Rückwärts in die Dunkelheit

Zu den Sternen schaut man auf,
wenn es auf der Welt nichts mehr zu sehen gibt.
Oder blickt man auf,
wenn man nichts mehr sehen will?

- die letzten Worte eines Sterbenden.


17. Kapitel

Minas Geschichte


"Wenn man die Natur einer Sache durchschaut hat,
werden die Dinge berechenbar."

Blade

Sirius musste feststellen, dass dieser Kodex, den es im Haus der Falken gab, den Schülern überaus wichtig war. Wichtig genug, um ihm offen nicht mit Hass zu begegnen. Sicher, einige schafften es nicht so gut, wie anderen, und feindliche Blicke erntete er nur allzu oft, aber im Großen und Ganzen verhielten sie sich ihm gegenüber höflich, gaben ihm keine Möglichkeit, sie großartig zu provozieren und vermieden Streitigkeiten.

Er hatte Alan zur Rede gestellt, warum dieser am ersten Abend behauptet habe, dass sie jene, die den Stolz über das reine Blut nicht teilten, bekämpfen würden. Der Blondschopf hatte ihn nur verständnislos angeschaut und erwidert, dass sie das ja doch tun würden. Sirius war verwirrt darüber. Er fand nicht, dass sie ihn bekämpften. Sie boten ihm an, im Quidditchteam mitzuspielen, als sie gemerkt hatten, dass er ein brillanter Jäger war; mindestens einer von ihnen leistete Sirius Gesellschaft oder wartete auf ihn, um ihn durch die Schule zu begleiten, damit er sich nicht verirrte, wenn Alan nicht gerade da war und sie achteten darauf, dass er im Unterricht mitkam, da der Stoff sich arg von dem in Hogwarts unterschied. Auch wenn sie einander sehr oft bissige Sprüche an die Köpfe warfen, so hielt sich alles in Grenzen.

Doch obwohl Sirius wusste, dass es der Kodex war, der hinter ihrem formvollendeten Benehmen steckte, glaubte er, dass dieser nicht der alleinige Grund war. Er wusste zwar auch keine andere Erklärung dafür, aber er konnte sich nicht so recht vorstellen, dass nur dieser Kodex der Grund war, dass sie darauf verzichteten, ihn fertig zu machen.

Dieses höfliche Benehmen der Schüler bedeutete auch, dass er kaum Streits vom Zaun brechen konnte. Also war er schnell dazu übergegangen, den Unterricht zu stören, die Lehre der Professoren in Frage zu stellen und vor allem in den Fächern „Schwarze Magie" und „Die Geschichte der Reinblüter" für Furore zu sorgen, indem er ihre Moral als verwerflich hinstellte. Er begann, Streiche zu spielen, die immer wieder eine Spur zu ihm führten, er war unpünktlich und frech, schlich sich nachts durch die Schule, um Geheimwege auszumachen und vieles mehr. Er war in den ersten zwei Wochen schon so gut wie jeden zweiten Tag zu Stoikov oder seinem Hauslehrer Michail Petrowitsch bestellt worden und hatte schnell Erfahrung mit den Folterflüchen gemacht. Zunächst hatte er befürchtet, es würde sich dabei in erster Linie um den Cruciatus-Fluch handeln, aber das war nicht der Fall. Es waren andere, harmlosere Flüche, die dennoch schmerzhaft ihre Wirkung taten. Peitschflüche, die den Effekt von brutalen Hieben auf den Rücken mit einem Gürtel hatten, ohne Narben zu hinterlassen. Mit einer Feder zu schreiben, die sich wie durch Zauberhand in das eigene Fleisch auf dem Handrücken schnitt, tiefer, je mehr man schreiben musste, Flüche, die in den Augen blendeten, so sehr, dass man glaubte, blind zu werden. Zauber, die wie tausend Brennnesseln brannten oder sich wie glühend heiße Nadelstiche auf der Haut anfühlten. Alles Schwarze Magie, die keine körperlichen Male hinterließen, zumindest nicht auf Dauer. Sie dienten lediglich dazu, den Schülern Gehorsam einzubläuen, auf dass sie sich als das benahmen, was sie waren: wohlerzogene Reinblüter aus reichem, stolzen Hause.

Sirius kam soeben aus dem Büro seines Hauslehrers; sein Atem ging noch schwer ob des Folterfluches, mit dem er bestraft worden war, weil er mit grellroter Zauberfarbe die komplette Stirnwand der Eingangshalle mit dem riesigen Schriftzug ‚Ich scheiß auf mein reines Blut' bemalt hatte.

Petrowitsch hatte mit dem Peitschfluch nicht gespart und Sirius hatte Mühe, gerade zu gehen. Seine Schritte waren hölzern und er musste blasser sein als gewöhnlich. Die Zähne hatte er zusammengebissen.

Er hasste diese Folterflüche. Irgendwie glaubte er, dass seine vielen Streiche den Lehrern zwar gehörig auf die Nerven gingen, er damit aber nicht viel erreichte. Außer körperliches Leid erdulden zu müssen, weil er sich mit Absicht keine Mühe gab, seine Spuren bei Streichen zu verwischen. Jeder sollte wissen, dass er der Unruhestifter war, ganz davon abgesehen, dass er der einzige Unruhestifter in dieser Größenordnung war. Aber Stoikov lächelte jedes Mal sein schmallippiges, zynisches Lächeln und sagte zu Sirius, dass er mit seinen mal mehr, mal weniger gefährlichen Streichen nichts bewirkte. Nichts.

So ging er durch die dunklen, edel gehaltenen Gänge der Schule, bis der Korridor in einem halbrunden Kreis endete, dessen Wände nur aus Fenstern bestanden. Es bewirkte, dass der Ort sehr hell war, da draußen die Sonne am wolkenlosen Himmel schien und der viele Schnee hellauf glitzerte und funkelte, als gliche er einem Sternenmeer.

„Manchmal frage ich mich, ob du eine extra Energiequelle hast", hallte eine spottende Stimme zu ihm herüber und Sirius blinzelte. An einem der Fenster stand eine schlanke Gestalt, lässig am Steinsims gelehnt und schaute mit verschränkten Armen zu ihm herüber.

Mina Kisic.

Sirius zog seine Augenbrauen zusammen. „Eine Energiequelle wofür?", fragte er schroff.

„Für deine finsteren Blicke", gab sie pfiffig zurück.

Sirius trat in die halbrunde Wölbung hinein und somit ins Licht. Er fixierte Kisic ungehalten.

Sie lächelte höhnisch. „Immerzu schaust du finster. Ich kenne keinen Menschen, der so oft und vor allen Dingen so lange so dermaßen finster gucken kann. Du musst einfach eine Energiequelle dafür besitzen."

Er schnaubte. Sie mochte sogar Recht haben. „Wenn du dich an meiner Stelle in einer so verdammt miesen Schlangengrube befinden würdest, würdest du auch immer so gucken."

