Die Jagd
„Was wird er mit uns machen?" fragte
Elliott leise, die neben ihm hängende Luna, doch sie war so in
Gedanken versunken, daß sie nicht auf seine Frage
reagierte.
Dark Brown hatte sie unter Deck bringen lassen, um noch
zu warten, doch selbst Luna wußte, daß sie auf ihren Tod
warteten. Wahrscheinlich würde er die Glorious in eine Falle
locken, um die gesamte Mannschaft auf einen Schlag zu töten.
Luna
kannte die Geschichte mit Morgan Adams, Heathers Großmutter.
Sie hoffte nur, daß Heather noch frühzeitig entkommen war,
um einen großen Vorsprung zu haben.
Luna hoffte, daß
Dark Brown sie an seinem Rahsegel hängen würde. Diese
Todesart war bewährt und war für die Todeskandidaten die
schnellste. Einige Piraten hatten jedoch Spaß daran, ihre
Feinde von der Reling ins Meer zu stoßen und zuzusehen, wie sie
ertranken. Die schlimmste Art zu sterben war für Luna jedoch
die, die Dark Brown bevorzugte. Er ließ seine Feinde über
die Reling gehen und begann dann, auf die Menschen im Wasser zu
schießen, sie jedoch nicht umzubringen. Entweder wurde der
Todeskandidat von Haien angefallen, ertrank oder verblutete
jämmerlich. Wenn Luna an diese Todesart dachte, lief es ihr kalt
den Rücken herunter.
„Luna?" Elliott stieß seine
Freundin an, worauf sie zusammenzuckte.
„Was ist?" fragte sie
leicht ärgerlich.
„Du warst so in Gedanken. Denkst du, daß
Heather uns hier herausholen wird?" fragte Elliott.
Jetzt, wo er
Luna so ansah, mußte sie lächeln. Wie alle hing auch er
mit am Rücken gefesselten Händen an der Wand, doch
irgendwie sah es bei ihm verdrehter aus, als bei den anderen.
Vielleicht lag es daran, daß er noch vor einiger Zeit versucht
hatte sich so zu drehen und wenden, daß seine Arme nicht mehr
auf seinem Rücken verschränkt waren.
„Du solltest
aufhören zu versuchen, hier herauszukommen. Die Fesseln sind so
angebracht, daß..." plötzlich stockte sie. Elliott
hatte zum letzten Mal versucht sich aus dieser unbequemen Lage zu
befreien und plötzlich saß er auf dem Boden und war mit
den Händen über dem Kopf gefesselt.
„Wie hast du das
gemacht?" staunte Luna und sah ihn von der Seite an.
„Keine
Ahnung! Auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn!"
„Aber
viel bringt uns das auch nicht mehr, denn die anderen werden sich an
den Codex halten und ihre eigene Haut retten!" sagte Luna bitter,
doch noch bevor sie weiterreden konnte, hörte die kleine Gruppe
einen ohrenbetäubenden Knall.
Luna wußte genau, was das
zu bedeuten hatte.
„Heather!"
Heather stand mit
erhobenem Degen auf der Reling und hielt sich fest. Die Glorious
feuerte aus allen Rohren, obwohl die Crew wußte, daß sie
es nie mit der Seahawk aufnehmen konnten.
„Feuert aus allen
Rohren. Wir müssen versuchen ihr Munitionsdepot zu treffen,
nachdem wir die anderen gefunden haben!" schrie sie Mr Miller
zu.
Eine kleine Gruppe von Männer hatte sich schon bereit
gemacht und ihre Entermesser gezogen.
„Wir müssen näher
an sie dran!" rief Heather und sprang von der Reling. Sie steckte
den Degen in ihren Gürtel und zog sich Handschuhe an. Matthew,
der sich in der Zwischenzeit etwas im Hintergrund gehalten hatte, kam
unsicher auf sie zu.
„Was hast du vor?"
„Wir werden sie
entern, die anderen retten und heile wieder aus dieser Sache
herauskommen!" rief Heather gutgelaunt. Sie nahm sich eine Muskete,
die unerklärlicherweise auf dem Boden lag, prüfte sie kurz
und gab sie dann Matthew.
„Ich
hoffe du kannst damit umgehen!" es war mehr eine Festellung, als
eine Frage, deshalb wartete Heather auch nicht mehr auf seine
Antwort, sondern warf, als die Glorious nah genug an der Seahawk war,
ihren Enterhaken aus.
Auf der Seahawk war das Vorgehen nicht
unentdeckt geblieben und einige von Dark Browns Männern warteten
schon ungeduldig auf die Enterer.
Als
ob der Wind gedreht hätte, waren alle auf einmal ruhig.
Unnatürliche Stille legte sich über die beiden Schiffe und
erst als Dark Brown an Deck kam, ging ein Raunen durch die Mannschaft
der Glorious.
„Gebt auf!" rief er. „Ich habt keine Chance zu
siegen. Ergebt euch und ich werde Milde walten lassen."
Heather
schnaubte verächtlich und rief: „Laßt euch nicht
blenden. Bisher hatte er noch nie einen seiner Feinde gehen lassen!
