Kapitel 4:
Wieder zwei Wochen später, an einem Samstag war Snape in der Winkelgasse um einige Besorgungen zu machen. Es war schon Anfang Dezember und man sah deutlich die vielen Zauberer und Hexen, die eifrig mit den Weihnachtseinkäufen beschäftigt waren.
Genervt verdrehte er die Augen, als ihn ein kleiner Zauberer in himmelblauen Roben anrempelte.
Nachdem er wieder unauffällig aus der Nockturmgasse aufgetaucht und bei der Apotheke gewesen war, beschloss er noch kurz bei Flourish & Blotts vorbei zusehen. Das Buchgeschäft war zum brechen voll und bis Snape die Regale erreicht hatte, die er suchte war eine halbe Ewigkeit vergangen. Wenigstens war dort sehr viel weniger los. Nur eine Hexe, die er um die fünfzig schätze, stand vor einem der Regale. Er sah nur kurz zu ihr hinüber, doch kam sie ihm irgendwie bekannt vor.
Mit einem leichten Kopfschütteln verscheuchte er die Gedanken und widmete sich seiner Suche.
„Kolleen Schatz, komm mal her. Ich glaub ich hab das Buch gefunden." Snape sah auf, hatte die Frau wirklich Kolleen gesagt? Gerade als er sich selbst zu Recht weisen wollte, dass es viele Frauen gab die so hießen, kam sie um das Regal herum. Mit einer schnellen Bewegung war er neben dem Regal zu seiner rechten verschwunden, damit sie ihn nicht sah. Doch er sah sie und der Anblick erschreckte ihn.
Ihr schönes Haar war kurz und ihr Gesicht wie ihr ganzer Körper war sehr schmal geworden. Die Augen flackerten nervös, ihr schien nicht wohl zu sein unter so vielen Menschen.
Ihre Mutter, was die Frau wie Severus vermutete war, hatte scheinbar wirklich das richtige Buch gefunden, denn schon bald verließen die beiden den Gang. Erleichtert seufzte er und sah zu möglichst schnell aus dem Geschäft zu kommen.
Selbst als er drei Stunden später in der Großen Halle beim Abendessen saß und zuvor Potter und Weasley geschlagene 20 Punkte abgezogen hatte, konnte er das Bild von ihr nicht aus dem Kopf bekommen. Er fühlte sich miserabel und verließ schnell das Essen um in den Kerkern etwas Ruhe zu finden. Doch kaum zehn Minuten hielt er es dort aus, bevor er das Gefühl hatte von den Wänden erdrückt zu werden.
Die paar Slytherins, die er beim hinaus stürmen anrempelte, ja beinahe umrannte, ignorierte er komplett.
Die eiskalte Winterluft tat gut. Einige Mal atmete er tief durch, bevor er sich auf den Weg zum See machte.
Beinahe unbewusst trugen seine Füße ihn zu der Bank am gegenüberliegenden Seeufer. Erst als er direkt davor stand wurde ihm bewusst wo er war. Seit sechs Jahren hatte er keinen Fuß in diesen Teil der Hogwarts Ländereien gesetzt - zu viele Erinnerungen hingen daran. Es war „ihre" Bank gewesen. Nächtelang hatten sie dort gesessen und geredet oder einfach nur die Sterne beobachtet. Manchmal war sie in seinem Arm eingeschlafen und erst zum Sonnenaufgang hatte er es gewagt sie zu wecken.
Die Erinnerungen schmerzten. Lange hatte er geglaubt sie vergessen zu haben und wenn er nachts von ihr träumte vergrub er es tief in seinem Gedächtnis. Doch als er sie als Aurorin vor sich stehend fand und später an Halloween wurde er eines besseren belehrt. Noch wollte und konnte er es sich nicht eingestehen, aber er liebte sie noch immer.
Seufzend ließ er sich auf die Bank fallen, sie war kalt, eiskalt.
