Frei wie ein Vogel, will ich fliegen

Gegen Abend wurde an Deck wieder herzhaft gegessen. Elliott hatte sich, obwohl er nicht gerade ein begnadeter Koch war, wieder übertroffen und es blieb kein Krümel über und Luna machte sich nun ernsthaft Sorgen über die Versorgung der Crew in den nächsten Tagen. Wahrscheinlich würden die Vorräte, die noch in den Lagerräumen waren, für zwei bis drei Tage reichen, doch wenn sie Dark Brown gegenüberstehen würden, wäre das wahrscheinlich ihre kleinste Sorge.
Sie hatte selbst das Steuer übernommen und hing ihren Gedanken nach, bis plötzlich Heather neben ihr stand. Sie hatte sich wieder die Hose und ein Hemd angezogen, so daß sie wie eine richtige Piratin aussah.
„Hey, wie geht es dir?" fragte Luna sie und rief nach Kenningham, der das Steuer wieder übernahm. Sie hakt sich bei Heather unter und gemeinsam gingen sie zum Bug.
„Es geht wieder. Nur meine Rippen schmerzen noch etwas", sagte Heather und zog hörbar den Atem ein.
„Es tut mir Leid, daß das passiert ist!" meinte Luna zerknirscht.
„Ach, vergeben und vergessen. Du bist meine Freundin und eben Luna. Ich kann dir doch nicht lange böse sein."
„Du hättest tot sein können!" sagte Luna und ließ sich nicht so schnell entkommen. Sie wollte eine ehrliche Antwort von Heather hören, doch sie merkte, daß die es ihr wirklich nicht übel nahm.
„Ich bin froh, daß alles noch einmal gut gegangen ist", sagte sie und lehnte sich weit über die Reling.
„Ich auch. Aber immerhin war es mir vorher klar, daß diese Reise sehr gefährlich sein kann!" sagte Heather und lehnte sich genauso weit vor, wie Luna.
Der Wind fegte den beiden durch die Haare und ließ ihnen Tränen in die Augen treiben.
„Es ist wunderbar!" rief Heather und spürte auf einmal eine ungeheure Energie, wie sie sie noch nie vorher gespürt hatte. „Ich will auf den höchsten Masten klettern und wie ein Blatt durch den Wind getragen werden!" rief sie übermütig und ließ Luna alleine stehen.
Diese blieb jedoch nicht, wo sie war, sondern lief ihrer Freundin hinterher. Gemeinsam kletterten die beiden übermütig, Seite an Seite, die Webeleinen hinauf. Immer wieder hielten sie inne und ließen sich von dem Wind durchpusten. Sie sahen sich an und lachten. Eine überschwengliche Freude verband die beiden. Das Schauspiel lockte immer mehr Crewmitglieder an, die von unten zusahen.
Man flüsterte sich zu, das dies ein Wettklettern sei, doch das war es nicht. Heather und Luna hatten einfach mal wieder ihren Spaß, als ob sie erst zwölf und nicht neunzehn wären.
Fünfzehn Meter hatten sie nun schon hinter sich. Sie mußten alle Kräfte aufbringen um sich gegen den Wind halten zu können, der an ihnen riß und zerrte.
„Ich fühl mich wunderbar! Ich will fliegen und nie wieder landen!" schrie Luna in den Wind und ihre Worte wurden fortgetragen.
„Ich auch", sagte Heather leise und nachdenklich. Seit Jahren war sie nicht mehr in die Segel geklettert und dieser Moment weckte Erinnerungen in ihr. Sie merkte, daß sie noch schwach war, und daß das Atmen ihr schwerfiel, doch sie merkte, wie sie weggetragen wurde und plötzlich wieder in den segeln der Morning Star herumturnte und ihre Mutter von unten zu ihr aufsah.
Sie dachte an den Tag, an der sie ihre Mutter zum letzten Mal gesehen hatte. Sie wurde traurig und begann mit dem abstieg. Luna war noch voller Freude und merkte nichts von den Gefühlen ihrer Freundin und als beide gleichzeitig wieder unten ankamen, hatte Heather ihre düsteren Gedanken verscheucht und war genauso fröhlich wie vorher. Den beiden war angenehm warm und ihre Wangen leuchteten rot.
