Unvorhergesehenes Treibgut

„Heather! Siehst du das?"rief Mr. Miller aufgeregt und zeigte auf etwas, das aussah, wie die Bordwand eines Schiffes.

Heather erwachte aus ihrem Tagtraum und sprang auf der Reling. Sie hielt sich an einem Tau fest und lehnte sich weit hinaus, um besser durch den dichten Nebel sehen zu können, doch selbst als sie die Augen zusammenkniff, sah sie nicht mehr.

Der Steuermann war durch das Geschrei nun auch wach geworden und eilte herbei. Zu dritt sahen sie die Planken immer näher kommen, bis sie schließlich gegen ihre Schaluppe schlugen.

„Was ist hier bloß passiert?"fragte Mr. Miller nachdem immer mehr Teile eines Segelschiffes gegen ihres gespült wurden.

„Dark Brown!"sagte Heather leise, aber voller Verachtung. Sie waren also auf dem richtigen Weg.

Durch ihre Neugier kamen immer mehr Männer an Deck, um selbst zu sehen, warum alle in so großes Staunen versetzt wurden.

Nach einer Weile drängte sich Luna nach vorne. Sie war gerade erwacht und noch nicht richtig da, als sie sich neben ihre Freundin stellte

„Was ist hier denn los?"fragte sie mürrisch und starrte auf das angeschwemmte Holz.

„Ich denke, Dark Brown hat wieder ein Schiff platt gemacht, als es ihm in den Weg kam!"erwiderte Heather und fügte hinzu: „Du siehst furchtbar aus!"

Doch ehe Luna etwas erwidern konnte, wurden die Stimmen der Männer, die am Bug standen lauter.

„Was ist los?"rief Luna ihnen zu und lief nach vorne.

„Wie es aussieht, gibt es einen Überlebenden!"berichtete John B. Luna.

„Dann laßt uns mal nicht herzlos sein und holt ihn heraus. Ich möchte nicht wissen, wie lange er schon im Wasser ist!"sagte sie und band sich ihre Haare mit einem Band zusammen.

Elliott und Heather beobachteten das Geschehen aus der Entfernung. Es halfen schon genug Männer mit und sie wollten nicht im Weg stehen, doch als der schiffbrüchige auf dem Deck lag und alle um ihn herumstanden, wurde auch Heather neugierig und schob sich durch die Männer durch.

Sie quetschte sich gerade zwischen den letzten beiden hindurch, als ihr vor Schreck der Mund offen stehen blieb.

„Das kann nicht sein!"rief sie und sofort wurde ihr Platz gemacht, damit sie zu Luna gehen konnte.

„Sie?"rief sie entsetzt, als sie erkannte, wen sie gerade aus dem Wasser gezogen hatten.

„Du kennst ihn?"fragte Luna und sah sie mißtrauisch an.

Vor ihr saß, etwas außer Atem und naß bis auf die Haut, der Sohn des zukünftigen Gouverneurs von Jamaika.

Sobald er Heather erkannt hatte, stand er auf und wollte gerade etwas sagen, als Elliott sich durch die Menge schob und bei dem Anblick seines ehemaligen Chefs wie erstarrt stehenblieb.

Keiner wußte so recht, was er sagen sollte, bis Heather die peinliche Situation auflöste.

„Mister Turner, ich weiß zwar nicht, was Sie hierher führt, aber wir bitten Sie höflichst unser Schiff auf dem schnellsten Weg wieder zu verlassen, wenn es Ihnen nichts ausmacht!"sagte Heather übertrieben freundlich, obwohl ihr danach war diesem aufgeblasenen Menschen eine Ohrfeige zu verpassen. Immerhin war es seine Schuld, daß ihr Säbel nun in den Händen von Dark Brown war.

„Miss Adams, wenn ich nicht irre. Mich führt ein Angriff des gefürchtetsten Piraten auf ihr Schiff und ich wäre bereit das Schiff der Royal Navy zu dem schnellstmöglichen Zeitpunkt zu verlassen", erwiderte er kalt.

„So? Ich wußte gar nicht, daß mein Vater wieder zur See fährt!"rief Luna und die Mannschaft lachte, mit Ausnahme von Heather.