Männer! Macht euch bereit!" Heather und die anderen zogen ihre
Entermesser, nahmen sich einige Taue und enterten damit die
Seahawk.
Dark Browns Männer wehrten sich, doch von der
Entschlossenheit überrumpelt ließen sie sich kurz
zurückdrängen, so daß Heather und die anderen einen
guten Einstieg hatten.
„Vorsicht!" rief Heather und zog
blitzschnell ihre Muskete, um einen von Dark Browns Männern zu
töten, der gerade auf Matthew gezielt hatte.
„Danke!"
sagte Matthew, der sich nur schwer gegen die Brutalität der
Piraten wehren konnte.
Der Kampf ging nun auf beiden Schiffen
weiter, doch Heather kämpfte sich auf der Seahawk bis unter Deck
vor. Sie mußte auf ihrem Weg zu Luna und den anderen immer
wieder einige Männer töten, die sich ihr in den Weg
stellten, doch als sie vor einer verschlossenen Tür ankam, wußte
sie, daß sie auf dem richtigen Weg war.
Sie warf sich mit
aller Kraft gegen die Tür, doch mehr als eine schmerzende
Schulter war nicht erreicht worden. Heather sah sich grübelnd
um. Dann blickte sie auf die Muskete in ihrer Hand und lud diese
nach. Sie schoß zweimal auf die dicke Eichentür, doch die
Tür bewegte sich immer noch nicht.
„Heather?" rief jemand
von der anderen Seite der Tür.
„Luna!" antwortete
Heather, die die Stimme ihrer Freundin erkannt hatte.
„Du mußt
uns hier herausholen!" rief Luna von drinnen, doch Heather erklärte
ihr, daß sie die Tür nicht öffnen konnte.
Heather
stand immer noch grübelnd vor der Tür, als jemand sie von
hinten packte und schmerzhaft gegen die Wand drückte. Sie bekam
keine Luft mehr und konnte sich in der Umklammerung keinen Zentimeter
bewegen. Ihr wurde schwarz vor den Augen, doch sie zwang sich wach zu
bleiben. Das rissige Holz schürfte ihre Wange auf und brannte
wie tausend kleine Nadeln auf ihrer Haut. Sie wollte nicht aufgeben,
doch sie konnte einfach nicht mehr, bis sie plötzlich ein
dumpfes Geräusch hörte und der Griff an ihrem Hals sich
lockerte.
Erschöpft fiel sie nach hinten, konnte sich jedoch
gerade noch fangen und drehte sich vorsichtig um.
„Matthew!"
Heather blickte ihn ungläubig an, während sie sich noch die
letzten Splitter von der verschrammten Wange wischte.
Er hielt
einen zerbrochenen Stuhl vor sich, den er nun an die Seite warf.
„Wir
sollten jetzt die Tür öffnen!" sagte er und schob Heather
zur Seite.
Er steckte einige Dynamitstangen in die Ritzen der
schweren Eichentür und rief zu Luna und den anderen: „Haltet
euch von der Tür fern!", ehe er ein Streichholz anzündete
und die Tür mit einem lauten Knall aus den Angeln
sprengte.
Heather und Matthew stiegen über die letzten Reste
der Tür ins Zimmer, in dem die anderen gefangen gehalten wurden.
Mit ihrem Degen zerschlug Heather nach einigen Schwierigkeiten die
Ketten und befreite so ihre Freunde.
Sie fiel Elliott und Luna um
den Hals, ehe sie die beiden zur Eile antrieb. Ihr Vorgehen würde
nicht lange unbemerkt bleiben. Deshalb liefen die Gefangenen schnell
aus der kaputten Tür heraus und wollten gerade an Deck stürmen,
als Luna plötzlich stehen blieb. Sie öffnete eine
Seitentür, ließ sie offen, rannte zur nächsten,
öffnete auch diese und schien endlich gefunden zu haben, was sie
suchte.
Sie nahm sich Matthews Muskete, ging damit zu einem
schweren Eisenschrank und schoß das Schloß weg. Luna trat
die Tür auf und holte sich ihre und die Waffen der anderen. Erst
als alle wieder ordentlich bewaffnet waren, gingen sie an Deck, doch
dort angekommen, mußten sie feststellen, daß sich
inzwischen einiges geändert hatte. Dark Brown hatte die
restliche Mannschaft zusammengedrängt und redete leise mit
ihnen, doch Mr Miller sagte nichts, so daß er die volle
Gewalttätigkeit von Dark Brown zu spüren kam. Dieser schlug
ihm so hart ins Gesicht, daß Mr. Miller nach hinten taumelte
und hätten ihn die anderen nicht gestützt, so wäre er
gefallen.
Unentdeckt waren die sieben in der Tür
stehengeblieben und überlegten angestrengt, wie sie das Blatt
noch wenden könnten.
„Ich werde mich stellen. Vielleicht
läßt er euch frei!" sagte Heather leise, doch die
anderen protestierten.
„Dark Brown hat noch nie jemanden frei
gelassen!" wisperte Luna. „Wir brauchen einfach ein Wunder!"
und noch bevor sie den Satz beendet hatte, wurde die Seahawk von
einer Kanonenkugel getroffen.
