Freude wird wohl genau solange anhalten, bis sie ihre Schützlinge das erste Mal mit einem Zaubertrankrezept konfrontiert."
„Du bist ein unverbesserlicher Kinderschreck", grinste Kingsley kopfschüttelnd.
Der Tränkemeister kräuselte einen Mundwinkel. „Nun, wir werden ja sehen, wann die werte Pomona den ersten geschmolzenen Kessel vermeldet. Wetten werden noch angenommen."
„Ich wusste gar nicht, dass du eine Spielernatur bist, Severus."
„Bin ich auch nicht", antwortete Snape trocken und schob den geleerten Teller von sich.
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Nachdem ihn Kingsley wieder in Richtung seiner Nachmittagsstunden verlassen hatte, gönnte sich Snape eine kurze Mittagsruhe und – ein wenig widerwillig – einen Stärkungstrank, denn er hatte vor, vor dem Treffen mit Madam Sprout in seinem Labor nach dem Rechten zu sehen. Zum Glück lag sein privater Arbeitsraum direkt anschließend an das Klassenzimmer für die Zaubertränkestunden, welches sich nur unweit seiner Wohnung auf derselben Etage der Kerker befand.
Snapes Mundwinkel zuckte, als er die Labor-Inventarliste in der Innentasche seiner Robe verstaute, und dann nach den Krücken griff. Wenigstens war zu erwarten, dass zumindest die Kerkergänge zur Zeit des Nachmittagsunterrichts relativ leer waren, dachte er, als er sich zum Eingang wandte und nach einem tiefen Atemzug die Tür öffnete. Ein Schwall kühler, vertraut riechender Luft hieß ihn willkommen, als er über die Schwelle trat und leise die Tür hinter sich schloss. Kein Geräusch war im Kerkergang zu hören, als Snape zufrieden nickte und sich in Richtung seines Büros aufmachte.
Klonk… Klonk… Klonk…
Entnervt hielt der Tränkemeister schon nach wenigen Schritten wieder inne und stierte böse auf die hölzernen Krücken hinab, die seine einst katzengleich-schleichenden Bewegungen nun in ein Trollgetrampel verwandelten, das wie ein Schwert durch die friedliche Stille schnitt. Er verengte die Augen und griff nach seinem Zauberstab.
„Absorbe Sonitum", murmelte er, und während sich ein Lichtschimmer um die Fußteile der Krücken legte und langsam in das Holz einsickerte, verzog sich sein Mund zu einem selbstzufriedenen Lächeln. Wenn er schon nicht die Anmut seiner Bewegungen zurückerlangen konnte, hören konnte man das Gepolter von nun an nicht mehr, dachte er.
Langsam, aber stetig humpelte Snape seinem Büro näher, das nur mehr eine Gangbiegung entfernt lag. Zufrieden über seine nunmehr geräuschlose Fortbewegung ging er in Gedanken die Liste der Tränke durch, zu deren Modifikation Bergamotteschale oder –öl in Betracht gezogen werden konnten. Er bog um die Ecke und …stieß mit voller Wucht gegen etwas sehr Kleines, das ihn so gefährlich aus dem Gleichgewicht brachte, dass er sich gerade noch geistesgegenwärtig an der Mauerkante abfangen konnte, um einen Sturz zu vermeiden. Mit einem lauten Krachen fiel eine seiner Krücken zu Boden und er keuchte vor Schreck, als er sich mit verkrampfter Hand an der Mauer abstützte. Sein Blick fiel auf eine Schülerin, die mit offenem Mund und schreckgeweiteten Augen zu ihm aufsah.
„B… bitte entschuldigen S… Sie!" stammelte das am ganzen Körper zitternde Kind, das Snape als Ravenclaw erkannte – offenbar eine Erstklässlerin. „Bitte entschuldigen Sie", wiederholte sie quiekend.
Snapes Körper bebte vor Schreck und der Anstrengung, sich an dem Mauervorsprung festzukrallen. Schwer atmend blickte er die Schülerin aus verengten Augen an. „Sollten Sie nicht im Unterricht sein?" fragte er bedrohlich, während sein Blick zu der am Boden vor ihm liegenden Krücke wanderte. Er fragte sich verzweifelt, wie in Merlins Namen er diese erreichen sollte, bevor ihn die Kräfte verließen. Sein Zauberstab steckte in der Ärmeltasche, aber wenn er den Mauervorsprung losließ…
„Ich… ich musste auf die Toilette, …Sir." Das Mädchen machte ein Gesicht, als würde es jeden Augenblick in Ohnmacht fallen.