Die Crew beklatschte die beiden, als sie wieder sicher auf dem Deck standen nur einer war nicht glücklich. Elliott kam heran und zog Heather mit einem bösen Gesichtsausdruck mit sich.
„Was hast du dir dabei gedacht? Du hättest stürzen und tot sein können! Reicht es nicht, daß wir dir heute schon einmal das Leben gerettet haben?" fragte er sie böse.
„Elliott! Ich bin erwachsen und du bist nicht mein Aufpasser! Ich kann machen was ich will und werde das auch weiterhin tun, also spiel dich nicht wie ein Vater auf! Du kannst mir meinen nie ersetzen! Außerdem hast du wahrscheinlich nichts gemacht, so wie ich dich kenne. Ich bin der Meinung, daß ich mein Leben eher Matthew zu verdanken habe, als dir!" zischte sie ihn leise, aber furchtbar wütend an, damit nicht die gesamte Mannschaft ihren Streit mitbekam.
Heather verließ Elliott und machte sich auf den Weg unter Deck, wobei sie alle, die ihr in den Weg kamen, anmaulte.
„Was habe ich gemacht?" fragte Elliott Luna, die nun zu ihm gekommen war und den Streit mit angehört hatte.
„Elliott, ich muß ihr recht geben. Du bist nicht ihr Vater und kannst sie nicht immer vor allem beschützen. Das mußt du einsehen, denn wenn nicht, dann wird eure Freundschaft schneller zerbrechen, als dir lieb ist", sagte Luna und sah Heather nach, die gerade unter Deck verschwunden war.
„Was weißt du schon von unserer Freundschaft!" meckerte Elliott und ließ Luna verwirrt stehen.
Irgendwie war die Stimmung wie schlechtes Wetter umgeschlagen und hatte alle angesteckt, die gerade an Deck waren.
Luna war jedoch nicht der Typ, der sich von schlechten Stimmungen beeinflussen ließ, sondern machte sich auf die Suche nach Mr. Miller, mit dem sie die nächsten Kursberechnungen vornahm.
St. Eustatius war die nächste Insel, die die Glourious besuchen würde und vielleicht hätten sie Glück und Dark Brown würde sich schon dort versteckt halten.

Vorsichtig steckte Heather den Kopf durch die Tür und wurde, nachdem Jonny B. sie entdeckt hatte, sogleich herzlich begrüßt.
„Ich dachte schon, du hättest mich ganz vergessen", sagte er und setzte ein beleidigtes Gesicht auf.
Heather mußte lächeln und erwiderte: „Wie könnte ich dich vergessen." Sie schloß die Tür hinter sich und setzte sich wieder auf den sessel, der neben dem Bett stand.
„Wie geht es dir?" fragte Jonny.
„Eigentlich sollte ich dich das lieber fragen, aber ich glaube seit der Arzt dagewesen war, geht es dir sehr viel besser."
„Ja, ich fühle mich auch besser und habe nicht mehr so viele Schmerzen, aber was habe ich von dir gehört? Du bist in Ohnmacht gefallen?" fragte er besorgt.
„Ja...Luna hat das Korsett etwas zu fest geschnürt." Sie merkte, wie komisch sich das anhörte, doch Jonny sah sie immer noch sehr ernst an.
„Und jetzt geht es dir wieder gut?"
„Ja, ich bin sogar eben wieder in die Segel geklettert. Das habe ich seit Jahren nicht mehr gemacht", sagte Heather und wurde wieder nachdenklich, doch Jonny B. ließ ihr keine Zeit um melancholisch zu werden.
„Sei froh, daß du nicht auch gefallen bist, sonst hätten sie zwei Verletzte an Bord und wir müssen schließlich noch gegen Dark Brown angehen. Immerhin brauchst du deinen Säbel zurück!" meinte er ernst und stütze sich auf seinen einen Unterarm auf.
