In der Zwischenzeit war Severins bester Freund Henry todunglücklich. Wörthersee war für ein Jahr nach Südafrika gegangen, um sich dort gegen die immer noch spürbare Apartheid einzusetzen, und er hatte ihr einmal mehr einen Heiratsantrag gemacht, bevor sie wegflog. Wieder hatte sie ihn lachend abgewiesen und gesagt, sie sei nicht anders als eine Schwester an ihm interessiert. Henry war auf dem besten Wege, vor Liebeskummer dahinzusiechen, als Flora ihn zu sich in ihr schönes Haus einlud. Er verbrachte viel Zeit mit ihrem Mann und ihren vier kleinen Kindern. Scotland und Ireland hatten es ihm besonders angetan, sie waren mittlerweile etwa ein Jahr alt und konnten schon mit Sachen um sich werfen, wenn ihnen etwas nicht paßte, sahen ihn dann aber mit Augen nicht unähnlich denen ihrer großen Stiefschwester an, wenn er sie schimpfte. Flora begann alsbald wieder einmal, einen Mann darin zu unterrichten, wie man mit Frauen umgehen mußte, um sie verrückt nach einem zu machen. Speziell in diesem Fall konnte sie ihm besonders gut helfen, da es sich bei der zu erobernden Dame um ihre eigene Tochter handelte, die sie besser kannte als sonst einer.
Als Wörthersee, die auf Henrys erste drei Briefe nicht geantwortet hatte, worauf er es auf Floras strenge Anordnung hin bleiben ließ, nach dreizehn Monaten zurückkam, erfuhr sie, daß Henry für zweieinhalb Jahre zu seinem Onkel Charley nach Rumänien gegangen war, um sich mit der Aufzucht von Drachen zu beschäftigen.
„Ist ja nett, daß ich das auch mal erfahr!" sagte sie nach einer kurzen Pause.
„Hat er dir das denn nicht geschrieben?" fragte Flora unschuldig.
„Nee, der Depp hat mir drei Briefe geschrieben und dann kein Wort mehr von sich hören lassen! Du hättest mir ja ruhig bescheid geben können, dann wär ich hergekommen, um ihn zu verabschieden!"
„Achso, ich dachte, ihr steht in Briefkontakt, deswegen habe ich das nicht erwähnt. Ich dachte, was wichtiges wie das wird er dir schon selber schreiben..."
Wörthersee war definitiv ungehalten. Wie konnte er nur einfach abhauen, ohne ein Sterbenswörtchen zu sagen? Doch dann lachte sie sich darüber hinweg und sagte sich: „Ist ja nicht so, daß ich ihn groß vermisse! Von mir aus kann er für immer dort bleiben." Insgeheim aber nagte ein hinterhältiger Gedanke an ihr. Was wäre, wenn er eine Frau dort kennenlernen würde, wahrscheinlich auch noch eine mit dem breitesten Arsch der Welt, und die würde sich ihn einfach schnappen. Nicht, daß es ihr was ausmachen würde, sie wollte ja von Henry weiß Gott nichts, aber sie wußte, wäre die Frau auch noch so eine Tomate, wenn sie ihm auf die Mitleidstour kommen würde, würde er sich garantiert erweichen lassen und sie heiraten. Dieser Gedanke quälte sie sehr. Genausowenig wie sie einem ihrer Brüder eine Tussi als Frau wünschte, wünschte sie es auch Henry nicht. Eigentlich war es ihr ja vollkommen gleichgültig, aber sie wußte, daß Saudi Arabien sich wahnsinnig grämen würde, wenn sein bester Freund nicht mindestens die intelligenteste Frau nehmen würde, die es auf der Welt gab. Ja, um ihres geliebten Bruders willen mußte sie etwas unternehmen!
Zu dieser Schlußfolgerung kam sie nach etwa neun Monaten, in denen sie vergebens auf einen Brief von ihm gewartet hatte. Deshalb stieg sie in ein Flugzeug nach Rumänien und fand den Ort, an dem die Zauberer und Hexen mit den Drachen arbeiteten. Als Henry sie erkannte, machte sein Herz einen wilden Sprung, doch er ließ sich nichts anmerken. Flora hatte ihn wissen lassen, daß Wörthersee fast weichgekocht war und er sie bald erwarten durfte. Nun mußte er aufpassen, daß er nichts falsches tat. Nach strikter schwiegermütterlicher (in spe) Anordnung kam er auf sie zu, grinste sie breit an, zog sie in seine nackten, muskulösen Arme und drückte sie.
