Kapitel 6: Das Grab des Schutzengels

Faramir wusste, was Esteriel kurz vor ihrem Tod sagen wollte. Er hatte es bereits seit ihrer zweiten Begegnung in den Häusern der Heilung geahnt. Und ihre Großmutter hatte es bestätigt: Esteriel hatte ihn geliebt. Oder sie glaubte es zumindest. Viel eher hatte sie ihn bewundert und dachte dann, sie sei in ihn verliebt. Für Faramir jedoch war sie eine sehr gute Freundin, eine Hoffnung. Er konnte ihr nie die Liebe geben, die sie sich wünschte.
Sie war schließlich ein Kind, das in seinen Trämen versinkt, das seine Fantasie für Wahrheit hält. Sie konnte nicht wirklich in Faramir verliebt gewesen sein. Sie war zu jung. Viele Mädchen in ihrem Alter träumen von einem edlen Prinzen auf einem weißen Ross. Und für Esteriel war es Faramir.
Doch sie hatte sich für ihn geopfert. Sie musste sterben. Sie war ein Schutzengel, doch sie war schwach. Sie hatte sein Leid auf sich genommen und sie konnte diese vernichtende Flut nicht ertragen. Sie hatte an seiner Stelle gelitten, sie war an seiner Stelle gestorben.
Was sollte er Éowyn sagen? Die weiße Herrin stand mit ihm vor dem Grab des Mädchens und blickte ihn verwundert und erwartungsvoll an.
Éowyn traf er kurz nach Esteriels Tod. Er hatte jetzt Éowyn an Esteriels Stelle. Jedoch war er an sie nicht nur durch Freundschaft, sondern auch durch Liebe gebunden. Liebe, die seinen Schmerz spurlos wegwischte.
"Sie starb an meiner Stelle", sprach er leise.
Éowyn verstand diese Erklärung zwar nicht ganz, doch ihr wurde klar, dass Esteriel ihrem Gemahl etwas bedeutete. Ohne sie hätten sich die beiden nie begegnet.
Zu Faramirs Überraschung nahm sie ihm die Vergissmeinnicht aus der Hand und legte sie auf das Grab.
"Ich bin ihr dankbar", sagte sie. "Ich wünschte, ich könnte sie jetzt kennenlernen. Diesen Tod hat sie nicht verdient."