Kisics Lächeln verblasste allmählich. „Wir kommen immer in Windeseile zu diesem Punkt, hm."

Sirius hatte sie mittlerweile erreicht und war einen Meter vor ihr stehen geblieben. Herausfordernd sah er sie an. „Ja, denn darauf bin ich aus."

„Auf Ärger?" Ihre grauen Augen verengten sich leicht. „Du hast es wohl noch immer nicht begriffen, oder?"

Sirius machte eine ungeduldige Handbewegung. Sie ließ ihn einen Schmerz durch seinen Rücken jagen. Er ignorierte ihn. „Doch. Es lohnt sich nicht, mit euch allen Streit anzufangen. Ihr weicht ihm ja doch aus. Egal, was ich sage... ich glaube, ihr würdet sogar noch lächeln und euren beschissenen Kodex preisen, wenn ich den Avada Kedavra auf euch hetze."

Kisic bewegte sich so schnell, dass Sirius glaubte, es verspätet wahrzunehmen. Auf jeden Fall war sie im Bruchteil der Sekunde bei ihm und presste ihm ihren Zauberstab brutal in die Rippen.

„Soweit wird es gar nicht kommen, Black", zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch; ihr Blick flackerte vor Wut. „Nicht, wenn ich schneller reagiere, als du." Ihre Stimme begann vor Hohn zu triefen, als sie fortfuhr: „So, wie jetzt."

Sirius funkelte sie aufgebracht an und stieß sie dann abrupt von sich. Sie taumelte einen Schritt zurück und prallte gegen das breite Fenstersims. Er folgte ihr rasch, sein Gesicht vor Schmerz kurz verziehend, nun seinen Zauberstab an ihre Schläfe gerichtet. Sie hielt ihre Waffe an seinen Magen; es war eine Patt-Situation. Wie schon einmal.

Der Abstand zwischen ihnen war nur noch minimal. Er spürte ihren Atem seinen Hals und seine Wangen streifen. Wieder fühlte Sirius sich flüchtig an Schnee erinnert, wieder nahm er es nur unbewusst wahr.

„Nein, Kisic, du würdest den Fluch niemals auf mich hexen", presste er gereizt hervor. „Denn damit würdest du gegen den Kodex handeln."

Sie hatte ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, ihre Augen waren zusammengezogen, so dass ihre dichten, dunklen Wimpern das Grau der Pupillen bargen. „Vielleicht bin ich bereit, die Regeln zu verletzen, nur um deine verräterische Visage nicht mehr ertragen zu müssen!"

Er lächelte kalt und für seine Augen unerreichbar. „Ich glaube dir nicht. Du nimmst, wie alle anderen, den Kodex sehr ernst." Er wurde spöttisch. „Und das ist deine Schwäche, Kisic. Lege dich mit niemanden an, der sich nicht an deine Regeln hält."

Kisic wollte etwas erwidern, etwas, was zweifellos ihren Streit zum Gipfel gebracht hätte, als sie plötzlich inne hielt, Sirius anstarrte und die Augen weit aufriss. Von Wut war nichts mehr zu erkennen. Purer Unglaube blitzte in ihr auf, gefolgt von etwas, was Entsetzten hätte sein können. Fassungslosigkeit. Verwirren. Irgendetwas davon. Sie sog harsch die Luft ein. Sie wollte zurückweichen, aber das Sims hinter ihr verhinderte dies. Ihren Zauberstab hatte sie sinken lassen.

Sirius schaute sie verstört an. Er stellte fest, dass sie, wenn sie sich weder höhnisch noch verächtlich benahm wie sonst immer im Umgang mit ihm, weit verletzlicher wirkte.

Ihre freie Hand hob sich und sie strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über seinen Hals; ihr Blick war darauf gerichtet und noch immer erschien er entgeistert.

Es kribbelte, als sie ihn am Hals berührte, wo die Haut ohnehin sehr dünn war, und Sirius wich abrupt einen Schritt zurück. „Was ist mit dir?", verlangte er grob zu wissen.

Sie hatte ihren Blick wieder gehoben und sah in seine schwarzen Augen. „Er hat es nicht getan", sprach sie rau. Erstaunt. „Warum nur?" Es war, als redete sie mit sich selbst.

„Wer hat was nicht getan?", fragte Sirius. Seine Hand hatte sich auf die Stelle des Halses gelegt, an der sie ihn berührt hatte. An der Vyperus ihn gebissen hatte, ohne den Biss zu vollenden.

Ihm wurde erst siedendheiß, dann eiskalt. Erschüttert starrte er sie an. Ihre spitzen Eckzähne waren ihm von Anfang an aufgefallen, aber er hatte es als Paranoia abgetan.

„Bist du ein Vampir?", rief er entsetzt aus und hielt überstürzt seinen Zauberstab auf sie gerichtet.

Sie tat nichts, um ihren zu heben. „Sei kein Narr." Nur langsam erkämpfte sie sich ihre Selbstkontrolle und somit ihren Hohn wieder.

Er glaubte ihr nicht. „Oder Halbvampir! Alles dasselbe Pack! Woher wüsstest du sonst davon, he?" Er wich der Vorsicht halber einen Schritt zurück. Verdammt, diese Blutsauger verfolgten ihn aber auch wirklich überallhin.

Kisic seufzte. „Ich wäre beinahe mal gebissen worden."

Fast hätte Sirius die Antwort überhört. „Beinahe?"

„So, wie du offenkundig auch. Aber wenn ein Vampir einmal bei jemandem seine Zähne eingräbt, dann wird eine Verbindung hergestellt, ganz gleich, ob er den Biss zu Ende führt oder nicht. Eine magische Verbindung, die immer bestehen bleibt. Und für all jene, die sie auch besitzen, spürbar ist."

Sirius blieb misstrauisch. Er legte den Kopf leicht zur Seite. „Ach? Und warum merke ich nichts bei dir?"

Kisic hob eine Augenbraue und lächelte breit und gehässig. „Nun, ich nehme an, weil du zu sehr damit beschäftigt bist, dir Ärger mit den Professoren einzuhandeln, als dass du mal auf die wirklich wesentlichen Dinge achten würdest."

Sie löste sich vom Fenstersims und schlenderte an Sirius vorbei. „Aber vielleicht ändert sich das ja noch", fügte sie herablassend hinzu, ehe sie ging.

Sirius starrte noch für einige Augenblicke in die Leere, ehe er sich umwandte und ihr hinterher lief, ohne auf das Brennen der Haut auf seinem Rücken zu achten.

Auf einem der Korridore hatte er sie eingeholt. Er packte ihr Handgelenk und wirbelte sie zu sich herum.

Kisics Augen waren erst groß vor Überraschung, ehe sie sich vor Empörung verengten. „Black", atmete sie zischend aus, „lass mich sofort los."