„Wörthersee! Wie gehts dir?" Er konnte es kaum glauben, doch ihre Wangen waren von einer Röte überzogen, die er noch nie an ihr gesehen hatte.
„Gut. Und dir?" Er nickte. Dann nahm er sie auf eine kleine Tour über das Gelände mit, stellte sie beiläufig seinen Freunden vor (die bescheid wußten) und fragte sie, was sie hier machte. Sie druckste eine Sekunde herum, bevor sie sagte:
„Ich hab in der Nähe was zu erledigen und dachte mir, ich schau einfach mal bei dir vorbei... wir haben uns ja ewig nicht gesehen..."
„Mmhmm." war alles, was er dazu sagte, dann widmete er sich wieder seiner Arbeit, nämlich die Nester der verwaisten Dracheneier anzuheizen.
Insgesamt war der Ausflug für Wörthersee von einer wenig befriedigenden Natur. Sie hatte aus Henry nicht herausgebracht, ob irgendeine dahergelaufene Kuh sich schon an ihn herangeschleimt hatte, und er hatte sich gefreut, sie wiederzusehen, aber nicht so, wie sie es erwartet hatte. Früher hatte er immer ein Leuchten in den Augen gehabt, wenn er sie angesehen hatte. Und jetzt?
Sie kam vier Tage später nach England zurück und war übelst deprimiert. Henry liebte sie nicht mehr. Nicht, daß es für sie persönlich eine Rolle gespielt hätte, denn sie sah in ihm ja nichts anderes als einen Bruder oder bestenfalls den besten Freund ihres Bruders. Aber seine kindische Verliebtheit in sie wäre noch das Einzige gewesen, das ihn vor einer unglücklichen Ehe mit einer lüsternen Frau bewahrt hätte.
Sie hatte Fotos gemacht, die sie in ihrem Zimmer aufhing. Eins gefiel ihr besonders gut, auf dem sah man ihn schräg von hinten, wie er mit einer Schaufel Kohle auf die Dracheneier häufte. Eine Strähne seines weißblonden Haares fiel ihm ins Gesicht, Schweißperlen standen ihm überall auf der nackten Haut, sein enges Shirt war durchgeschwitzt... er sah so stark, so männlich aus! Sie versteckte es unter ihrem Bett, und sah es jeden Tag nach dem Aufwachen und vor dem Schlafengehen an. Sie schickte ihm einige der Bilder und wartete ungeduldig auf Antwort. Früher hatte er ihr immer lange, witzige, liebevolle Briefe geschrieben, obwohl sie ihm kaum geantwortet hatte und wenn, dann nur ganz kurz. Aber sie hatte immer gerne gelesen, was er ihr aus seinem Leben schrieb.
Sie wartete drei Monate, bis ein Einzeiler per Eule zurückkam:
Danke für die Bilder. Bin sehr beschäftigt. Hoffe es geht allen gut. Henry
Nun war es an Wörthersee, vor Kummer dahinzusiechen. Sie schrieb ihrem Bruder, er solle ein ernstes Wort mit Henry über heiratswütige Rumäninnen reden, dieser jedoch schrieb ihr zurück, sie solle sich nicht in Angelegenheiten einmischen, die sie weiß Gott nichts angingen.
„Aber sie gehen mich etwas an!" rief sie aus, während sie Saudi Arabiens Brief las. „Ich kann nicht einfach tatenlos zusehen, wie dieser dumme Mann sich an die Nächstbeste wirft! Er könnte niemals glücklich werden mit einer... mit einer so..."
