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Bei Ram zu Hause angekommen schickte Cloe Ram zum Kühlschrank um Eis für Veds Knöchel zu besorgen. Dann setzte sie sich neben Veddy, der nun auf dem Sofa lag. Mit ernster Stimme sagte sie: „Das ist doch nicht einfach so passiert, oder?"
Ved bemühte sich ein überraschtes Gesicht zu machen. „Wieso? Ich hab dir doch gesagt wie es war."
„Ved, wenn du im Heim…"
Sie konnte den Satz nicht beenden, da Ram hereinkam und das Eis auf Veds Fuß legte.
Doch anscheinend war auch ihm etwas aufgefallen: „Du Veddy, niemand fällt einfach so über eine Wippe, ich kenn dich, du bist nicht so tollpatschig."
„Es war dunkel.", konterte Ved.
„Aber nicht so dunkel…", warf Cloe ein und sie wurde von Ram unterstützt. „Außerdem sind da noch ein paar andere Sachen. Warum nimmst du mich zum Beispiel nie mit ins Heim? Sag nicht wieder, es wäre nicht erlaubt, du wirst ja wohl noch ein paar Gäste mitbringen dürfen!"
„Weil...weil…die Heimleiter………….sehr streng sind, das hab ich dir doch schon tausend Mal erklärt."
„Und was ist als ich dich nachts an der Brücke gefunden habe?", wollte Cloe wissen. Denn sie dachte sich, wenn seine Heimleiter wirklich so streng waren, warum konnte er dann nachts wegbleiben, ohne sich abzumelden?
Ved sah sie an, als hätte sie eine Todsünde begangen darüber zu reden.
Ram bemerkte seinen Blick und erkundigte sich neugierig nach dem Ereignis. „Was war denn damals?"
„Nichts." meinte Cloe schnell, da sie Ved versprochen hatte, mit niemandem darüber zu reden. Doch Ram wollte das Thema nicht ruhen lassen. „Ah ja, und was ist zum Beispiel mit deinen ständigen Verletzungen? Was ist letztens mit deinem Arm passiert, kein Mensch fällt so oft auf die Fresse wie du."
Ved antwortete mit Tränenerstickter Stimme: „Ich bin beim Skateboard fahren ge-ge-stürtzt."
„Mal ganz ehrlich man, ich glaube ehr du wirst dort regelmäßig verprügelt!"
Jetzt wo es ausgesprochen war, konnte Ved Cloes und Rams Anschuldigungen nicht länger standhalten und fing an zu weinen. Cloe nahm ihn sofort in den Arm und tröstete ihn. Nach mehreren Minuten hatte er sich wieder beruhigt und gab alles zu: „Ihr habt recht. Es gibt da eine Gang älterer Jungs, die sich die Chosen nennen. Sie verlangen Schutzgeld von den Jüngeren, wer nicht bezahlt, kriegt ne Tracht Prügel."
Sprachlos sah Ram ihn an. „Warum bist du nicht viel ehr zu uns gekommen? Oder hast es der Polizei gesagt?"
„Die können die Chosen doch auch nicht ewig einsperren."
„Auf jeden Fall kannst du erst mal ne Zeit lang hier bleiben." bot Ram ihm an, doch Ved lehnte ab. „Das geht nicht. Wenn ich nicht da bin, vergreifen sie sich an den Jüngeren, ich muss die Kleinen irgendwie beschützen, sonst wäre ich auch schon längst abgehauen."
„Wir werden uns schon was überlegen." versuchte Ram seinem Freund Mut zu machen.
Als Cloe sah wie sehr das Ved alles mitgenommen hatte meinte sie: „Ram, du kannst ruhig ins Bett gehen, ich bleib heut Nacht bei ihm."
Nachdem Ram verschwunden war, kuschelte sich Cloe an Ved und er ließ sie gewähren.
Zärtlich streichelte sie ihn und fragte: „Willst du deshalb nicht mit mir zusammen sein?"
„ Ja, du wärst ständig in Gefahr.", seufzte Ved.
„Das macht mir nichts, die Hauptsache ich bin bei dir."
„Ich hatte schon mal eine Freundin und als die Chosen das mitbekommen haben, hätten sie sie fast auch verprügelt."
„Was hat sie davon abgehalten?"
„Ich. Ich hab mich vor sie gestellt und so gut es geht zu beschützen versucht."
Cloe war gerührt von Veds Worten. „Und was ist dann passiert?"
„Sie hat mich natürlich verlassen. Wer will schon einen Freund, der ständig von einer tyrannischen Gang bedroht wird?"
„Ich würde dich nie verlassen.", murmelte Cloe.
Nachdem Ved nichts geantwortet hatte und ein peinliches Schweigen entstand erkundigte sie sich nach Veds Vergangenheit.