Heather sprang erschrocken auf und wollte ihn wieder aufhalten aufzustehen, doch das hatte er gar nicht vor. Er lehnte sich vor und drückte auf ein kleines geschwungenes Relief neben dem Bett. Sofort sprang ein kleiner Kasten in dem Nachtschrank neben dem Bett auf und offenbarte einige Kostbarkeiten. Heather nahm die einzelnen Stücke in die Hand und betrachtete sie, bis ihr schließlich ein brauner Fleck in ihrer Handfläche auffiel.
Jonny lachte auf, als sie ihn angeekelt ansah.
„Probier sie. Sie schmecken wunderbar!" rief er und nahm ihr eine kleine Brosche aus der Hand. Als er sie in den Mund stecken wollte, hielt sie ihn zurück.
„Was soll das?" rief sie, doch als sie sich die Brosche in ihrer Hand ansah, merkte sie, daß sie etwas zu fest zugedrückt hatte und die Brosche zerdrückt hatte.
Sie mußte lachen, als sie merkte, daß sie Schokolade und Marzipan in der Hand hatte. Alle waren in Form von Schmuck dargestellt und sahen verblüffend echt aus.
„Und ich dachte immer, daß ein echter Kapitän seine wertvollsten Schmuckstücke in solche Kästchen legt", sagte sie und steckte sich ein weiteres Schmuckstück in den Mund.
„Es war furchtbar langweilig, nachdem der Arzt gegangen war, nur Elliott kam kurz, um mir das Essen zu bringen. Da habe ich eben nach dieser Geheimversteck gesucht", sagte Jonny entschuldigend.
Als nur noch ein Stück über war, griffen Heather und Jonny gleichzeitig danach und bekamen es beide zu fassen.
„Wer bekommt es nun?" fragte Heather, doch Jonny ließ nicht lange mit sich reden, sondern steckte das Stückchen halb in den Mund und biß eine Hälfte ab. Die andere gab er Heather, die das Stück vorsichtig in den Mund steckte.
„Danke", sagte sie.
„Heather, weißt du..." er brach ab und versuchte sich aufzusetzen, doch alleine schaffte er es nicht, also griff Heather ihm unter die Arme und zog ihn hoch, damit er sich im Bett hinsetzen konnte.
Als sie sich wieder hinsetzen wollte, hielt er sie zurück und berührte mit seinen Lippen vorsichtig ihre.
Es war nur eine flüchtige Berührung, doch sie jagte Heather kalte Schauer über den Rücken und als sie sich endlich wieder hinsetzte, wußte sie gar nicht, was sie nun sagen sollte.
„Jonny, ich..." begann sie, doch er legte ihr nur den Finger auf den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen.
„Es tut mir Leid! Nein! Eigentlich tut es mir nicht Leid, denn seitdem ich dich zum ersten Mal am Kai neben Luna gesehen habe, wollte ich das machen. Es kam einfach über mich. Du bist so wundervoll und ich bin dir so dankbar, daß du bei mir geblieben bist und mir Gesellschaft geleistet hast und..."
„Jonny, es hat mich einfach überrascht. Und ich bin dir überhaupt nicht böse", sagte sie und lächelte ihn an.

„Wir werden von der Rückseite an die Insel heranschippern", meinte Mr. Miller und beriet sich gerade mit Luna. Sie hielt eine etwas zerrissene Karte vor sich und fuhr mit dem Finger über die verschiedenen Routen, die sie nehmen könnten.
„Wir müssen ihn einfach überrumpeln, dann haben wir eine Chance!" sagte Luna und sah ihren ersten Maat an.
Dieser runzelte die Stirn und sagte: „Die Männer werden auf jeden Fall hinter uns stehen. Sie haben nichts zu verlieren und werden auch gegen den berüchtigtsten aller Piraten angehen."
„Das habe ich auch nicht anders erwartet!" sagte Luna. „Immerhin habe ich den besten ersten Maat, den man sich vorstellen kann. Wir werden die Crew aufteilen. Am besten geht ein Teil an Land und erkundet die Insel und der andere Teil bleibt an Bord. Wir müssen vorbereitet sein!"
„Vor allem nach der Sache in Martinique. Ich frage mich nur noch, wer uns verraten haben könnte?" fragte Mr. Miller Luna.

„Ich mich auch. Außerdem waren vorher noch nie britische Soldaten in Tortuga. Das ist alles sehr merkwürdig."