Wieder erschien ihr Gesicht vor seinen Augen.
Ihr Gesicht, bevor er ihr das Gedächtnis nahm. Ihr Gesicht, als Lucius sie quälte. Oh wie hasste er diesen Mann dafür und wie viel mehr hasste er sich selbst, dass er es zugelassen hatte. Die Panik in ihren Augen als sie erkannte, dass es hoffnungslos war und die Leere in ihnen als sie kurz vor der Bewusstlosigkeit war.
Severus fragte sich wie er überhaupt noch in den Spiegel sehen konnte ohne sich übergeben zu müssen. Doch wusste er auch, dass es der Preis war. Der Preis um selbst leben zu können und um hoffentlich einigen anderen das Leben zu ermöglichen.
Es gab Momente in seinem Leben, die meisten mit Kolleen, in denen er wirklich glücklich gewesen war. Die meiste andere Zeit war er zufrieden, aber nun seit Voldemort wieder da war spürte er wie ganz langsam seine Kraft und auch seine Hoffnung schwand.
Noch die halbe Nacht saß Severus auf der Bank und sah über den großen schwarzen See vor sich. Wahrscheinlich hätte er auch noch den Rest der Nacht dort gesessen, wenn nicht ein Geräusch und Stimmen ihn aufgeschreckt hätten.
Er stand auf und ging lautlos in die Richtung aus der sie gekommen waren. Bald sah er wie sich zwei Gestalten gegen den Nachthimmel abhoben. Es waren Schüler keinen Zweifel und sie schienen zum Verbotenen Wald zu wollen. Mit schnellen aber lautlosen Schritten ging er in ihre Richtung und schon bald war er kurz hinter ihnen. Es waren die Weasley Zwillinge. „Halt!" Die beiden blieben abrupt stehen. Snape ging zügig auf sie zu.
„So ihr beiden, würdet ihr mir bitte erklären was ihr Mitten in der Nacht hier draußen macht?"
Fred Weasley wollte beginnen zu erklären. „Ja also, wir haben da vorn..."
„Schweig! Los mitkommen!" Snape ging mit wehendem Umhang voraus und ein leises Fluchen sagte ihm, dass die beiden ihm folgten.
Drei Tage später hatte Kolleen ihren ersten richtigen Einsatz. Zitternd, vielleicht vor Kälte, vielleicht vor Nervosität, stand sie im Schatten einer Mauer und wartete.
Schon bald sah sie Bewegungen und dann schon die ersten Blitze der Flüche ihrer Kollegen. Ein Todesser kam auf sie zu und obwohl ihr Verstand ihr sagte, sie sollte ihn bekämpfen, ließ ihr Körper es nicht zu. Er kam immer näher und hob langsam den Zauberstab. Sie begann zu beben und der Zauberstab fiel aus ihrer Hand. Plötzlich schossen ihr Bilder durch den Kopf. Bilder von Dingen, die ihr bekannt und neu zu gleich waren. Es war als würde sie aus einer Trance erwachen, als etwas Schweres vor ihr zu Boden fiel. Es war der Todesser, von einem der Auroren geschockt.
Als sie im Ministerium ankam, war Kolleen noch immer verwirrt und als Mr. Kinsley sie ansprach entschuldigte sie sich und verschob das Gespräch auf den nächsten Tag.
Endlich in ihrer Wohnung angekommen, fand Kolleen eine Eule am Küchenfenster. Sie ließ sie herein und band ihr den Brief aus dickem Pergament vom Fuß. Überrascht sah sie das Hogwartssiegel auf der Rückseite. Langsam entfaltete sie den Brief und während sie las zweifelte sie zum Teil an der Funktionstüchtigkeit ihrer Augen.
Dumbledore bot ihr die Stelle der Lehrerin für Verteidigung gegen die dunklen Künste an? Das musste ein Scherz sein. Warum jetzt und warum gerade sie?