Sie versuchte sich von seinem Griff zu lösen, aber er war der Stärkere. Er übte noch mehr Druck aus; beiläufig stellte er fest, dass er ihren Puls fühlen konnte. Regelmäßig, aber schneller, als es normal gewesen wäre, ohne direkt zu rasen. Sie war nervös, ging ihm überrascht auf. Er verdrängte den Gedanken. So, wie er einige Schüler ignorierte, die an ihnen vorbei gingen und neugierige und erstaunte Blicke auf sie warfen.

„Erzähl es mir", verlangte er grob zu wissen und funkelte sie an.

Kisics Mund bildete einen schmalen Strich; ihr Gesicht hatte sich verhärtet, einer Maske aus Eis ähnelnd. „Nein, Black."

Sie machte Anstalten, ihren Zauberstab zu ziehen, aber Sirius lehnte sich vor und entriss ihr ihn mit seiner freien Hand. Sie schnappte nach Luft.

„Black, du Idiot! Gib ihn mir wieder!"

Sirius grinste lausbubenhaft, von einer plötzlichen Eingebung übermannt. Er ließ sie los, umklammerte seinen eigenen Zauberstab zur Vorsicht und ging einige Schritte zurück.

„Hol ihn dir, Kisic. Um Mitternacht. Im Raum neben der Drachenstatue im dritten Stockwerk", sagte er verschmitzt.

xx

James war gelangweilt. Ohne Sirius war hier so vieles langweilig. Trotz seiner Streiche, die er nach wie vor allen spielte und die Lehrer damit bis zum Rande der Verzweiflung brachte, trotz seiner Streitereien und Duellgefechte mit den Slytherins, trotz seines intensiven Quidditchtrainings und trotz Remus und Peter war die Schulzeit so gänzlich anders, als sonst. Ruhiger, trostloser, belangloser.

Er vermisste Sirius. Seinen besten Freund.

Was dieser gerade wohl tat? James saß bei McGonagall im Klassenraum und musste mit Regulus zusammen nachsitzen. Sie waren bei einem erhitzten Duell von der Hexe erwischt worden und sie hatte beiden neben Punktabzug zu drei Wochen Nachsitzen verdonnert. Da sie beide in unterschiedlichen Jahrgängen waren, mussten sie unterschiedliche Essays verfassen.

McGonagall saß hinter ihrem Pult und korrigierte Tests. Hin und wieder warf sie einen scharfen Blick über ihre Brille hinweg zu den beiden Jungen, die scheinbar friedlich, aber unendlich finster an ihren Tischen saßen.

Der Gang trennte sie, dennoch saßen sie beide ganz hinten und auf gleicher Höhe. James hatte sich mit dem Stuhl nach hinten gegen die Wand gelehnt und kaute auf seinem Federkiel. Regulus schrieb emsig.

Nach einer Stunde klopfte es und ein fünfzehnjähriges Mädchen lugte hinein. Hufflepuff. „Verzeihung, Professor, aber Professor Moody schickt mich. Er lässt fragen, ob Sie kurz Zeit hätten, denn er habe eine außerordentliche Entdeckung gemacht, die keinen Aufschub dulde."

McGonagall wirkte nicht überrascht, im Gegenteil. Ihr Gesicht erhellte sich und sie stand auf. Streng sah sie zwischen Regulus und James hin und her. „Ich bin gleich wieder da und wehe Ihnen, sie tun irgendetwas anderes, als schweigend sitzen zu bleiben und weiter zu schreiben!"

Damit eilte sie hinaus.

Als die Tür hinter ihr zuschlug, kippte James wieder mit seinem Stuhl nach vorne und starrte Regulus angriffslustig an.

Regulus tat so, als würde er es nicht merken, dann sah er provozierend langsam auf und würdigte James eines höhnischen Blickes. „So einsam und verlassen ohne meinen Bruder, hm?"

„Dafür, dass ich dich jederzeit im Duell schlagen kann, spuckst du große Töne, Schlange", zischte James. Er war zu jedem Streit bereit.

Regulus' Augen verengten sich. Offensichtlich wollte er zu einer Antwort ansetzen, die zweifellos zu einem Kampf geführt hätte, aber dann schien er es sich rasch anders zu überlegen. Schließlich musste er wissen, dass er der Unterlegenere war.

„Vyperus hält sich in Rumänien auf", sagte er. Er sprach schlicht und neutral, als wäre eine derartige Bemerkung das Normalste auf der Welt.

James blinzelte. „Was?"

„Hörst du schlecht?", entgegnete Regulus gehässig.

James drohte ihm mit der Faust. Aber dann ging er darauf ein. Er wusste, dass das hier wichtiger war, als ihr ewiges Gezänke.

„Woher weißt du das?" Vyperus hatte sich seit ihrem Abenteuer im Black'schen Haus niemals mehr bei Sirius blicken lassen, aber alle drei Jungen wussten, dass er es noch tun würde. Ein Vampir machte niemals leere Drohungen.

„Von meinem Vater. Vyperus scheint mit irgendwelchen Mafia-Banden zu verhandeln."

„Wegen der Kette?", erkundigte sich James; er saß wie auf heißen Kohlen. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte Regulus solange geschüttelt, bis er sofort alles im zügigen Tempo erzählt hatte.

Dieser hob seine Schultern. Seine schwarzen Augen waren diesmal ohne Hohn. Es war ein seltsamer und doch vertrauter Anblick. Immerhin sah er seinem Bruder ähnlich. „Das weiß ich nicht. Aber Vyperus steckt ja auch im Machtkampf mit Stoyân. Vielleicht sucht er Verbündete?"

„Vyperus hat Stoyân einen Treueid geschworen", hielt James dagegen.

Regulus lächelte schwach. Irgendwie beinahe schon mitleidig, weil James offensichtlich noch an etwas glaubte, was der Slytherin für verloren hielt. „Na und?"

Der Gryffindor schnaubte. „War ja klar, dass du davon nichts hältst. Slytheringesindel."

„Halt's Maul, Potter. Nur weil Vyperus das getan hat, muss das noch lange nicht heißen, dass er plötzlich auf diese Machtansprüche verzichtet. Dass er sich daran hält. Immerhin ist er soweit gegangen, Dad die Kette zu stehlen, obwohl er gewusst haben musste, dass es ein Geschenk von Stoyân war!"

James legte die Stirn in Falten und nickte nachdenklich. „Mmh... wenn er das wusste, würde das einer indirekten Kriegserklärung an Stoyân gleichen. Aber vielleicht wusste er es auch gar nicht. Oder hat es nur angenommen, aber es war ihm gleich, weil die Kette wichtiger ist, als alles andere?"

Beide Jungen sahen sich an.

„Ich habe in letzter Zeit viel mit Dad darüber geredet", fuhr Regulus schließlich langsam fort.

James merkte nicht, wie ungewöhnlich, wie seltsam es war, ohne Feindseligkeit mit Regulus zu reden. Das Thema ‚Vyperus' war zu bedeutend, zu spannend und zu gefährlich für sie – für Sirius, der beiden Jungen wichtig war – als dass ihnen auffiel, dass sie sich wie zwei Schüler benahmen, die sich aus Zweck verbündet hatten.