„Zu Beginn hatte ich Storc in Verdacht. Er hatte sich sehr heftig dagegen gesträubt unter einer Frau zu dienen, die noch nicht einmal halb so alt ist wie er."
„Das wußte ich gar nicht. Warum haben Sie mir das nicht erzählt?"
„Ich hielt es für besser sie ihr eigenes Bild machen zu lassen, doch Storc hatte, auch wenn er die Royal Navy nach Tortuga gerufen hatte, keine Gelegenheit die Soldaten nach Martinique zu schicken. Wie denn auch? Immerhin saß er an den Pfosten gekettet im Laderaum."
„Sie haben Recht Mr. Miller, doch wir haben eine undichte Stelle in unserer Crew und die gilt es zu finden, aber zuerst, werden wir mit Dark Brown abrechnen!"

Gesagt, getan.
Den ganzen Nachmittag und den nächsten Vormittag verbrachte die Crew damit, Kanonen bereit zu machen, Musketen zu säubern und ihre Entermesser zu putzen. Die Vorfreude auf das anstehende Ereignis war gedämpft, doch hin und wieder ließ sie sich erkennen.
Dann endlich war es soweit. Die Insel lag nur noch ein paar Meilen vor ihnen und Luna teilte die Crew ein.
„Mr. Miller! Sie nehmen Kenningham, Dunway und Essie mit und werden an Bord bleiben. Clause, Evans, Potcauld und ich werden in der Nacht das Schiff verlassen und gegen Mitternacht zurückkehren. Dann werden wir nicht gesehen", erklärte sie Mr. Miller. „Clause! Holen Sie Storc aus dem Laderaum. Er hat lange genug am Pfosten gesessen. Es wird Zeit, daß er zeigt, auf welcher Seite er steht!" rief Luna ihre Befehle.
Als alle Mitglieder der Mannschaft beschäftigt waren, sah Luna Heather. Sie stand in der Nähe der Treppe, die zum Steuerrad führte und sah dem Treiben zu.
„Ich werde mit an Land gehen!" sagte Heather bestimmt, als Luna sich vor sie stellte. Heather trug nun auch wieder eine Hose und sah genauso berüchtigt aus, wie Luna.
„Du bleibst hier!" erwiderte Luna bestimmt, doch Heather ließ sich nicht so einfach abschütteln.
„Luna! Du hast ein Gefühl in mir geweckt, daß ich vorher nur damals hatte. Es ist immer stärker geworden und ich weiß jetzt, wozu ich geboren bin."
„Heather, du bist aus einer alten Piratenfamilie, aber muß du als letztes Mitglied nun auch schon sterben? Du hast noch dein ganzes Leben vor dir und das solltest du auch nutzen."
„Wozu kann man ein Leben nutzen, wenn man keine Zukunft besitzt?" fragte Heather traurig.
„Jeder hat eine Zukunft, auch wenn wir sie heute noch nicht erkennen. Es wird zu einer Schlacht mit Dark Brown kommen und du solltest sie auf jeden Fall noch erleben! Bleib an Bord, bitte!" sagte Luna eindringlich.
Sie wurde von Clause gerufen und ließ ihre Freundin, ohne auf die Antwort zu warten, stehen. Heather wußte, daß Luna recht hatte. Außerdem blieben Elliott, Jonny B. und Matthew auch auf der Schaluppe und so würde es nicht sehr langweilig werden.
Heather hatte keine Lust mehr draußen zu bleiben und wollte Jonny etwas Gesellschaft leisten. Sie ging wieder in das dunkle Innere des Schiffes und öffnete leise die Tür zur Kapitänskajüte, um Jonny nicht zu wecken, falls er noch schlafen würde.
Doch sie hatte sich getäuscht, denn Jonny stand mit dem Rücken zur Tür vor dem großen Schreibtisch und schrieb etwas auf einen kleinen Zettel.
„Ich wußte gar nicht, daß es dir schon wieder so gut geht," sagte Heather und legte ihm die Arme um den Bauch. Jonny drehte sich erschrocken von ihrer Umarmung um und ließ den Zettel schnell verschwinden.
„Es war so langweilig im Bett", sagte er.