„Jetzt Spaß beiseite, da wir uns alle gerade vorstellen, ich bin Luna Sparrow. Zurzeit der Käptn dieses Schiffes. Darf ich Ihnen eine Kajüte anbieten, damit Sie ihre nassen Sachen loswerden?"

Matthew Turner zuckte bei ihrem Namen unmerklich zusammen, fing sich dann jedoch sofort wieder. Er ging den Weg, den Luna ihm wies, ehe sie ihm folgte. Heather warf sie nur noch einen auffordernden Blick zu.

„Was macht der denn jetzt hier!"rief Heather aufgeregt und lief immer wieder über das Deck.

Der Kreis, der sich um den Schiffbrüchigen gebildet hatte, verschwand mit der Zeit, bis nur noch Elliott neben ihr stand.

„Was kann er dafür, daß Dark Brown ihn angreift!"versuchte Elliott seine Freundin zu beruhigen.

„Was kann er dafür? Alles! Warum kann er nicht morgen oder übermorgen angegriffen werden? Dann wären wir nicht hier, um ihn aufzusammeln! Er wird uns alle ins Gefängnis bringen. Er hat erkannt, daß wir das Schiff gekapert haben und er versteht sicher keinen Spaß! Außerdem ist er eine richtige Landratte. Er wird uns nur auf die Nerven gehen und ich sehe meinen Säbel nie wieder!"schimpfte Heather.

„Am besten bringen wir ihn gleich um!"rief sie plötzlich, zog den Degen und stürmte in Richtung Kajüten davon, doch Elliott hielt sie zurück.

„Geh ihm am besten aus dem Weg. Es wird sich alles schon einfinden und ich bin sicher, daß du irgendwann deinen Säbel wiederbekommst, aber werde nicht wegen so einer kleinen Sache zum Mörder!"bat er Heather und widerwillig steckte sie den Degen wieder weg.

„Danke", sagte sie nach einer kurzen Pause.

„Wofür?"

„Dafür, daß du mich immer davon abhältst blöde Dinge zu machen."

„Dafür sind Freunde doch da, oder?"

Heather umarmte Elliott kurz, ehe sie sich wieder zu ihrem neu entdeckten Lieblingsplatz, auf der Reling am Heck, begab.

Die Sonne ging gerade auf und kämpfte mit dem Nebel der vergangenen Nacht.

„Mister Turner, es ist ihnen sicher klar, daß wir keine Rücksicht auf sie nehmen können und daß sie sich den Begebenheiten an Bord anpassen müssen, solange sie hier sind", erklärte Luna Matthew, nachdem er sich trockene Sachen angezogen hatte.

Er trug nun Kleidung der Soldaten der Royal Navy, die sie in einigen Schränken gefunden hatten. Gemeinsam saßen sie nun in der Kapitänskajüte und aßen Frühstück.

Matthew hatte Luna bereitwillig Auskunft über den Angreifer gegeben.

Nach seiner Erzählung wurde das spanische Handelsschiff, das sich auf der Überfahrt nach Port-of-spain befand, am frühen Abend des vorigen Tages angegriffen und schnell eingenommen. Die Mannschaft war nicht für eine Eroberung ausgebildet und konnte sich nur schwer wehren. Er selbst war in seiner Kabine gewesen, als die Wand von einer Kanonenkugel zerfetzt wurde und er nicht mehr an Deck gelangen konnte.

Er hörte jedoch, wie das gesamte Schiff durchsucht wurde, sie jedoch nicht in seine Kajüte kamen. Als das Schiff sank, sprang er durch das Loch in der Außenwand ins Wasser und hielt sich an dem Holz fest, bis er von der Glourious aufgenommen wurde. Matthew erzählte, daß auch sie schon einige Wracks auf ihrer Überfahrt gesehen hatten, jedoch keine Überlebenden fanden.

„Das ist sehr interessant! Dark Brown sucht wohl etwas", sagte Luna und überlegte.

„Was für Ladung war an Bord?"fragte sie ihn nach kurzer Zeit.

„Ich weiß nicht. Vielleicht Stoff und Leinen, einige Krüge voller getrockneter Blüten, aber sonst nichts von Wert."