„Schau mal", meinte der Slytherin nun und holte eine Pergamentrolle aus seiner Schultasche. Er rollte sie aus und strich sie glatt.

James wog die Situation kurz ab, dann stand er auf, setzte sich neben Regulus und sie beide beugten ihre Köpfe über das Pergament.

Eine Karte von Großbritannien war dort abgebildet; die Familienwappen von Reinblütern waren darauf gekennzeichnet. Nicht nur von uralten Familien, auch von den neueren, somit waren sehr viele überall zu sehen, auch das der Potters.

Regulus deutete auf Cambridge, im Osten Englands. Es handelte sich dabei um die Hauptstadt der Grafschaft Cambridgeshire. Die Stadt lag am Fluss Carn, etwa 80 Kilometer nordöstlich von London entfernt. „Hier. Siehst du?"

Dort befand sich überraschenderweise nur ein einziges Wappen. Ein mit einer Rose verzierter Dolch, um den sich eine Schlange wand, auf schwarzem Grund.

„Das ist das geheime Wappen von Sev", fuhr Regulus fort. „Offenbar leben in Cambridge sonst nur Muggle und Schlammblüter. Es ist die aktuelle Karte. Wenn Sev dieser Junge damals im Verbotenen Wald war, immer vorausgesetzt, er ist Vyperus' Sohn, dann könnte dort in Cambridge seine Mutter leben."

James nickte, überhaupt nicht merkend, wie Regulus ein Schimpfwort für Mugglestämmige benutzt hatte. „Und?"

Regulus warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. „Es würde sich lohnen, ihr mal einen Besuch abzustatten", grinste er schelmisch. „Sie würde uns vielleicht ein paar interessante Dinge erzählen. Über Vyperus. Wenn sie denn diese heimliche Liebe von ihm ist."

James starrte ihn an. Die Idee war genial. Das war sie. Vielleicht erzählte sie ja tatsächlich was. Es war ziemlich naiv, das zu glauben, aber die Hoffnung starb bekanntlich immer zuletzt. Und vielleicht sagte sie etwas, was ihnen – vor allem Sirius – bei der nächsten Begegnung mit Vyperus helfen konnte.

„Ja, das... das wäre cool!" Er wusste nicht, ob Regulus meinte, dass sie Mrs Snape zusammen einen Besuch abstatten sollten, oder einer von ihnen oder gar mit Sirius. Sirius wäre erst in drei Monaten wieder hier und alleine war es zu gewagt, das musste selbst Regulus wissen. Er schob den Gedanken erst einmal beiseite, denn darüber wollte er jetzt lieber nicht nachdenken.

„Aber das ist nicht das Familienwappen von den Snapes", meinte er nun mit fiebriger Stimme. Er dachte angestrengt nach. „Snapes Mom ist mit einem Mr Snape verheiratet, von dem dein schmieriger Freund den Namen hat. Und wir vermuten, dass seine Mutter eine Affäre mit Vyperus alias Serpentys hatte und sie ein Kind zusammen haben. Aber warum wird dort nicht das Wappen der Snapes angebildet, sondern das von Vyperus?"

Er sah Regulus kurz an, der grüblerisch auf die Karte schaute. Sein Haar war ordentlich aus der Stirn gekämmt und wie immer machte er einen tadellos gepflegten Eindruck. In den sonst so kalten Augen leuchtete es ein wenig. „Sevs Vater- also, der Stiefvater, Mr Snape, ist tot. Ich weiß nicht, wieso er so früh gestorben ist, aber..."

„Vielleicht hat Vyperus ihn ermordet", flüsterte James und wusste selbst nicht, wieso er so leise sprach.

Regulus schaute ihn verblüfft an, dann nickte er, langsam lächelnd. „Ja... ja, natürlich, was wäre naheliegender?"

„Und dann hat Mrs Snape einfach Vyperus' Wappen übernommen?" Irgendwie machte das für James keinen Sinn. „Aber fällt das nicht auf, wenn jemand einfach so das Wappen wechselt und gar eines annimmt, das einem Vampir gehört?"

„Normalerweise schon", gab Regulus zu. „Aber weißt du, das ist hier ja nicht irgendeine Karte." Er grinste James hochtrabend an. „Mein Vater hat sie mir geschickt. Vielleicht ist es eine illega– ich meine, eine sehr seltene Karte und vielleicht sieht man auf allen anderen, die man kaufen kann, nach wie vor das Wappen der Snapes."

James schnaubte. Klar. Er hätte wissen müssen, dass dies eine auf einem Schwarzmarkt erworbene Karte war. Aber wie dem auch sei, sie war sehr nützlich. Regulus mochte Recht haben. Vielleicht wehte offiziell das Banner der Snapes in Cambridge, aber inoffiziell das von Vyperus. Serpentys. Die Schlange. Der Vampir hatte viele Namen.

Sie schauten wieder auf die Karte, um die Entfernung auszumessen. In dem Augenblick öffnete sich die Tür und McGonagall kam herein.

Abrupt hielt sie inne, als sie die beiden sonst so verfeindeten Schüler friedlich nebeneinander hocken sah, die beiden dunklen Haarschöpfe über ein Stück Pergament gebeugt. Sie war mehr als bloß erstaunt. Damit hätte sie nicht gerechnet, es glich nahezu einem Wanken ihres Weltbildes.

Sie lächelte unwillkürlich. War ein Zusammenhalt der Häuser doch nicht so abwegig, wie sie immer dachte?

Dann räusperte sie sich und ging zu ihrem Pult.

James und Regulus fuhren zusammen, ersterer sprang entsetzt auf.

„Professor!", rief er, als sei er bei etwas Verbotenem erwischt worden. Hastig eilte er zu seinem eigenen Platz.

„Ihr scheint euch ja nicht gestritten zu haben", bemerkte McGonagall amüsiert und beließ es dabei.

xx

Nach dem Nachsitzen eilte James zum Quidditchtraining. Regulus hatte ihm ein „Wir reden später drüber", zugeraunt und ihm war wieder bewusst geworden, wer Regulus eigentlich war.

Er hatte sich seinen Rennbesen geschnappt und rannte durch Hogwarts, sichtlich verwirrt, dass er bereit war, mit dem Slytherin eine Nacht-und-Nebel-Aktion nach Cambridge zu starten, wenn sie sich davon nur irgendeinen, noch so kleinen Vorteil für Sirius versprechen konnten.

Es bestürzte ihn auf eine merkwürdige Art und Weise, die ihn zugleich beruhigte, da es ihm deutlich machte, wie sehr er Sirius als Freund schätzte, wenn er sogar kurzzeitige Bündnisse mit Regulus schloss.

Ein Zusammenprall mit jemandem ließ ihn aus seinen Gedanken hochschrecken. Er taumelte nach hinten und fiel zu Boden. Er rieb sich den Kopf und blinzelte etwas.