„Das solltest du auf keinen Fall Luna sagen. Sie würde veranlassen, daß du sofort die Kajüte räumst..."
„Und das werde ich auch!" sagte plötzlich jemand von der Tür her. Dort stand Luna und sah sich das Schauspiel aus einiger Entfernung an.
„Ich werde sofort zurück in meine Kajüte gehen", sagte Jonny, löste sich aus der Umarmung und humpelte aus der Kajüte.
„Ich wußte gar nicht, daß ihr euch so nahe steht," sagte Luna und schloß die Tür. Sie streckte sich und löste den Knoten ihres Halstuches.
„Wir stehen uns nicht nahe, so wie du das ausdrückst!" entgegnete Heather und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Okay, ich will mich auch nicht in deine Angelegenheiten einmischen", sagte Luna und warf sich in den Stuhl hinter dem Schreibtisch.
„Bleibst du nun auch?" fragte Luna.
„Ja!" entgegnete Heather kurz.
„Okay."
„Fein."
„Gut."
„Toll."
„Dann gibt es nichts mehr?"
„Nein, dann gibt es nichts mehr!" sagte Heather und verließ Luna.
Doch sobald sie die Tür geschlossen hatte und eine Treppe weiter nach unten gegangen war, wurde sie wieder leise geöffnet.
„Habt ihr euch gestritten?" fragte Elliott und schob sich in den Raum.
„Nein, man ist nur manchmal nicht einer Meinung."
„Ich stimme dir vollkommen zu. Es wäre zu gefährlich für sie", sagte Elliott und legte die Arme um Luna.
„Meinst du wirklich?"
„Ich fände es furchtbar, wenn ihr etwas passieren würde."
„Und mir?" fragte Luna vorsichtig.
„Dir natürlich erst recht", sagte Elliott und schob ihre Haare aus dem Nacken, damit er ihren Hals küssen konnte.
„Ich...finde...es...auch...für...dich...viel...zu...gefährlich", sagte Elliott und küßte nach jedem Wort Lunas Haut.
„Bleib bei mir!" sagte Elliott, während seine Hände immer weiter unter ihr Hemd wanderten.
„Ich bin der Cäptn! Ich kann nicht hier bleiben."
„Dann komm ich mit", sagte er plötzlich, doch ohne sich seiner Worte bewußt zu sein. Er knöpfte ihr Hemd immer weiter auf, bis sie ihm zustimmte. Er war völlig verstört, doch zurücknehmen konnte er sein Angebot nun auch nicht mehr.

„Warum will sie mich nicht mitnehmen?" fragte Heather leise. Sie lag mit Jonny in seiner Koje. Er hatte den Arm um sie gelegt und streichelte langsam ihre Schulter.
„Es ist bestimmt sehr gefährlich..."
„Fang du nicht auch noch damit an. Ich weiß was es heißt mit der Gefahr zu leben. Meine Mutter war seit meiner Geburt immer auf der Flucht. Ich hatte keine Freunde, keine Spielsachen und natürlich auch kein normales Zuhause. Also erzähl mir nicht, was es heißt mit der Gefahr zu leben!"
„Ist schon gut...ich meinte es nicht so", sagte Jonny B.
„Tut mir Leid. Ich wollte nicht so aus der Haut fahren. Es hat mich nur so aufgeregt, daß Luna mich immer wie ein Kleinkind behandelt. Ich bin schließlich nur ein dreivierteljahr jünger als sie."
„Immerhin bist du dann bei mir", sagte er.

„Ja, ich weiß. Wahrscheinlich ist es so einfach besser." Sie kuschelte sich noch mehr an Jonny B. heran und schlief in seiner Umarmung ein.

Clause, Evans, Potcauld, Elliott und Luna saßen im Beiboot und wurden gerade zu Wasser gelassen.
„Und daß sie mir keine Dummheiten machen!" rief Luna gutgelaunt Mr. Miller zu, der mit den anderen, die an Bord geblieben waren, dem kleinen Schiff nachsahen, wie es immer näher an die Insel heranruderte.
Die Glorious lag in einer kleinen Bucht, die unbewohnt war. Niemand hatte ihr Ankommen bemerkt und so konnten die fünf in der anbrechenden Dunkelheit heimlich zur Insel rudern.