„Und warum hat Dark Brown das Schiff angegriffen und versenkt?"fragte sie eher sich selbst, als Matthew.

„Weil er mich sucht!"sagte Heather, die auf einmal in der Tür stand. Sie hatte schon eine ganze Weile unbemerkt dort gestanden und zugehört.

„Warum meinst du, daß er dich sucht?"fragte Luna ihre Freundin, lehnte sich nach hinten und legte ihre Füße auf den Tisch.

„Er hat den Säbel erkannt. Deshalb sucht er mich, denn er würde nicht jedes Schiff, daß seinen Weg kreuzt durchsuchen lassen. Es ist ein großes Risiko für ihn dabei, doch er geht es ein", erklärte Heather ihre Idee und setzte sich auf einen Sessel, der neben dem Fenster stand.

„Du meinst, er dreht den Spieß um?"fragte Luna verunsichert.

„Welchen Spieß umdrehen?"mischte sich nun Matthew ein, doch er wurde von den beiden überhört.

„Er muß den Säbel kennen! Morgan hat ihren Onkel umgebracht und damit die Morde an ihren beiden anderen Onkeln und an ihrem Vater gerächt."Sie machte eine kurze Pause. „Ihr Onkel war sein Vater!"eröffnete sie Luna schließlich die Nachricht.

Davon war Luna überrascht, daß sie sich erst einmal sammeln mußte.

„Davon wußte ich nichts!"sagte sie enttäuscht.

„Ja, ich weiß. Ich habe es niemandem erzählt, aber es ist so. Er wird sich für den Tod an seinem Vater bei mir rächen wollen, weil ich der einzige Nachkomme von Morgan bin."

„Meinen Sie Morgan Adams? Die Piratin?"fragte Matthew aufgeregt, wurde aber durch ein einstimmiges Tsch der beiden Mädchen zum Schweigen gebracht.

„Aber er weiß noch nicht, daß wir hinter ihm her sind, oder?"fragte Luna.

„Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Ich habe keine Ahnung, was in seinem Kopf vorgeht."

„Was werden Sie nun unternehmen?"fragte Matthew plötzlich.

„Herr Gott noch mal! Woher sollen wir das wissen! Es ist das erste Mal, daß wir eine Schaluppe gekapert und Jagd auf einen der berüchtigtsten Piraten der Karibik machen", rief Heather genervt und stieß ihn, als sie aus der Kajüte stürmte, grob aus dem Weg.

An Deck mußte sie ihrem Ärger erst einmal Luft verschaffen. Elliott kam ihr entgegen und fragte sie besorgt, was passiert sei, doch sie winkte ab.

„Es ist nichts!"sagte sie und versuchte ihren Ärger unter Kontrolle zu bringen.

„Du bist auf hunderachtzig und ich soll dir glauben, das nichts passiert ist? Dafür kenne ich dich schon zu lange Heather", sagte er liebevoll. Er legte den Arm um sie und führte sie von der Crew weg, die sich bereits köstlich über Heathers Wutausbruch amüsierten.

„Kaum ist dieser...dieser Kerl auf dem Schiff, schon mischt er sich in unsere Angelegenheiten ein! Er wird uns sicher alle gefangen nehmen lassen, wenn wir alles überstanden haben. Er ist ein aufgeblasener Schnösel. Ich hasse solche Leute!"

„Ich bin sicher, bei euch beruht das auf Gegenseitigkeit", sagte Elliott, brach dann aber ab, als Heather ihn mit hochgezogener Augenbraue ansah.

„Das brauche ich jetzt wirklich nicht. Du solltest mich in meiner Meinung unterstützen!"

„Heather, ich habe für ihn gearbeitet und fand ihn immer sehr nett. Eure Bekanntschaft hatte einen etwas schwierigen Anfang, aber vielleicht wird er sich uns anschließen?"

„Bist du verrückt? Der Kerl kann sicher nicht einmal mit einem Säbel umgehen!"rief Heather aufgebracht.

„Da haben Sie nicht ganz unrecht, Miss Adams", sagte plötzlich eine Stimme hinter den beiden.

Erschrocken drehten sich Heather und Elliott um und entdeckten Matthew, der ohne ein Geräusch bis zu ihnen gekommen war.

