„Nein, dass werde ich nicht tun!" stellte Draco abrupt fest. Warum wusste er selbst nicht genau, denn seinen Dolch auf das Tablett zu legen und zu sagen, es sei ein Glücksbringer seiner Vaters war nicht schwer. Und als ihm wenige Augenblicke später bewusst wurde, warum er es getan hatte, hätte er sich am liebsten sofort umgebracht. Draco hatte es für seinen Erzfeind getan, der seinerseits gezögert hatte und somit wohl keine gute Erklärung für die Scherbe und das getrocknete Blut daran bereit hatte.
„Also wollen sie doch eine Strafarbeit, Mr. Malfoy?" fragte die Frau erstaunt, aber immer noch lächelnd. Langsam wurde dem jungen Malfoy wieder schlecht bei dem Anblick dieser gemütlichen Weiblichkeit und er sah schnell zu Potter, von ihr weg.
Seine dunkelgrünen Augen waren mit Verwirrung, jedoch auch mit ein Wenig Verzweiflung gefüllt. Seltsam, Draco war noch nie aufgefallen, wie zerbrechlich die einzige Hoffnung der Zaubererwelt aussehen konnte. Auch war ihm neu, wie viele verschiedene Grüntöne sich in Harrys Augen zeigen konnten, wenn verspielte Sonnenstrahlen hinein fielen. Doch letzteres war nicht verwunderlich, da dem Slytherin nun zum ersten Mal auffiel, dass sein Gegenüber wohl einen Zauber auf seine Augen ausgeübt hatte, denn Harry trug keine Brille mehr.
„Bei Salazars Bart, Draco!" ermahnte Malfoy sich selbst. Wie konnte er nur so etwas denken? Obwohl es stimmte doch!
Hatte seine Mutter nun sein ganzes wertloses Leben noch unerträglicher gemacht? War es nicht genug, dass er keinem blauäugigen Mädchen mehr in die Augen sehen konnte? Musste er jetzt auch noch einen Jungen, diesen Jungen, wunderschön finden?
Noch ein guter Grund sich umzubringen! So eine Schande konnte er seiner Familie nach all den letzten Tiefs nicht auch noch antun! Er würde sich nach dem Festmahl wohl nicht mehr ins bett legen!
„Mr. Malfoy, ich warte auf eine Entscheidung!" erinnerte ihn die Hexe ungeduldig und durchschnitt Dracos Gedanken.
„Wenn ich heute Abend sterbe, dann kann ich auch die Strafarbeit nehmen, machen werde ich sie eh nicht!" lächelte Draco für sich. Wissend, dass auch Potter so die Strafarbeit nehmen musste, grinste Draco fies auf seinen Widersacher, der wirklich an Muskeln zugelegt hatte, hinab, sagte „Nachsitzen." und ging an den Beiden vorbei zurück zu seinem Abteil.
Auch Harry hatte den Entschluss gefasst, es wirklich heute Abend zu tun und so machte es ihm ebenfalls nichts aus sich für die Strafarbeit zu entscheiden.
Doch eigentlich wollte er schon wissen, warum Malfoy den Unverzeihlichen fast angewendet hatte und wie jemand so kristallklare und unbeschreiblich hellblaue Augen haben konnte.
Nun, vielleicht eher nur das Erste!
Schon wollte er dem Blonden hinterher rennen, und ihn fragen, da fiel ihm auf, dass die Essenswagenlady immer noch ihre Zauberstäbe hatte. Also machte er auf dem Absatz kehrt und baute sich vor der Hexe auf.
„Könnte ich bitte die Zauberstäbe wieder haben?"
„Ihr hättet euch da eben fast umgebracht! Glaub nicht, ich gab euch die Stäbe wieder, bevor der Zug hält!" protestierte sie.