„Au, Potter, kannst du nicht aufpassen, wo du hinrennst?", drang eine ärgerliche, glockenhelle Stimme an sein Ohr.

Er nahm seine Hand herunter und lächelte unwillkürlich. „Lily!", rief er aus und begann, aufzustehen. Er hielt dem rothaarigen Mädchen die Hand hin, um ihr aufzuhelfen.

Lily ignorierte es und stand von selbst auf.

James ließ sich davon nicht beeindrucken. „Wie geht's?"

„Gut, aber ich wüsste nicht, was dich das angeht", erwiderte sie schroff.

James' Gesicht verdüsterte sich ein wenig. Seit er Snape in aller Öffentlichkeit fertig gemacht hatte, war sie nicht gut auf ihn zu sprechen gewesen. Er hielt sie für nachtragend und konnte nicht verstehen, warum sie immer noch sauer auf ihn war. Ihm kam erst gar nicht in den Sinn, dass es womöglich nicht allein an Snape lag, sondern an seiner überheblichen Arroganz, mit denen er allen Mitmenschen begegnete. Allen. Bis auf Sirius.

„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?", zog er sie mit einem Mugglesprichwort auf, das er mal von einem Gryffindor gehört hatte.

Sie sah ihn ein wenig überrascht an, lächelte sogar schwach, aber das war wohl ein Versehen gewesen. Denn sie zog sofort ihre Augenbrauen zusammen und strich sich mit ihrer linken Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre smaragdgrünen Augen funkelten. „Diese Laus bist du, Potter", giftete sie.

James grinste. „Sieh an, sieh an." Er machte eine spottende Geste. „Ich treibe mich überall herum, manchmal scheint mir zu entfallen, wo überall."

Sie warf ihm einen gereizten Blick zu. „Ja, sehr witzig. Wieso schreibst du Black deine Sprüche nicht, hm? Ich wette, er würde darüber lachen." Sie wollte weitergehen.

Über James' Gesicht legten sich flüchtige Schatten, die sogar seine Augen ein wenig zu verdunkeln schienen. Auch wenn es nur ein milder Ausdruck war, Lily schien er nicht entgangen zu sein. Denn sie blieb stehen, schaute ihn erst betroffen, dann mitfühlend an.

„Du vermisst ihn, hm", sagte sie und sprach zum ersten Mal nach langer Zeit wieder in freundlichem Ton zu ihm. So, wie in ihrem ersten Schuljahr.

James wollte nicken, als er ihr Mitleid spürte. Er spannte sich an, wurde sogar zornig und ging abrupt einen Schritt zurück. Dann bückte er sich, hob seinen Besen auf und stolzierte an Lily vorbei. „Ich wüsste nicht, was es dich angeht", zischte er, dieselben Worte benutzend, wie sie zuvor. Was erdreistete sie sich, Mitleid mit ihm zu haben? Er hatte das nicht nötig. Natürlich vermisste er Sirius, aber das war kein Grund, ihn zu bemitleiden. Am liebsten würde er ihr zurufen, dass er in drei Monaten ohnehin wieder hier sei, aber er unterließ es lieber.

Lily starrte ihm verblüfft hinterher.

xx

Der Raum in Durmstrang neben der Drachenstatue aus glanzpoliertem Stein war groß, offenbar eine alte, längst verlassene Tanzhalle, die ihre Funktion nicht mehr erfüllte. Nur die Hauselfen kamen regelmäßig, um sauberzumachen. Es war ein recht versteckter, von Schülern selten besuchter Raum, wie Sirius rasch festgestellt hatte.

Der Raum war hoch gewölbt. In Silber eingefasste Säulen standen etwa sieben Meter von den vier Raumecken entfernt, so dass zwischen ihnen und den vier Wänden ein Gang entstand, der von einem bordeauxroten Teppich überdeckt war. Runde Tische mit Stühlen aus Rosenholz standen dort, deren Beine von unechten Schlangen umrankt wurden. Die Augen der Schlangen waren aus Diamanten und funkelten im schwachen Fackellicht. Der Boden in der Mitte der Halle war aus schwarz glänzendem Marmor, hin und wieder leuchtete ein weißes Quadtrat auf. Die silbernen Säulen bildeten die Stützpfeiler der Tanzfläche. An der breiten Wand gegenüber der Tür befand sich eine Glastür, die zum Balkon hinausführte; eingerahmt von hohen Fenstern. An den Seitenwänden hingen jeweils die Portraits der beiden Gründer. Darunter befand sich auf jeder Seite ein riesiger Kamin, in das Feuer brannte, obgleich der Raum sonst nie benutzt wurde.

Sirius lehnte lässig mit verschränkten Armen an dem breiten Fenstersims neben der Balkontür. Seine schwarzen Haare fielen ihm wie eh und je in die Augen, ohne dass es ihn störte. Der Mond schien schräg durch die Fenster und tauchte die Halle in silbergoldenes Licht. Die große Wanduhr schlug Zwölf und pünktlich zum letzten Schlag öffnete sich die Tür und Kisic trat herein.

Sie schloss die Tür hinter sich und blieb stehen. „Los, gib ihn mir wieder her."

Sirius war ihr den ganzen Abend mühelos ausgewichen, so dass sie keine Chance gehabt hatte, ihm irgendwelche fintenreichen Fallen zu stellen, um ihren Zauberstab wieder zu erlangen.

„Erst, wenn du mir deine Geschichte erzählt hast", entgegnete er kompromisslos.

Kisic stemmte ihre Hände in die Hüften. „Welche Geschichte, verdammt?", blaffte sie ihn an.

Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Die Vampirgeschichte."

Kisic starrte ihn an. Dann, nach scheinbar endloser Zeit des Stillstehens und Schweigens kam sie langsam auf ihn zu. Das Mondlicht reflektierte sich in ihren Augen und machte sie heller. Sie setzte sich auf das Sims neben ihm und schaute geradeaus, nahezu in die Leere hinein.

Sirius runzelte die Stirn. Er mochte es nicht, dass sie beide so einträchtig nebeneinander waren. Denn es war nur Schein.

„Warum willst du das wissen?", brach sie die Stille. Gleichmut schwang in ihrer Stimme mit.

„Weil ich von derartigen Verbindungen nichts wusste und ich einfach mal deine Geschichte hören wollte", sagte Sirius. Er wollte es wissen, weil er Vyperus und dessen düsteres Versprechen, noch mal vorbeizuschauen, nicht vergessen hatte. Sie schien mehr über Vampire zu wissen als er, also konnte es nur von Vorteil sein, ihre Erlebnisse zu hören. Er grinste geisterhaft. „So von Leidensgenosse zu Leidensgenosse."

Sie schnaubte und stieß ihn ohne Vorwarnung in die Rippen.

„Weißt du, man trifft nicht an jeder Straßenecke jemanden, der ebenfalls schon mal einem Vampir begegnet ist", fuhr Sirius fort, obgleich er es gar nicht mal so unwahrscheinlich fand, hier in Durmstrang auf jemanden zu treffen. „Erzähle es mir und du kriegst deinen Zauberstab wieder."