„Ich habe einen sehr guten Lehrer gehabt und kann sicher sehr gut fechten, obwohl ich zugeben muß, daß ich mit Waffen der Piraten, wie dem Entermesser oder dem Säbel, bisher wenig Erfahrung hatte."

„Wie wäre es, Mister Turner, wenn Heather ihnen einige Tricks beibringt? Sie hat den Umgang mit Waffen einfach im Blut", sagte Elliott auf einmal.

Heather wollte gegen seinen Vorschlag protestieren und verzog das Gesicht, doch Matthew kam ihr zuvor. Er lehnte dankend ab und nachdem er außer Hörweite war, begann Heather mit ihrem besten Freund zu schimpfen.

„Bist du jetzt völlig durchgeschnappt? Ich soll ihm etwas beibringen? Ich schulde ihm überhaupt nichts mehr. Wenn, dann ist es umgekehrt. Wäre ich nicht gewesen, wäre er jetzt tot!"zeterte sie und ließ ihren Freund alleine auf der Reling sitzen.

„Was hast du?"fragte Luna, als Heather ihr entgegen kam und gerade in die Kapitänskajüte verschwinden wollte.

„Dieses Schiff wird von Verrückten beherrscht. Elliott wollte, daß ich Mister Turner Unterricht im Umgang mit Piratenwaffen geben sollte!"

„Etwas Übung würde dem feinen Herrn nicht schlecht tun, denke ich. Wenn es hart auf hart kommt, dann brauchen wir jeden Mann", sagte Luna beschwichtigend.

„Ich weiß."

Sie standen sich kurz schweigend gegenüber, ehe Heather fragte: „Hast du Hunger? Ich sterbe fast, obwohl ich heute morgen etwas Obst gegessen hatte."

„Du kennst mich. Ich könnte immer und überall etwas essen!"sagte Luna.

„Dann laß uns mal auf die Suche nach etwas eßbarem gehen", rief Heather fröhlich und lief an ihrer Freundin vorbei, hinunter in den Ladungsraum des Schiffes.

Dort befanden sich schwere Fässer voller Köstlichkeiten und sogar einige Kisten mit Weinflaschen. Luna nahm sich gleich drei mit, doch Heather nahm ihr zwei wieder aus der Hand.

„Wir brauchen einen Käptn der nicht stockbesoffen ist!"

Außerdem fanden die zwei noch getrocknetes Brot und Pökelfleisch. Sie schleppten die Kostbarkeiten wieder in die Kapitänskajüte und begannen zu essen.

Gerade als Luna den ersten Bissen machen wollte, wurde sie an Deck gerufen. Heather folgte ihr mit einem Stück Brot in der Hand.

„Was ist!"fragte Luna leicht gereizt, denn immer wenn sie beim Essen gestört wurde, war sie schlecht gelaunt.

„Käptn! Dort am Horizont!"rief Jonny B. und reichte ihr das Fernrohr.

Luna suchte den Horizont ab, bis sie entdeckte, warum soviel Unruhe herrschte.

„Setzt die Großsegel!"rief sie ihre Befehle und gab den neuen Kurs an.

Währenddessen hatte sich Heather das Stück Brot in den Mund gesteckt, um beide Hände frei zu haben. Sie nahm Luna das Fernrohr ab und sah hindurch.

„Ein Zweimaster, ein sehr schneller Schoner, bewaffnet mit acht, vielleicht zehn Kanonen."Sie setzte ab und sah Luna an.

„Du nimmst nicht Kurs auf Dark Brown!"sagte sie.

„Was?"

„Das ist nicht Dark Brown! Er hat einen Dreimaster und mehr als dreißig Kanonen. Das könnte Death Jack Lang sein", sagte Heather.

„Was du alles weißt", mischte sich Elliott ein, doch Luna überlegte stark, was sie machen sollte. Entweder müßten sie sehr schnell aus der Sichtweite des anderen Piraten verschwinden, aber dann hätte Dark Brown einen großen Vorsprung bekommen oder sie würden sich auf ein Gefecht einstellen, bei dem sie garantiert mit ihrer Schaluppe den Kürzeren gezogen hätten.