Ja, mit was eigentlich? Läge es wirklich daran, daß er unglücklich mit einer Rumänin werden würde, oder galt diese Feststellung allen Frauen auf der ganzen Welt, die nicht sie selbst waren? Natürlich, sie wollte ihn ja eigentlich gar nicht heiraten, immerhin hatte sie ihn x-mal abgewiesen, aber sie konnte einfach nicht zusehen, wie er sich in das sichere Unglück stürzte. Es gab nur eine Möglichkeit, das sah sie jetzt ein: sie mußte sich selbst opfern, mußte über ihren Schatten springen, um das Leben des besten Freundes ihres Bruders zu retten, den sie wie ihren eigenen Bruder liebte.
Entschlossen setzte sie sich einmal mehr in ein Flugzeug und besuchte ihn. Als sie auf dem Gelände ankam, tasteten ihre Augen jeden Winkel ab. Manchmal wünschte sie sich, sie hätte den Röntgenblick ihres ältesten Bruders. Dann sah sie ihn. Er stand vor einem Holzzaun, an den sich kokett eine junge Frau gelehnt hatte, und lachte über irgendetwas, was dieses hinterhältige Biest erzählte. Wörthersee wußte sofort, daß sie hinterhältig war, sie konnte es in ihren Augen sehen. Abgesehen davon war sie sehr hübsch, was die Sache nicht besser machte. Die beiden beachteten sie erst, als sie sich direkt neben Henry aufstellte, sich wie eine verliebte Gans vorkam, als sie rot wurde und „Hi!" sagte. Henry drehte sich überrascht zu ihr.
„Wörthersee! Was machst du denn hier?" Diesmal nahm er sie nicht in den Arm wie das letzte Mal, acht Monate und einundzwanzig Tage vorher.
Wörthersees Herz zerkrümelte zu Blaukraut. Er liebte dieses Mädchen! Und sie schien nicht nur hübsch, sondern auch witzig und intelligent zu sein. Natürlich war sie tief drinnen verdorben wie ein faules Ei, aber das würde er erst nach der Hochzeit herausfinden, und dann wäre er auf ewig verloren und unglücklich, und sie ebenfalls, denn der einzige Mann, den sie jemals geliebt hatte, liebte sie nicht mehr. Wie hatte sie nur so hirnverbrannt dumm sein können, ihn zurückzuweisen? Was hatte sie sich dabei gedacht, ihm ins Gesicht zu lachen und zu sagen, daß sie nicht an ihm interessiert sei? War er nicht derjenige gewesen, den sie vor alle anderen gestellt hatte? Hatte sie nicht jeden anderen abgewiesen, weil er nicht so humorvoll, so groß, so blond, so ... war wie Henry. Der Henry, der jetzt vor ihr stand und eine andere liebte!
Sie drehte sich um und lief zurück zum Pferd, das sie an diesen traurigen Ort gebracht hatte. Am Flughafen schlug sie gedankenverloren fast einen Angestellten zu Brei, weil er behauptete, es gäbe keine Plätze mehr im Flugzeug nach England. Als sie weinend zusammenbrach und ihm erzählte, daß ihre wahre Liebe eine andere Frau heiraten würde, sah er
1. davon ab, sie anzuzeigen und
2. überredete er den Kapitän des Flugzeuges, sie im Cockpit mitfliegen zu lassen.
Der Kapitän war glücklicherweise Italiener und hatte vollstes Verständnis für Wörthersees desparate Lage.
In London angekommen warf sie sich schluchzend auf ihr Bett. Flora folgte ihr vorsichtig und redete so lange beruhigend auf sie ein, bis ihre Tochter sich ihr anvertraute. Dann ging sie in ihr Arbeitszimmer (nämlich der Eßtisch im Wohnzimmer, damit sie die Kinder immer im Auge hatte) und schrieb Komm sofort her. Sie ist durch. auf ein Stück Papier, das sie mit ihrer Graueule Elfrida wegschickte. Etwa drei Stunden später spürte Wörthersee, die sich auf ihrem Bett in einen unruhigen Schlaf geweint hatte, wie sich jemand neben sie auf die Matratze setzte. Sie drehte den Kopf mit der Erwartung, ihre Mutter zu sehen. Stattdessen blickte sie in die strahlenden Augen Henrys. Er drehte sie auf den Rücken, schlang einen Arm um sie und legte sich auf sie drauf.
„Und wenn du noch einmal nein sagst, leg ich dich übers Knie!" Dann küßte er sie.