Es war ein schöner warmer Abend und Heather stand noch lange an der Reling, um ihren Freunden nachzusehen, selbst, bis sie schon lange in der Dunkelheit verschwunden waren.
„Was meinte Luna damit, als sie zu Mr. Miller sagte, halten sie sich an den Codex?" fragte plötzlich jemand neben Heather. Erschrocken drehte sie sich um.
„Matthew? Du hast mich erschreckt." Sie ließ sich an der Reling hinuntergleiten und setzte sich auf das Deck. Er setzte sich neben sie.
„Der Codex geht auf die Piraten Barthollomew und Morgan zurück. Sie waren die beiden ersten Piraten, die den Codex aufgeschrieben hatten. Er ist zwar mehr so eine Art Handbuch, als kein richtiges...mir fehlt das Wort... Gesetz. So!"
„Und warum hat sie das zu ihm gesagt?"
„Es soll heißen, daß wir, wenn sie nicht im Morgengrauen wieder an Bord sind, alleine weitersegeln und Mr. Miller vorübergehend zum Kapitän ernannt wird. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Ich bin sicher, sie werden pünktlich zurückkommen", sagte Heather und lächelte ihn an. In diesem Augenblick kam Jonny B. an Deck an sah die beiden an der Reling sitzen. Ein kurzes Funkeln trübte seinen Blick, ehe er sich umdrehte und zu Kenningham ging, der am Bug saß und sein Entermesser schliff.
„Ich bin dir zu Dank verpflichtet!" sagte Matthew und wollte aufstehen, doch Heather hielt ihn zurück.
„Warum tust du das?" fragte sie ihn.
„Was?" er schien verwirrt.
„Rede doch mal normal, so daß auch ich verstehe, was du meinst. Ich bin dir zu Dank verpflichtet ", äffte sie ihn nach. „Sag doch einfach, Danke oder etwas ganz normales."
„Okay", er lächelte sie an. „Ich werde es das nächste Mal versuchen."
Während er wieder unter Deck ging, sah sie ihm nach. Insgesamt hatte sich die Sache, nach einem sehr schlechten Anfang ganz gut entwickelt.
Heather stand auf und wollte auch unter Deck gehen, um sich etwas hinzulegen, doch auf einmal stellte sich Jonny B. ihr in den Weg.
„Was wollte er?" fragte er böse und hielt sie fest.
„Gar nichts. Wir haben uns einfach etwas unterhalten."
„Das sah für mich aber nicht nach gar nichts aus!"
„Was gehen dich meine Gespräche an. Außerdem kann ich mich mit jedem unterhalten, mit dem ich will." Langsam wurde sie auch böse, doch auf einmal wurde Jonnys Stimme wieder ganz weich.
„Es tut mir Leid. Ich bin etwas angespannt, weil wir bald Dark Brown gegenüber stehen!"
„Ich versteh das schon", sagte sie kurz und löste sich dann aus seinen Armen. Sie ging unter Deck in die Kapitänskajüte und legte sich auf das Bett. Sie konnte nicht einschlafen, weil ihre Gedanken in ihrem Kopf herumkreisten.

„Wie lange müssen wir noch gehen?" fragte Elliott ungehalten, ehe Luna ihm wieder den Mund zuhalten konnte.
„Tscht!" flüsterte sie. „Willst du, daß sie uns alle finden?"
Darauf gab er keine Antwort. Ihm war viel zu warm, seine Klamotten waren durchgeschwitzt und die Moskitos ließen sich sein Blut schmecken. Hin und wieder schlug er einige tot, doch irgendwann war er einfach zu müde dafür.
Den anderen schien es besser zu gehen als ihm. Sie liefen geduckt und lautlos durch den Wald und achteten nicht einmal auf die vielen Schlangen und Tiere, die sich überall um sie herum befanden.
Luna hatte ihm noch bevor sie die Insel erreicht hatten erklärt, daß St. Eustatius von Niederländern bewohnt wurde, es jedoch eine schwer zugängliche Insel war, auf der sich oft Piraten versteckten.