„Halt Abstand", sagte Heather. „Mein Säbel ist es nicht wert, daß wir gleich am ersten Tag auf See in ein Gefecht geraten."

„Vielleicht haben wir Glück und er hält es nicht für nötig uns anzugreifen", mischte sich Elliott ein.

„Hoffen wir, daß er weiß, daß bei uns nichts zu holen ist!"sagte Heather.

Gespannt wartete die gesamte Crew ab, was einer der brutalsten Piraten der Weltmeere machen würde.

„Wir haben diesmal noch einmal Glück gehabt!"rief Jonny B. nachdem Death Jack Lang mit seinem Schiff außer Sichtweite gesegelt war.

„Woher weißt du eigentlich noch so viel über die Piraten?"fragte Luna Heather. „Ich dachte, du hättest die Piraterie an den Nagel gehängt!"

„Habe ich auch vor langer Zeit, doch einmal in diesem Metier, kommt man nicht mehr davon los", sagte Heather traurig.

Luna wußte, daß sie ein heikles Thema für Heather angeschnitten hatte, doch ganz verdrängen wollte sie es auch nicht und sie wollte Heather dabei helfen, es zu meistern.

Die Crew war nun schon wieder ihrer normalen Tätigkeit nachgekommen, während der selbsternannte Koch, Storc, an Deck etwas kochte, wobei den meisten Crewmitgliedern schon zu Beginn nur durch den Geruch schlecht wurde.

Heather und Luna verschwanden wieder unter Deck, nachdem er zu kochen angefangen hatte.

„Das ist ja furchtbar!"rief Heather, als sie in der Kapitänskajüte waren und sich genüßlich über ihre zuvor geholte Beute hermachten.

„Es hat schon was gutes, wenn man Käptn ist!"sagte Luna mit vollem Mund. Sie biß herzhaft von der Brotkruste ab und kaute auf ihr herum.

„Hast du dir schon Gedanken gemacht, was wird, wenn wir dieses Himmelfahrtskommando überstehen?"fragte Luna.

„Ich habe keine Ahnung!"sagte Heather betont langsam und sah ihre Freundin an. Sie war in ihrem Element, sie liebte das Meer und würde alles dafür geben ewig dort bleiben zu können, aber sie selbst?

Die Suche nach ihrem Säbel war eigentlich nur eine Flucht vor ihrem Leben. Bisher hatte sie nie ruhig schlafen können, da sie bei dem kleinsten Geräusch die Soldaten der britischen Armee herbeiahnte.

„Aber du wirst ziemlich viel Ärger kriegen!"sagte Heather.

„Ja! Vielleicht sollten wir eine neue Ära einleiten. Wir beide könnten die alten Routen suchen und vielleicht kommen wir auch mal in Madagaskar vorbei!"rief Luna aufgeregt, doch Heather mußte über diesen Vorschlag nachdenken.

„Hey ihr beiden!"Elliott klopfte kurz an und steckte den Kopf durch die Tür.

„Ich denke ihr solltet nach oben kommen. Es sind ziemlich wichtige Dinge, die an Deck besprochen werden", rief er und war schon wieder verschwunden.

„Kann man denn gar nicht in Ruhe essen?"

Die beiden Mädchen ließen alles stehen und liegen und liefen Elliott hinterher. An Deck hatte sich eine Runde gebildet und in der Mitte wurde heftig diskutiert. Luna drängte sich durch die Männer und entdeckte den Übeltäter.

„Was ist hier los?"fragte sie wütend und stemmte die Arme in die Hüften.

„Käptn! Wir weigern uns diesen Fraß zu essen!"rief Mr. Miller und zeigte auf den Kessel, aus dem es gewaltig qualmte.

„Mr. Miller, ich weiß natürlich, das sie etwas besseres zu essen gewohnt sind, doch ich denke an diesem Zeug wird keiner sterben!"erklärte Luna und ließ sich einen Teller geben.

Die schleimig, braune Flüssigkeit sah schon sehr unappetitlich aus, doch als Luna einen Löffel voll gegessen hatte, spuckte sie es sofort wieder auf den Teller zurück und warf diesen in einem Anflug von Übelkeit im hohen Bogen hinauf aufs Meer, wo er in die unendlichen Tiefen des Ozeans verschwand.