Sie warf ihm einen höhnischen Seitenblick zu. „Dir ist schon bewusst, dass ich auch einfach zu Stoikov gehen kann?"

Das war ihm durchaus bewusst. Er hatte einfach darauf gesetzt, dass sie es nicht tun würde. Aus Neugierde, um vielleicht im Gegenzug seine Geschichte zu hören.

„Aber noch hast du es nicht getan."

„Und deswegen schlage ich dir einen Deal vor, Black." Sie sprach kühl. „Ich erzähle dir meine Geschichte, du mir deine und ich werde nicht zu Stoikov gehen."

Sirius unterdrückte ein Lächeln. Manchmal waren Reinblüter aus ähnlichen Häusern, wie er, so berechenbar. Alles lief so, wie er es sich vorgestellt hatte. „Einverstanden."

Kisic lehnte sich zurück. Sie zögerte noch eine Weile und schien nach Worten zu suchen. Sirius übte sich ausnahmsweise mal in Geduld.

„Es war im letzten Winter. Wir hatten Weihnachtsferien und ich besuchte mit meiner Familie Freunde in Chile", begann sie schließlich, noch ein wenig schleppend. „Wir... wir wohnten bei meiner Tante in ihrer Villa. Meine Cousine Marijana, sie – sie ist achtzehn, hatte zu dieser Zeit einen gutaussehenden, jungen Mann in ihrem Alter kennen gelernt. Nachts, auf einer dieser schicken Partys. Sie hatte eine Affäre mit ihm, obwohl sie mit Jamie zusammen war, dem Neffen des englischen Zaubereiministers. Jamie war auf Hogwarts zur Schule gegangen und hatte danach eine Ausbildung in Chile über alte, magische Artefakte angefangen. Er hat ständig an Ausgrabungen teilgenommen."

Sie zog ihre Beine an und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe, ehe sie weiter in Erinnerung schwelgte.

Eines Tages kam Jamie aufgeregt zu Marijana. Mina kam soeben die Treppe herunter und sah beide in der Eingangshalle stehen. Jamies Gesicht war erhitzt und er redete aufgewühlt auf Marijana ein. Sie selbst stand ruhig vor ihm und versuchte ihn zu beruhigen. Es war kein negativer Aufruhr, stellte Mina rasch fest. Jamie schien begeistert. Aber auch sehr verwirrt. Vielleicht hatte er bei seinen Ausgrabungen eine Entdeckung gemacht und war auf ein besonders seltsames, wertvolles Artefakt gestoßen.

Seine dunkelblonden Haare klebten ihm schweißnass auf der Stirn, seine stürmisch blaugrauen Augen waren aufgerissen. Hin und wieder lachte er ungläubig.

Mina kam näher und einige Satzfetzen drangen zu ihr.

Marijana, ich kann es noch immer kaum glauben! Hast du eine Ahnung, was es bedeutet, wenn..."

Er wurde ein wenig leiser und Mina verstand die letzten Worte nicht, dafür aber die Antwort ihrer Cousine.

Jamie, ich bitte dich, häng dich nicht so sehr da rein. Nachher ist es doch nicht das, was du vermutest und du bist wieder so enttäuscht, wie beim letzten Mal." Ihre weiche Stimme klang ungeduldig, ihr Blick aus den grauen Augen, die Minas so sehr ähnelten, war eindringlich.

Er winkte großspurig ab. „Diesmal bin ich mir wirklich, wirklich sicher, Marijana!"

Diese seufzte.

Ich treffe mich heute Abend mit einem Typen", fuhr Jamie ruhelos fort. Er grinste ohne Unterlass. „Er soll Archäologe sein und sich mit antiken, magischen Gegenständen vortrefflich auskennen! Ich hoffe, er kann mir weiterhelfen!"

Er gab Marijana einen schnellen Kuss. „Ich muss jetzt auch wieder los! Wir stecken mitten in der Arbeit!" Er lief zur Tür und drehte sich noch einmal um. „Wünsch mir Glück, Süße!"

Er erblickte Mina, winkte ihr fröhlich zu, dann eilte fort.

Marijana starrte noch einige Augenblicke auf die zugefallene Tür, dann wandte sie sich um. „Hallo, Mina", sagte sie müde und ging auf sie zu. Im Vorbeigehen fuhr sie dem jüngeren Mädchen liebevoll durch das dunkle Haar. „Wie geht's dir, hm?"

Gut."

Marijana war schon weitergegangen und Mina drehte sich zu ihr um. Ihre Cousine war dabei, die Wendeltreppe hochzugehen.

Warum erzählst du Jamie nichts von deinem Geliebten?"

Marijana blieb wie erstarrt stehen, dann wirbelte sie abrupt herum, blass im Gesicht. „Was?"

Warum...", fing Mina gehorsam an, aber Marijana unterbrach sie harsch.

Wie kommst du denn auf so was?" brauste sie auf, eilte die Treppe wieder herunter, packte das Mädchen an den Oberarmen und schüttelte sie leicht.

Hey, lass mich los!", rief Mina entrüstet und versuchte sich loszureißen – vergeblich. „Ich hab dich gestern Nacht gesehen. Mit diesem Jungen. Auf dem Balkon im zweiten Stockwerk."

Marijana ließ sie los. Sie atmete tief ein und wieder aus, so, als müsste sie sich selbst beruhigen. „Bei allen dunklen Mächten, ich hoffe, du hast deine Entdeckung für dich behalten?"

Mina funkelte sie böse an. „Bisher schon", entgegnete sie frech. „Aber wenn du mich noch mal so behandelst, werde ich es allen erzählen!"

Ihre Cousine biss sich auf ihre Unterlippe. „Ja, weil du eine kleine Göre bist", murmelte sie, noch immer fassungslos. „Also gut, Mina, hör zu. Erzähle niemanden davon, okay?"

Mina wich einen Schritt zurück und stemmte ihre Hände in die Hüften. Herausfordernd sah sie ihre Cousine an. „Nur, wenn du mir alles erzählst!"

Marijana stierte sie ungläubig an. „Träum weiter, Mädel."

Mina schürzte die Lippen. Dann begann sie laut zu rufen. „Taaaanteeeeee Duuuunjaaaa!"

Marijana keuchte auf, sprang auf Mina zu und presste ihr die Hand auf den Mund. „Okay, okay, Mina, ich erzähle dir alles, aber hör auf damit, klar? Ich will, dass du mir versprichst, es niemandem hier zu sagen, was du gesehen hast und was du von mir erfährst!"

Mina befreite sich mit einem Ruck. „Ist gut."

Komm mit." Marijana wandte sich um und eilte die Treppe hoch, Mina folgte ihr. Sie gingen in Marijanas großes Zimmer und setzten sich auf ihr Himmelbett.

Marijana seufzte. „Du bist echt schlimm, weißt du das?"

Mina machte nur eine auffordernde Geste und grinste hämisch, die finsteren Blicke ihrer Cousine ignorierend.