„Was zur Hölle..."
stotterte Heather und überlegte angestrengt, von welchem Schiff
die Schüsse kommen konnten, denn kein normales Schiff würde
Dark Brown angreifen und die Glorious war in die Hände von Dark
Brown gefallen.
„Es ist Death Jack Lang!" rief Luna aufgeregt,
als sie als erste einen Blick auf das Schiff werfen konnte.
Ohne
auf die Folgen zu achten, liefen die sieben an Deck und waren genauso
überrascht, wie Dark Brown. In diesem heillosen Durcheinander
konnte sich der Rest von Lunas Mannschaft befreien und nachdem Death
Jack Lang elegant auf die Seahawk geschwungen war, hatten sie ihre
Waffen wiederergattert.
„Es ist wirklich schade, daß ihr
mich nicht zu eurer netten, kleinen Party eingeladen habt", sagte
Death Jack Lang und sah sich nur kurz an Deck um.
Zum ersten Mal
in seinem Leben mußte sich Dark Brown seiner Angst stellen und
alle an Deck sahen es. Es gab nur einen Menschen, vor dem Dark Brown
Angst hatte und vor dem er immer geflüchtet war, und das war
Death Jack Lang.
„Ich wußte nicht...Wenn ich gewußt
hätte..." „Schweigt!" rief Death Jack Lang und begann die
Männer zu inspizieren.
Als er vor Luna stehen blieb, stockte
dieser das Herz. Es gab viele Geschichten über Death Jack Lang
und eine war grausamer als die andere. Death Jack Lang sollte jedoch
nicht sehen, daß sie vor dem Tod Angst hatte, deshalb hob sie
den Kopf noch etwas höher und blickte ihm direkt in die Augen.
Er hatte schon leicht graue Haare und mochte vielleicht schon
jenseits der vierzig gewesen sein, doch seine Augen strahlten, im
Gegensatz zu seinem Körper, Wärme und Geborgenheit aus.
Luna erschrak kurz und schüttelte den Kopf, um den Blick nicht
erwidern zu müssen.
„Ich wollte dich schon mein ganzes
Leben lang kennen lernen, Luna Sparrow!" flüsterte er, so daß
es niemand hören konnte.
Luna war alle Farbe aus dem Gesicht
gewichen, als sie Death Jack Lang anstarrte. Heather sah ihrer
Freundin an, daß etwas nicht stimmte, doch sie wußte
nicht was. Death Jack Lang ging langsam weiter, als plötzlich
hinter ihm ein Mann von Dark Brown seine Muskete zog und auf ihn
schoß, doch nicht Death Jack Lang, sondern der Mann ging zu
Boden. Wie gespannt standen alle an Deck und hatten dem Schauspiel,
was kaum eine halbe Sekunde gedauert hatte, zugesehen.
„Wißt
ihr nicht", sagte Death Jack Lang und drehte sich langsam um, „daß
man einen Mann niemals von hinten erschießt?" fragte er und
blies den Qualm aus seiner Muskete. Als ob dies der Startschuß
gewesen wäre, begannen nun Dark Bronws, Death Jack Langs und
Lunas Männer miteinander auf den drei Schiffen, die kaum zwei
Meter auseinander lagen, zu kämpfen.
Für Heather war
dies ein wunderbar befreiendes Ereignis. Sie wich blitzschnell einem
Säbel aus, drehte sich und durchschnitt dem einen von Dark
Browns Männern die Kehle. Selbst Matthew, für den diese
ganze Situation neu war, verteidigte sich sehr geschickt, wobei er
jedoch sehr darauf achtete, seine Gegner nur zu verwunden und nicht
zu töten.
„Du mußt zustechen!" rief Heather ihm
durch den ganzen Lärm zu, doch er sah nur kurz auf, als habe er
etwas gehört, doch war sich dann nicht mehr sicher und achtete
weiter auf seine Feinde.
„Soll ich dir helfen?" fragte
plötzlich jemand hinter Heather. Sie hatte sich in eine ruhigere
Ecke zurückgezogen und wischte sich mit ihrem Ärmel die
verschwitzte Stirn ab.
„Was?" fragte sie erschrocken und
drehte sich um, doch als sie Jonny B. erblickte, atmete sie wieder
aus.
„Du
hast mich erschreckt!" zischte sie und wollte noch auf seine
Antwort warten, doch mehrere üble Schurken stürzten sich
auf die beiden. Jonny B. drückte Heather noch schnell einen Kuß
auf den Mund, ehe er sich wieder ins Getümmel stürzte.
Elliott
war immer dicht hinter Luna geblieben, die geschickt die Hiebe
abwehrte und hier und da auch einige erschoß.
„Wie lange
geht so eine Schlacht normalerweise?" fragte Elliott und wich den
Hieben eines anderen Piraten aus.
„Schwer zu sagen. Death Jack
Lang wird dieses Gemetzel nicht sehr lange dauern lassen."
Elliott
sah nicht sehr beruhigt aus, als er das hörte.