„Furchtbar! Storc! Dafür müßten wir Sie eigentlich am Rahsegel aufhängen, doch ich gebe Ihnen noch einmal eine Chance", sagte sie.

Luna ging zu Heather, die weiter hinten geblieben war und sich das Schauspiel von dort aus angesehen hatte.

„Kann Elliott kochen?"fragte sie leise und als Heather zögernd nickte, war der neue Koch bestimmt. Elliott war über diese Aufgabe nicht sehr erfreut, doch er fügte sich der Anweisung und schon nach kurzer Zeit waren die knurrenden Mägen der Männer mit einer nahrhaften und besseren Suppe gefüllt.

Heather und Luna saßen zu dieser Zeit wieder in ihrer Kajüte und versuchten nun zum dritten Mal, auch etwas zu essen, als es erneut klopfte.

„Nicht schon wieder!"stöhnte Luna, doch als Matthew den Kopf durch die Tür steckte, hellte sich ihre Miene auf.

„Ach, Mr. Turner. Wie kommen wir zu dieser Ehre?"fragte sie und wies ihm einen Stuhl zu.

Heather stand demonstrativ auf und verschwand.

„Also, Mr. Turner, was gibt es?"fragte Luna.

„Ich würde gerne mit Ihnen über meine Freilassung sprechen", sagte Matthew.

„Aber, aber, Sie werden hier doch nicht festgehalten. Ich bitte Sie. Wir sind Piraten und keine Kidnapper!"entrüstete sich Luna. „Sie sind ein freier Mann, doch ich muß Ihnen sagen, daß wir keine Rücksicht auf Sie nehmen können, auch wenn sich unsere Eltern einmal kannten."

„Mein Vater hatte damals seine Gründe. Er ist danach sofort wieder..."

„Auf den Weg der Tugenden zurückgekehrt und ein wirklich langweiliger Mensch geworden!"unterbrach ihn Luna.

„Unterstehen Sie sich!"rief Matthew und stürmte aus der Kajüte. Als er die Tür hinter sich zuschlug hörte er Luna lachen. Sie schien sich köstlich amüsiert zu haben. Matthew wußte nicht genau, wohin er gehen sollte. Er suchte einen Ort, wo er ungestört sein konnte.

An Deck wurde Heather nicht gebraucht, da Elliott viel zu sehr mit seiner neuen Tätigkeit beschäftigt war. Sie suchte einen Platz auf diesem Schiff, wo sie unbedingt alleine war und wo sie sich erst einmal Gedanken über ihr weiteres Leben machen konnte. Luna wollte zusammen mit ihr durch die Weltmeere segeln. Es war ein herrlicher Gedanke, doch war sie wirklich für dieses Leben geboren? Würden sie sich nicht nach einiger Zeit streiten, denn auf dieser Fahrt hatte Heather nichts dagegen gesagt, als Luna der Käptn wurde, doch wie würde es sein, wenn sie eine neue Route einschlagen würden?

Heather brauchte unbedingt einen sehr ruhigen Ort, wo lange keiner nach ihr suchen würde. Sie dachte kurz nach und ihr fiel nur ein Ort ein: der Ladungsraum.

Zwischen den vielen Kisten und Fässer war wenig Licht und sie wurde sogleich müder. Sie war an diesem Tag sehr früh aufgestanden und hatte wegen der nächtlichen Attacken von Luna wenig geschlafen und nachdem sie endlich ein gemütliches Plätzchen gefunden hatte, fielen ihr auch schon die Augen zu.

„So ein verdammter....!"

Heather schreckte aus ihrem Schlaf hoch. Sie wußte zuerst nicht wo sie war, bis sie die vielen Kisten und Fässer sah. Schlaftrunken richtete sie sich auf und sah Matthew die Leiter herunterfallen.

Sie sprang auf und er entdeckte sie.

„Ich wußte nicht, daß Sie hier..."murmelte er verlegen und rappelte sich wieder auf.

„Nein, es ist...haben Sie sich etwas getan?"fragte sie besorgt, obwohl ihr mehr nach einem Lachanfall war, denn es sah ziemlich lustig aus, als sich Matthew in der Leiter verfing und vornüber fiel.