„Geben Sie mir die Krücke", zischte der Slytherin.
Scheinbar wie in Zeitlupe beugte sich das zitternde Kind nieder und ergriff die Krücke, während Snape schön langsam die Stirn feucht vor Schweiß wurde. Zögernd richtete sich die Schülerin auf und hielt dem Professor die Krücke hin, ihre Augen unter seinem finsteren Blick verschreckt niedergeschlagen.
„Es tut mir leid, Professor", flüsterte sie, während Snape – innerlich mehr als erleichtert – vorsichtig nach dem Gehbehelf griff und ihn wieder unter seiner rechten Achsel platzierte.
„Sollten Sie mir noch einmal negativ auffallen, wird es Ihnen noch viel mehr leid tun, Miss…"
„…Davitt, Professor", antwortete das Kind zerknirscht.
„Nun, Miss Davitt", sagte Snape. „Ich schlage vor, Sie begeben sich jetzt auf die Toilette und mir aus den Augen – und das flott."
„Ja, Professor Snape", flüsterte die Kleine und entfernte sich in Richtung der Mädchentoilette, ohne es zu wagen, sich noch einmal umzudrehen.
Der Tränkemeister seufzte leise und stützte sich schwer atmend auf die Krücken. Wenn ihn schon ein Voldemort nicht ins Grab gebracht hatte – diese unmöglichen Bälger würden es mit Sicherheit einmal schaffen, dachte er und machte sich langsam weiter auf den Weg zu seinem nahen Büro.
Nachdem er den dunklen Raum betreten hatte, öffnete er zuallererst das kleine Fenster, um den stechenden Geruch zu vertreiben, der ihm schon beim Öffnen der Tür ins Gesicht geschlagen war. Irgendeine Tränkezutat musste während seiner langen Abwesenheit schlecht geworden sein, dachte er ein wenig verärgert. Seine geschulte Nase erkannte sogleich den Schuldigen – eine eingelegte Kappaniere, deren luftdichte Abdeckung offensichtlich schadhaft geworden war. Mit einem Schwenk seines Zauberstabs entfernte er das stinkende Etwas und fächelte ein wenig unbeholfen mit der Hand in der Luft – in der Hoffnung, den Gestank schneller zu vertreiben. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und ließ nacheinander verschiedene Einmachgläser und andere Behälter heranschweben, um deren Inhalt zu kontrollieren. Aus dem angrenzenden Klassenraum drangen leises Gemurmel und vereinzelte gedämpfte Geräusche. Es ist verdächtig ruhig, dachte der Tränkemeister und konzentrierte sich weiter auf seine Inventur. Nach Glas Nummer 76 (Ginsengwurzel in Spiritus) ließ ihn ein lauter Knall aufschrecken, der sogleich ein höhnisches Lächeln auf sein Gesicht zauberte. Tumultartiges Getöse brach auf der anderen Seite der Tür aus. Na also…
Nach einer Stunde Arbeit und dem Katalogisieren von 189 Objekten war Snapes Inventur komplett, und er ging ein letztes Mal seine Liste durch, zufrieden mit sich selbst. Die Veränderung des Geräuschpegels auf der anderen Seite der Tür verriet ihm, dass auch die Zaubertränkestunde vorüber zu sein schien, und so erhob er sich schwerfällig, um zu Madam Sprout hinüberzugehen.
Er wartete, bis das Plappern der aus dem Klassenzimmer hinausströmenden Halbwüchsigen ein wenig verebbt war und öffnete dann die Tür. Madam Sprout war gerade dabei, ihre Notizen zusammenzupacken, als sie ihn erblickte.
„Ah, Severus! Schön dich zu sehen!"
„Pomona", grüßte Snape höflich zurück. „Wie lief deine Stunde? Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?" fragte er mit unschuldiger Miene.
„Nichts erwähnenswertes", antwortete Madam Sprout. „Nur kleinere Sachen."