Marijana starrte sie für einige Augeblicke übellaunig an. Dann fing sie an. „Er heißt Drago Dronvšek. Wir haben uns auf einer Party kennen gelernt." Marijana hob die Schultern. „Er ist charmant, sieht gut aus und... ich weiß auch nicht. Ich liebe Jamie. Aber Drago ist... anders. Er hat irgendetwas, was mich unglaublich an ihm fasziniert und auch wenn ich mir bei jedem unserer Treffen fest vornehme, damit Schluss zu machen, so schaffe ich es einfach nicht."

Dieses unverblümte Eingeständnis beeindruckte Mina ein wenig. Sie selbst hatte in der gestrigen Nacht nur schattenhaft etwas vernehmen können und wusste somit nicht, wie Drago aussah. Nur seine Stimme hatte sie gehört. Sie war dunkel, ein wenig spitzbübisch und doch war sie kühl.

Drago geht ohnehin bald fort. Er hält sich nur für einen Monat hier auf und drei Wochen ist er bereits hier", fuhr Marijana fort. „Dann ist er fort und ich werde ihn nie wieder sehen. Dann wird sich alles von selbst gelöst haben und ich muss Jamie nichts davon erzählen."

Mina sah Sirius flüchtig an. Der Mond tauchte die beiden Schüler in mystisches Licht. „Was Marijana nicht wusste, war, dass dieser Drago und Jamie sich kannten. Drago war jener Archäologe, mit dem Jamie sich noch am selben Abend traf. Es war Zufall, dass ich sie traf. Sie waren im selben Zaubererrestaurant, das ich mit meiner Mutter besuchte. Sie hatte Jamie sofort gesehen und kurz hinüber gewinkt. Wir sind nicht hingegangen, weil wir auf den ersten Blick gesehen hatten, dass es ein geschäftliches Treffen war und wir nicht stören wollten. Er saß ein wenig im Schatten, ich konnte nicht viel erkennen. Nur ein blasses, hübsches Gesicht. Mutter und ich setzten uns an den vorbestellten Tisch und ein Kellner kam, um uns zu bedienen. Irgendwann kamen Jamie und sein Begleiter an unserem Tisch vorbei. Sie waren fertig und wollten gehen."

Frau Kisic, Mina, lasst es euch schmecken", sagte Jamie augenzwinkernd.

Danke, Jamie", lächelte Minas Mutter.

Das ist mein Geschäftspartner", sagte Jamie und deutete auf den jungen Mann neben ihm.

Mina musterte ihn flüchtig. Dunkles Haar, die Augen gesenkt, so dass sie mehr nicht erkennen konnte. Hochgewachsene, schlanke Figur und teure, in dunklen Farben gehaltene Kleidung. Er hatte eine finstere, faszinierende Ausstrahlung, die ihr keinesfalls entging.

Sie bekam nur noch den letzten Satzteil von Jamies Vorstellung mit. „Drago Dronvšek."

Mina hätte beinahe ihre Gabel fallen gelassen. Sie starrte Drago an. Marijanas Geliebter.

Wir müssen jetzt gehen. Einen schönen Abend noch", lächelte Jamie.

Drago machte eine knappe Verbeugung, lächelte charmant und folgte ihm.

„Später am Abend kam Jamie noch in die Villa. Er war mit Drago gekommen. Marijana war leichenblass gewesen. Drago aber tat so, als würde er sie nicht kennen. Er hatte zwei verschiedene Augenfarben, wie ich nun feststellen konnte. Eines war blau, das andere grün. Er hatte spitze Eckzähne. Das fiel mir auf, weil ich selbst welche habe. Jamie war sehr glücklich gewesen, offenbar hatte sich seine Vermutung über dieses ausgegrabene Fundstück als Tatsache erwiesen. Drago schien ein wenig angespannt. Jamie hatte eine Box aus Rosenholz mitgebracht, darin lag das magische Artefakt. Er hatte aber nicht gezeigt, was sich da drin befand. Ich schnappte nur auf, dass es sich um eine Kette handelte."

Spät in der Nacht war Mina aufgewacht. Sie war von irgendetwas wach geworden und lauschte in die Stille des großen Hauses hinein. Hier und da knarrten die Dielen. Dann hörte sie es. Es waren unterdrückte Geräusche, als ob jemand schreien wollte, aber nicht konnte.

Mina nahm kurzentschlossen ihren Zauberstab und schlich sich aus dem Zimmer. Ihr Herz klopfte wie wild. Aber vielleicht hatte Marijana ja auch nur einen Albtraum und wurde nicht wach davon. Deren Zimmer lag am anderen Ende des Ganges. Jamie übernachtete bei ihr. Womöglich hielt er sich noch im Wohnsaal auf. Oder in der hauseigenen Bibliothek. Mina kam an der Treppe vorbei und sah dämmriges Licht im zweiten Stockwerk. Von dort kamen auch die Geräusche. Als ob jemand gegen einen anderen zu kämpfen versuchte.

Mina runzelte die Stirn. Sie war von irgendeiner unsichtbaren Macht gepackt worden, vielleicht der Neugierde, und sie huschte auf lautlosen Sohlen die Stufen hinab. Es war im Lesesaal. Jamie saß dort oft noch, wenn er hier schlief und las bis spät in die Nacht hinein in den alten Büchern. Er war ein hoffnungsloser Bücherwurm. Die Tür war nur angelehnt. Die Geräusche wurden lauter. Es war wie ein entsetztes Wimmern.

Mina drückte leise die Tür auf und schlich hinein. Sie blieb wie erstarrt stehen. Jamie stand dort, von Drago gepackt und versuchte sich loszureißen. Drago hatte sein Gesicht in dessen Halsbeuge vergraben und... und schien direkt in die Halsschlagader hineingebissen zu haben, um das Blut auszusaugen. Jamies Augen waren vor Furcht und Entsetzen weit aufgerissen, seine Gegenwehr wurde schwächer und schwächer.

Und Mina schrie. Laut und voller Schrecken.

Sie sah noch, wie Drago Jamie losließ und dieser leblos zu Boden sank.

Sie drehte sich um und rannte los, schreiend, aber noch ehe sie die Tür erreicht hatte, war Drago bei ihr. Er bewegte sich schnell, schneller, als ein Mensch.

Sie kreischte immer noch hysterisch.

Er packte sie roh, hielt seine Hand auf ihren Mund gepresst, sodass ihr Schrei verstummte und biss auch sie. Nur leicht, nur ansatzweise – denn Minas Eltern erschienen in Begleitung von ihrer Tante Dunja und Marijana. Minas Mutter fing ebenfalls sofort an zu schreien. Ihr Vater war geistesgegenwärtig genug und schleuderte den Todesfluch auf Drago.

Das grüne Licht traf ihn mit einer solchen Wucht, dass der Vampir zurückgeschleudert wurde.

JAMIEEE!", kreischte Marijana in diesem Augenblick.