„Ich denke, ich werde dann mal wieder..."stotterte er weiter.

„Nein, ich war sowieso wach! Und ich wollte wieder nach oben gehen."

„Haben Sie auch einen ruhigen Platz gesucht?"fragte er sie.

„Ja, dieses Schiff bringt mich schon jetzt um. Ich..."Plötzlich brach sie ab. Erst jetzt fiel ihr auf, daß sie hier mit Matthew Turner, dem Mann, den sie eigentlich nicht ausstehen konnte, einen netten Plausch hielt.

Sie entschuldigte sich und zwängte sich an ihm vorbei die Leiter hoch.

Oben, im dämmrigen Licht des Ganges, atmete sie ein paar Mal heftig durch, ehe sie wieder klar denken konnte. Sie fühlte sich befreit und leicht. Mit beschwingten Schritten stieg sie die nächsten Stufen hinauf und entschied sich kurzfristig zu Elliott an Deck zu gehen. Dieser lag faul im Schatten der Segel und döste vor sich hin.

Es war erdrückend an Deck. Die Segel hingen schlaff hinunter und es ging kein Lüftchen. Sofort als Heather in die brennende Sonne trat, lief ihr der Schweiß den Rücken hinunter. Es mußte gegen Mittag sein, so daß sie wahrscheinlich drei bis vier Stunden geschlafen hatte, doch sie war immer noch nicht ganz wach.

Sie legte sich zu Elliott, der sie nur träge ansah und den Arm um sie legte.

„Was gibt's?"fragte er sie leise.

„Nichts", antwortete sie und schloß die Augen.

Elliott räusperte sich, bevor er weitersprach. „Was würdest du tun, um einem Menschen zu zeigen, daß du ihn magst?"fragte er sie.

„Ich weiß nicht! Vielleicht würde ich ihm etwas schenken. Einfach eine kleine Aufmerksamkeit, damit er mich erst einmal beachten würde, wieso?"

„Ach, nur so."

„Das glaub ich dir nicht!"sagte Heather und richtete sich auf. Sie sah ihm eindringlich in die Augen, bis er beschämt zur Seite sah.

„Sag nicht, daß es Luna ist!"Als er nicht antwortete, kannte sie die Antwort. „Elliott, bisher warst du ein angesehener Bürger, mehr oder weniger, aber du solltest dich nicht mit ihr einlassen. Ich weiß wovon ich spreche!"

Sie seufzte leise und sprach dann weiter. „Ihr kannst du natürlich nichts schenken. Das paßt nicht zu ihr. Hmm...am besten... Ich weiß es auch nicht. Darüber muß ich mir länger Gedanken machen."

„Meinst du, sie mag mich? Hat sie dir etwas gesagt?"fragte er sie aufgeregt.

„Nein, so genau, aber du bist unser Koch geworden!"

„Und das soll toll sein?"fragte er mißtrauisch.

„Immerhin hat sie an dich gedacht! Ich weiß auch nicht genau, was in ihrem Kopf vorgeht. Ich habe sie immerhin drei Jahre nicht gesehen!"

„Und ich dachte ihr wärt so gute Freundinnen!"

„Man kann eine sehr gute Freundin haben, auch wenn man sich nicht jeden Tag sieht. Es kommt nicht auf die Häufigkeit, sondern auf das Verhältnis an. Ich kann mich zum Beispiel immer auf Luna verlassen. Hat sie uns gefragt, warum wir gerade zu ihr gekommen sind oder hat sie auch nur einen Gedanken an sich verschwendet? Nein und warum? Weil ich mich auf sie verlassen kann und sie sich auf mich."

„Ist das anders als bei uns? Wir waren fast nie mehr als einen Tag getrennt!"

„Elliott, versteh doch. Es kommt nicht auf die Häufigkeit, sondern auf die Freundschaft an. Man kann sich jeden Tag sehen und beste Freunde sein und man kann sich drei Jahre nicht sehen und immer noch Freunde sein", erklärte es ihm Heather. Sie schüttelte kurz den Kopf, als er immer noch über ihre Worte nachdachte und legte sich wieder hin.