Und eine Explosion, dachte der Tränkemeister insgeheim.
„Allerdings muss ich wohl noch ein wenig frischen Koriander ernten", merkte die Hufflepuff belustigt an. „Einer meiner Schützlinge hat sich in der Menge vergriffen, was seinem Kessel nicht besonders wohl getan hat."
„Es ist mir nicht entgangen. Scheint eine kräftige Gemüsesuppe gewesen zu sein."
„Ach, das ist doch nicht weiter schlimm", lachte Madam Sprout. „Kessel kann man ersetzen."
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, wobei die ältere Hexe geduldig langsam neben Snape herschlenderte.
„Wie geht es dir denn mittlerweile, Severus?" fragte sie ernst. „Mit den Krücken scheint es ja schon ganz gut zu funktionieren, oder?"
„Nunja – man übt", antwortete Snape und verzog das Gesicht. „Und Poppy gibt ebenfalls ihr bestes."
Gegen das hier kann allerdings nicht einmal Poppy etwas ausrichten, dachte Snape, als sie an einer Treppe ankamen, die sich in endlos erscheinenden Höhen verlor. Madam Sprout schien das Problem erkannt zu haben, denn sie legte ihm sanft ihre Hand auf die Schulter.
„Langsam, Severus", sagte sie leise. „Wir haben keine Eile."
Und langsam in der Tat erklommen sie die Treppe, Stufe für Stufe, und als sie oben angekommen waren, stieß Snape einen verhaltenen Seufzer der Erleichterung aus. Zum Glück war der Ausgang zu den Gewächshäusern nicht mehr weit und der Weg dorthin eben.
„Es sind zwei schöne, große Früchte", sagte Madam Pomfrey, als sie die Tür zum Gewächshaus öffnete. Sie traten über die Schwelle und tauchten ein in die warme, feuchte und nach Erde und Pflanzen duftende Luft. Von Zeit zu Zeit beneidete Snape die Kräuterkundelehrerin sogar ein wenig um ihren angenehmen Arbeitsplatz – vor allem im Winter.
„Die Bergamottebäumchen sind ganz hinten links", sagte Madam Sprout und deutete die Richtung mit der Hand. „Ich werde inzwischen den Koriander holen."
Snape humpelte in den hinteren Teil des Gewächshauses, wobei er sich bemühte, einigen der sensibleren Pflanzen auszuweichen, die in den schmalen Weg hineinhingen. Die Früchte an den Bäumchen waren tatsächlich schon reif, wie er nach einem leichten Daumendruck auf die Schale erfreut feststellte. Er pflückte die erste und wog sie in der Hand. Und groß waren sie auch – zu groß, denn die Frucht passte nicht in die Tasche seiner Robe. Und nachdem seine Hände anderwärtig gebunden waren… Nach kurzer Überlegung zog er seinen Zauberstab und verhexte die Früchte, sodass sie knapp hinter seinem Rücken herschwebten.
„Du bist dir hoffentlich dessen bewusst, dass das etwas seltsam aussieht, Severus?" grinste Madam Sprout, als Snape wieder bei ihr auftauchte, die beiden Bergamottefrüchte hinter sich in der Luft auf und ab schwebend.
Snape machte ein unschuldiges Gesicht. „Ein Professor für Zaubertränke mit zwei schwebenden Früchten? Wieso?"
Madam Sprout lachte und griff nach ihrem Körbchen voller Korianderblätter. „Komm, gehen wir, Severus", sagte sie kichernd. „Die Luft hier scheint dir nicht wohl zu bekommen – sie macht dich ungewöhnlich humorvoll."
„Hm", brummte der Slytherin. Humorvoll… Der erste Schüler, der es wagen würde zu lachen, würde dies auf der Stelle bitter bereuen, dachte er, während er hinter Madam Sprout wieder ins Freie trat und einen finsteren Blick aufsetzte.