Drago war zu Boden gesunken, doch noch ehe irgendeiner reagieren konnte, war er taumelnd aufgestanden. Er grinste und seine Eckzähne, nun lang und spitz, funkelten gefährlich auf. Seine Lippen waren blutrot und Blut floss an einem Mundwinkel herunter.

Marijanas lautes Wehklagen erfüllte den Raum.

Drago hechtete zum Schreibtisch, nahm das Kästchen aus Rosenholz, in dem sich das magische Artefakt befand und eilte zur offenen Balkontür.

Avada Kedavra!", schrie Minas Vater noch einmal, aber diesmal wich Drago mit einer nahezu unverschämten Leichtigkeit aus. Er lächelte. „Myladies. Gentlemen. Einen angenehmen Abend wünsche ich noch."

Dann lief er auf den Balkon und war kurz danach verschwunden.

Marijana war zu Jamie geeilt und kniete neben ihm. Sie jammerte und weinte, vollkommen außer sich.

Dunja rief mittels Floopulver einen Heiler.

Mina selbst stand bei ihrer Mutter, die mit fahrigen Bewegungen ihren Hals untersuchte und unablässig irgendetwas murmelte. Das Mädchen stand unter Schock.

Sie bekam alles, wie durch Watte mit. Wir durch einen dichten Nebel. Es war, als stünde sie neben sich, und obwohl sie alles wahrnahm, alles registrierte, schien nichts wichtig. Es war der reflexive Selbstschutz der Seele, der sich für befristete Zeit von der Realität abkapselte, wenn die Psyche Dinge hatte ertragen müssen, der sie nicht standhaft war.

Der Heiler konnte nur noch Jamies Tod feststellen. Bei Mina selbst beruhigte er die Familie. Sie war nicht richtig gebissen worden.

„Ja... das war die Geschichte", schloss Mina mit rauer Stimme ab. „Meine Cousine wird immer noch nicht damit fertig. Mom befürchtet, sie wird irgendetwas Dummes anstellen, um dieser Welt zu entfliehen. Oder sich bei Drago zu rächen."

Sirius starrte sie entgeistert an, als habe er die letzten Worte nicht mitbekommen. „Dieser Jamie ist tot? Wieso stand das nicht im Tagespropheten? Er ist immerhin der Neffe des-"

„Keine Zeitung berichtete darüber. Auch nicht die in Chile. Offenbar wurde es ihnen verboten. Marijana wusste noch zu erzählen, dass Drago Jamie öfter nach England und dem englischen Zaubereiministerium ausgefragt hatte. Jamie hatte ihm geheime Informationen sowohl über die derzeitigen Politiker, als auch über irgendeinen Torbogen verschafft und im Gegenzug dazu Wissen über das magische Artefakt erhalten. Jamie hatte ihr von diesem illegalen Deal erzählt. Aber dieser Drago hat ihn ja getötet und es selbst mitgenommen." Hass überzog ihr Gesicht und machte es unbarmherzig. „Dieses gemeine Arschloch."

Und in diesem Augenblick sprang Sirius auf. So viele Puzzleteile fügten sich vor seinem inneren Auge zusammen, dass ihm beinahe schwindelte.

„Was ist?", fragte Kisic verstört.

Sirius sah sie aus großen Augen an. Er vergaß, wer sie war. Er vergaß, dass sie eine stolze Reinblüterin war und sie beide sich hassten. Dass er, ganz gleich, wie sehr sie sich an den Kodex hielt, ein Feind für sie war. Denn all das zählte in diesem Augenblick nicht.

Er packte sie am Handgelenk und zog sie auf die Füße, so heftig, dass sie sich mit ihrer freien, flachen Hand an seiner Brust abstemmen musste, um nicht gegen ihn zu prallen.

„Hey...", fing sie entrüstet an, aber Sirius fiel ihr hektisch ins Wort.

„Lass uns in die Bibliothek gehen, Kisic", rief er aus, heiser vor Aufregung. „Torbogen sagst du? Ich glaube, ich weiß, um welches Artefakt es sich dabei gehandelt hat!"

Kisic erstarrte. Sie vergaß sogar, wieder zurückzuweichen, da sie ganz dicht vor Sirius stand.

Dieser fühlte sich wieder an Schnee erinnert, aber er nahm es in seinem Aufruhr gar nicht wahr. Sonst hätte er sich gefragt, ob es diese Art von Gefühl sei, die man bei einem anderen spürte, der ebenfalls einmal beinahe gebissen worden wäre.

„Und ich glaube, ich weiß, wer dieser Drago ist!", fuhr Sirius fahrig fort und seine Worte überschlugen sich fast. Er rannte los und zog sie hinterher. „In der Bibliothek gibt es sicher Vampirbücher. Ich bin mir nicht sicher, aber ich meine schon mal was über einen Vampir gelesen zu haben, der zwei verschiedene Augenfarben hatte."

Sie verließen die Halle und huschten über die nachtschwarzen Gänge. Er zog sie immer noch mit, obgleich sie ihm mittlerweile freiwillig folgte.

„Wer ist es?", keuchte sie, halb außer Atem, halb vor Neugierde.

Sirius – im nächtlichen Herumschleichen geübt – nahm plötzlich ein Geräusch wahr und presste sich eilig in eine Nische, Kisic mit sich zerrend. Sie hielten beide die Luft an, wurden nahezu eins mit der Wand und warteten ab, bis der Hausmeister an ihnen vorbei gegangen war. Dann ging es weiter in Richtung Bibliothek.

Diese war verlassen und lag im Dunkeln.

Lumos", flüsterte Sirius und ließ Kisic endlich los.

„Wer ist es?", wiederholte sie angespannt. Sie ging zielstrebig auf die Abteilung zu, von der sie zu wissen schien, dass es dort Bücher über Vampire gab. Er folgte ihr.

„Hast du schon mal von Stoyângehört, einem Vampir, der die britische Unterwelt beherrscht?"

Kisic blieb abrupt stehen und sah Sirius aus großen Augen entsetzt an. Sie nickte wie betäubt.

„Dieser Typ hat auch zwei verschieden gefärbte Augen. Das linke ist grün und..."

„... und das rechte ist blau", vollendete Kisic tonlos. „Er gilt als der mächtigste Vampir seiner Zeit."

„Und sicherlich auch als der gefährlichste", schloss Sirius düster.


A/N:

Ich hoffe, es war nicht zu kompliziert und ihr erinnert euch noch, was in Kapitel 14.7 über Stoyân erzählt wird... ;)

Er ist jener, der Mr Black die geheimnisvolle Kette geschenkt hat, auf das sie ihm oder seinen Nachfahren helfe, und die Vyperus den Blacks gestohlen hat.

Herzlichen DANK an alle meine lieben, treuen Reviewer –strahl-

Und DANKE an den anonymen Leser, die dieses Kapitel nachträglich ebenfalls betagelesen hat :) Ich weiß zwar nicht, wer du bist, aber nun ja.. -g