„Was wollen wir hier überhaupt?" fragte Elliott nun etwas leiser.
„Wir werden sehen, ob wir Männer von Dark Brown sehen..." flüsterte Luna leise, ehe sie sich und einige andere hinter ein dichtes Gebüsch zog. Vor ihnen kreuzten gerade drei wild aussehende Männer den Weg. Sie trugen Fackeln und schnitten mit ihren Macheten alles weg, was ihnen in den Weg kam.
„Waren das welche?" fragte Elliott leise, als sie weitergingen.

„Wohl ja. wir sind auf jeden Fall auf der richtigen Spur." Erwiderte Luna und kroch langsam weiter. Es war nun wieder stockfinster, nur ab und zu leuchtete der Mond auf eine Lichtung und gab ihnen den Weg frei. Es war schon weit nach Mitternacht, doch Elliott schien der einzige zu sein, der müde war. Er stolperte mehr vorwärts, als daß er ging und Luna erkannte, daß sie ihn am besten auf dem Schiff hätte lassen sollen.
Die fünf gingen gerade an einer steilen, aber nicht allzu tiefen Schlucht vorbei. Jeder versuchte in der Dunkelheit seine Füße richtig zu setzten und nicht hinabzustürzen, doch Elliott, in einem Anfall von Müdigkeit, verfehlte zum Ende den Boden und fiel mit einem erschrockenen Aufschrei die vier Meter in das schlammige Loch. Luna und die anderen liefen erschrocken zu einer Stelle, von der sie in den Krater hinabsteigen konnten und halfen dem etwas matschigen Elliott wieder auf die Beine.
„Ich habe dir doch gesagt, du sollst aufpassen!" zischte Luna ihn an.
„Jetzt werde uns Dark Browns Leute sicher gehört haben!" sagte sie noch, ehe ein leise Knacken alle auffahren ließ. „Das würde ich genauso sehen!" sagte jemand von oben.
Über der Schlucht standen die drei Kerle, die ihnen vorhin schon einmal über den Weg gelaufen waren und hielten ihre geladenen Musketen auf sie.
„Das wird Dark Brown aber freuen, daß wir ihm die selbsternannte Piratin Luna Sparrow vorbeibringen!" rief der eine und packte Luna grob am Hangelenk, als die fünf aus der Grube kletterten.
„Wag es ja nicht, mich anzufassen!" zischte Luna und schlug dem Pirat die Hand weg. Von dieser Gegenwehr überrascht, ließ er sich einschüchtern und stieß sie nur vorsichtig mit dem Gewehrkolben weiter.

Heather saß in der Kapitänskajüte auf dem Stuhl und sah aus dem Fenster. Sie hatte etwas geschlafen, doch schon bald war sie wieder aufgewacht und wußte nichts mit sich anzufangen. Sie starrte hinaus in die Dunkelheit, als sie plötzlich etwas spürte. Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken, doch sie konnte nichts damit anfangen. Kurz danach verschwand das Gefühl wieder und sie blieb zweifelnd alleine zurück. Sie stand auf und streckte sich. Der Morgen würde bald anbrechen und Luna und die anderen waren immer noch nicht zurück.
Sie ging an Deck, wo ihr der kalte Morgenwind entgegen blies.
„Haben sie schon etwas entdeckt?" fragte Heather Kennningham, der mit einem Fernrohr die Bucht absuchte.
„Nein, tut mir ‚Leid."
„Wir werden noch warten!" sagte Mr. Miller, der nun auch dazu getreten war.
„Wir können nicht mehr lange warten. Uns läuft die Zeit davon. Wenn es hell wird, müssen wir die Insel hinter uns gelassen haben!" sagte Heather.
„Ich weiß, aber wir können nicht segeln, solange die anderen nicht zurück sind", erwiderte Mr. Miller.
„Ich weiß. Dennoch müssen wir uns an ihren Befehl halten!" warf Kenningham ein.
„Wir werden noch warten und nicht das Schlimmste hoffen", sagte Heather. Sie setzte sich auf die Reling und starrte in die Dunkelheit, die langsam dem neuen Tag wich.
Etwas hatte sich verändert, doch nur sie schien das bemerkt zu haben.