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Anmerkungen:
Das, was ich im letzten Kapitel befürchtet habe, ist eingetroffen – die Kinderlein sind tatsächlich eher „negativ" aufgenommen worden – zwar glaubwürdig (was mich unheimlich freut, muß ich zugeben), aber doch irgendwie „negativ". Ich hoffe allerdings, dass sie mit diesem Kapitel rehabilitiert wurden ;-).
absorbere: dämpfen, absorbieren ;-)sonitus: Geräusch, Lärm
leynia: Vielen Dank wieder einmal für deine lieben Worte – er wird eh schön langsam gesund, hehe ;-)
Honigdrache: hehe… jaaa, der Frühling is daaa! (Blümchen geb)
Ermione: Ja, ich befürchte, ich kann mich auch nur wiederholen, wenn ich dir da jetzt einfach wieder einmal danke für dein wunderbares Review!
Mirja: (Schokofrosch mampf) Danke für deine lieben Reviews! Die Updates kommen zur Zeit leider etwas schleppend, weil ich ein bisserl durch die Uni abgelenkt bin ;-).
Malina: Es freut mich unheimlich, dass dir dieser kleine Hinweis zur „Barrierefreiheit" aufgefallen ist. Das war nämlich genau so beabsichtigt und ich stimme dir da voll und ganz zu. Schade, dass man im Zuge einer Fanfiction dieses Problem im Endeffekt auch nur anreißen kann. Vielen Dank für deine lieben Reviews, es freut mich sehr, dass dir die Fic noch immer gefällt!
anonymus: Vielen Dank erst einmal für dein Kommentar! Ich bedaure es ein bisserl, dass du deine Emailadresse nicht angegeben hast, denn ich hätte dir gerne auch persönlich geantwortet (das würde hier nämlich den Rahmen sprengen). Erstens einmal schmeichelt es mir, dass du meine Geschichte gelesen hast, obwohl du keinen H/C magst (warum du es getan hast, bzw. ob sie dir gefallen hat, hast du allerdings nicht gesagt, also nehme ich da einmal das Schlimmste an ;-)). Zweitens: Ich weiß was du bzgl. Prothese meinst, und ich werde diese betreffende (irreleitende) Textpassage bei der Schlussüberarbeitung ändern. Vielen Dank, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast. Ich habe nämlich weder vor, Severus eine Prothese, noch ihm auf magische Weise ein neues Bein zu verpassen – zumindest nicht im Zuge dieser Geschichte (was er nach dem Epilog macht, das bleibt natürlich der Phantasie der geschätzten Leserschaft überlassen). Mir ist klar, dass man an diese Geschichte nicht einen orthopädisch-medizinischen Korrektheitsmaßstab anlegen kann, es ist und bleibt eine Fanfiction (einer Nicht-Medizinerin, die sich zwar in die Materie eingelesen hat, aber dennoch Laie ist und bleibt), in der natürlich so einiger Spielraum für Interpretationen ist (jetzt einmal abgesehen davon, dass mir andere Aspekte in der Geschichte wichtiger sind). Ich interpretiere das ganze ein wenig anders als du – nämlich dass eine Gesellschaft (und schon gar nicht Snape, den ich noch einmal für extra-konservativ halte), die nicht einmal die naheliegendsten Muggelerfindungen wie Kugelschreiber und Papier übernimmt, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht wirklich auch nur einen Gedanken daran verschwendet, über „Sportprothesen" zu recherchieren (auch und vor allem unter diesem Aspekt ist mein Lapsus im 6. Kapitel noch gravierender, und den werde ich auf jeden Fall ausbessern – vielen Dank noch einmal, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast). Und Moody ist (für mich zumindest) der lebende Beweis dafür, dass eben nicht alles mit Magie geheilt werden kann. Ich hoffe, du verstehst, was ich meine und verzeihst mir diesen Interpretationsspielraum (und die eine oder andere medizinisch-orthopädische Ungenauigkeit). Oje, jetzt hat das doch ein wenig den Rahmen gesprengt… Vielleicht möchtest du mir doch ein Mail schreiben, falls du noch Einwände hättest:)
Persephone Lupin: Naja, so schnell geht's mit dem Unterrichten noch nicht – aber keine Sorge, kommt alles noch ;-).
Elea: Yay, das is gleich viel praktischer, hehe! ;-) Vielen Dank für dein Review!
Mariacharly: An deinen neuen Namen muß ich mich auch noch gewöhnen… ;-) Dein tolles Review hat mir wieder einmal unheimlich viel Freude bereitet, danke! Du hast alles genauso interpretiert, wie ich es gemeint habe, das tut unheimlich wohl… :)