Die Antwort folgte in den nächsten Zeilen. Die bisherige Lehrerin wollte heiraten und hatte gekündigt und außerdem brauchte Madame Pomfrey etwas Unterstützung.
Als Kolleen zu ende gelesen hatte musste sie sich erst einmal setzten. Das war wirklich alles sehr plötzlich. Als wüsste Dumbledore von ihrem Versagen beim letzten Einsatz und auch das sie irgendwo in ihrem Hinterkopf schon die Überlegung hatte, vielleicht nicht als Aurorin weiter arbeiten zu können.
Da saß sie, an ihrem Küchentisch und starrte die tickende Uhr an der Wand an. Zum hundertsten Mal ging sie den Abend durch und konnte einfach keinen Grund finden warum sie so von Angst erstarrt war, als der Todesser auf sie zukam.
Vielleicht war es noch immer die Ungewissheit und vielleicht hatte der Angriff auf sie doch tiefere Spuren hinter lassen, als sie bis jetzt wusste.
So sehr sie sich auch bemüht hatte, keine klare Erinnerung an diesen Abend war in ihrem Kopf zu finden. Nichts. Und im Stillen hatte sie die Vermutung, dass es ein Gedächtniszauber gewesen sein musste.
Aber warum nur? Warum war sie nicht tot? Es nagten die Vorwürfe, dass sie lebte und Steven nicht mehr. Sie wusste eben einfach nicht was passiert war und das machte ihr am meisten Angst. Bisher hatte sie immer geglaubt Todesser wären einschätzbar, aber nun war Angst der erste Gedanke, der sie traf hörte sie auch nur einen der Namen.
Die Träume mit denen sie Nacht für Nacht gequält wurde, unterstützen diese Angst noch. Besonders weil nicht zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden war.
Gezwungener Maßen ging sie am nächsten Morgen als erstes ins Ministerium. Die Unterhaltung mit Mr. Kinsley war die reinste Katastrophe, da sie einfach nicht erklären konnte was los gewesen war. Er verwarnte sie und sagte ganz deutlich, dass noch so ein Ausfall ihr letzter sein würde.
Danach saß sie lange in einem kleinen Café in einer belebten Muggelstraße und dachte nach. Einerseits war dieses Angebot eine einmalige Chance. In Hogwarts unterrichten zu dürfen war schon etwas Besonderes. Andererseits hatte sie Angst zurückzukehren, und das nicht nur wegen Severus.
Eigentlich verband sie mit ihrer Schulzeit nur schlechte Erinnerungen und warum sollte man an einem Ort arbeiten an dem man fast nur schlechte Erinnerungen hat?
Doch als sie gegen Mittag sich auf den Weg in ihre Wohnung machte, stand ihr Entschluss fest und Zuhause angekommen, schrieb Kolleen als erstes eine Zusage an Dumbledore.
Am Abend kam eine Antwort, in der auch nähere Informationen zum bisherigen Unterricht waren. Als Kolleen den Brief las wurde sie furchtbar nervös, sie hatte nicht mal mehr drei Wochen um sich Unterrichtspläne für vierzehn Klassen und sieben Jahrgänge zu überlegen.
Die folgenden paar Tage verbrachte sie beinahe komplett in der Winkelgasse und vor allem in der dortigen sehr großen Bibliothek. So hatte sie zwei Wochen vor Weihnachten sämtliche Materialien zusammen und jetzt ging es richtig an die Planung, was wirklich nicht einfach war. Dieses Fach war zu einem wirklich ernsten geworden nachdem Voldemort zurück war.
Tatsächlich war sie fast die ganzen zwei Wochen mit der Planung beschäftigt. Erst zwei Tage vor Weihnachten war sie fertig und konnte sich um persönliche Dinge kümmern und Weihnachtsgeschenke für die Familie kaufen.
Geschlafen hatte sie die Tage wenig und so blieben die Alpträume aus und sie verdrängte das erlebte so gut es ging und vergrub den Schmerz tief in der Arbeit.