„Wie bist du eigentlich in das Heim gekommen und was ist mit deinen Eltern passiert?" wollte Cloe wissen, doch als sie Ved von Trauer erfülltes Gesicht sah, bereute sie die Frage. „Du musst nicht mit mir darüber reden, wenn du nicht willst…"
Ved schluckte. „Nein ist schon okay. Am besten ich fang ganz vorne an. Also meine Familie bestand früher aus meiner Mutter Annie meinem Vater Sam, meinem Bruder Jay und mir. Wir waren im Großen und Ganzen eine durchschnittliche Familie, aber wir waren auf jeden Fall glücklich. Zu meinem Bruder Jay hatte ich damals eine sehr gute Beziehung, er war so was wie mein bester Freund. Na ja, da ich so klein war, hatte er wohl so was wie ein Beschützerinstinkt, jedenfalls hat er mich früher in der Schule immer vor so Typen wie den Chosen beschützt. Jay war schon immer sehr beliebt, denn er war ein guter Sportler und gut in der Schule. Irgendwann hat er dann seine Freundin Rochelle und seinen besten Freund Mega kennen gelernt, von da an war ich für ihn abgeschrieben. Jay hatte nur noch sehr wenig Zeit für mich und wir entfremdeten uns immer weiter. Dann passierte der schlimmste Tag in meinem Leben." Ved unterbrach, um seine Gefühle zu ordnen, dann fuhr er fort: „Mein Vater war Sicherheitsbeamter bei einer Bank und es kam zu einem Geiseldrama, bei dem er erschossen wurde. Ich weiß noch genau, wie der Schuldirektor in meine Klasse kam und mir sagte, dass etwas Schlimmes geschehen sei. In der Notaufnahme angekommen, fanden Jay und ich unsere Mutter abseits des Wartezimmers in einem kleinen Raum. Als wir uns zu ihr durchgedrängt hatten, sah sie Jay an und ließ ihren Styroporbecher fallen, der ganze heiße Kaffee ergoss sich über ihre Beine, dennoch zuckte sie mit keiner Wimper. Ich hatte meine Mutter vorher noch nie so gesehen und wusste nicht was das zu bedeuten hatte, bis Jay mir sagte, dass unser Vater tot sein. Auch wenn ich noch nicht so alt war, das Gesicht meiner Mutter an diesem Tag werde ich trotzdem nie vergessen.", schluchzte er.
Cloe war erschüttert von dem was Ved da erzählt hatte. Vorsichtig fragte sie: „Und wie ist es dir und deinem Bruder dann ergangen?"
„Ich weiß noch, dass ich mich oft abends in den Schlaf geheult habe, und dass es Jay nicht anders ging, aber immer wenn ich mit Jay darüber reden wollte, blockte er total ab. Na ja, irgendwann hab ich dann gelernt den Schmerz zu verdrängen. Ich betäubte ihn, indem ich mich nachts herumtrieb und mich auf Saufparties „amüsierte". Das führte jedoch zu noch mehr Stress Zuhause, mit meiner Mutter und Jay. Jay versuchte unseren Vater zu ersetzen, aber von ihm ließ ich mir nichts sagen. Er hatte ja auch keine Ahnung wie das war Fehler zu begehen. Er war ja immer der Everybody's Darling der ganzen Familie gewesen.
Erst jetzt weiß ich, wie viel Kummer ich meiner Mutter damals mit meinem Verhalten bereitet habe. Trotz des Ärgers den sie mit mir hatte, stand sie jede Nacht am Fenster und wartete, bis ich wieder heim kam. Nur eines Nachts stand sie nicht da. Ich wollte in ihr Zimmer rennen und sie fragen, ob ich ihr nun ganz egal sein, doch…" Ved konnte nicht weiter sprechen, zu sehr nahm ihn das alles mit. Er hatte noch nie jemandem davon erzählt, sondern die Ereignisse so gut es ging aus seiner Erinnerung gelöscht. Nun lag er hemmungslos schluchzend in Cloes Armen. Cloe, selber ganz mitgenommen von dem was sie gerade erfahren hatte, war erstaunt, dass Ved ihr so persönliche Dinge anvertraute.
Nach einer langen Pause redete Ved weiter: „ Meine Mutter, sie hatte zu viele Schlafmittel genommen… Bis heute weiß ich nicht, ob sie sich wirklich umbringen wollte, oder ob es nur ein versehen war. Jedenfalls war sie schon ganz grau im Gesicht und ihr Puls war nur noch sehr Schwach, als ich sie fand. Als der Sanitäter endlich kam, war sie schon tot. Ich weiß nur noch, dass ich später im Krankenhaus wieder aufwachte, mein Kopf ganz schwer voller Beruhigungsmittel und Jay mich weinend in den Armen hielt. Das war das letzte Mal, dass ich meinem Bruder nahe stand. Er hatte mir zwar versprochen, dass er sich um mich kümmern wurde, aber bald danach erhielt er einen Anruf, dass Rochelle einen tödlichen Zugunfall hatte. Das letzte, was ich weiß ist, dass er seine Sachen gepackt hat und verschwunden ist. Dabei hatte er doch versprochen immer für mich da zu sein! Kurze Zeit später kam ich dann ins Heim, und den Rest kennst du ja.", endete Ved.
„Oh Gott, das ist ja schrecklich. Es tut mir so Leid für dich Ved.", sagte Cloe noch immer fassungslos.
„Ja, der schein trügt, mein Leben ist nicht perfekt, es ist die reinste Katastrophe. Das einzig gute daran bist du.", antwortete Ved ihr ehrlich und blickte ihr direkt in die haselnussbraunen Augen. „Cloe, auch wenn wir vielleicht nicht zusammen sein können, ich will trotzdem dass du eines weist: Ich liebe dich!"