„Ich gebe ihnen mein Ehrenwort als Gryffindor und als Harry Potter, dass wir uns nicht duellieren werden!" schlug Harry vor. Er sagte diese Worte nur, weil er wusste, es würde kaum jemand einem solchen Schwur misstrauen, obwohl er es hasste so behandelt zu werden, war es meistens hilfreich. Wie auch jetzt.
Lächelnd gab sie ihm die Zauberstäbe und nun rannte er dem Slytherin hinterher. Wie erniedrigend! Doch irgendwie störte Harry sich nicht mehr daran.
„Hey Malfoy!" rief er und blieb neben dem genervt drein blickenden Draco stehen, „Fehlt dir nicht irgendwas?"
Was meinte dieser eigentlich interessant aussehende Gryffindor? Was sollte dem Blondschopf schon fehlen? Plötzlich erinnerte sich Draco an seinen Zauberstab, als er zwei Stäbe in Harrys gebräunten Händen sah.
„Gib ihn mir, Potter!" befahl er und streckte verlangend seine blasse Hand aus. Doch dieser strubbehaarige Junge grinste ihn nur mit weißen Zähnen an und schüttelte den Kopf.
„Ne, ne, so einfach kommst du mir nicht davon, Drache!" erklärte Harry und verbarg die Zauberstäbe hinter seinem Rücken, „Ich will erst wissen, warum du den Cruciatus-Fluch auf mich hetzen wolltest!"
„Warum nennt der mich denn Drache? So etwas unverschämtes!" dachte der Blonde sehr erzürnt, „Dieser Kerl denkt wirklich er kann sich bei mir alles erlauben! Aber was soll ich ihm antworten? – Seine Augen glänzen so fremdartig! Ganz anders als die braunen und blauen der Mädchen!"
Draco tadelte sich innerlich für solche Gedanken. Wie konnte er nur über Potters Augen nachdenken, wenn dieser im Begriff war, sein Geheimnis heraus zu finden! Wie konnte er überhaupt über Potters Augen nachdenken?
„Weil du eine verdammte Landplage bist, Potter!" erklärte der Slytherin sehr ungehalten und wunderte sich gleichzeitig, warum er nie bemerkt hatte, wie sehr er sich wünschte einfach mit den Fingern durch die in alle Richtungen abstehenden schwarzen Haare des eigentlich sehr schönen, ja wunderschönen Potter zu streichen.
Malfoy schämte sich für das, was er dachte und dafür, dass er nun den gut gebauten Körper des Gryffindors musterte, dessen schmale Schultern und anmutigen Hals. Sein Blick wanderte über das Gesicht des Anderen und blieb dann an Harrys Lippen hängen. Er sah, dass sein Augenstern etwas sagte, doch der Gedanke, diese leicht roten und unwiderstehlichen Lippen zu küssen, hinderte ihn daran, ihn zu verstehen.
Langsam hob Draco die Hand, mit der er nach seinem Zauberstab verlangt hatte, um mit den Fingerspitzen das gebräunte Gesicht des Jungen zu berühren. Harry hatte wohl viel draußen trainiert, waren die abwesenden Gedanken des Slytherin. Doch bevor seine Hand auch nur die hälfte der Entfernung zurückgelegt hatte, erwachte Draco plötzlich aus seinem Traumzustand und zuckte vor dem Schwarzhaarigen zurück.
Was hatte Potter mit ihm gemacht, dass er für einen Moment an nichts anderes mehr als an einen Kuss hatte denken können? Nur einen Kuss! Nicht Sex oder mehr Berührung! Nur einen einzigen Kuss und alles würde gut sein! Doch nein! Er war ein Malfoy, er musste stark sein und versuchen nicht an solche Dinge zu denken!
Ohne seinen Zauberstab wieder zu haben und ohne auf das zu achten, was sich wie „Was hast du denn, Draco?" anhörte, lief der Slytherin halb ängstlich, halb wütend auf sich selbst, zurück in sein Abteil.
Crabbe und Goyle standen sofort auf, als er eintrat und mit einem wortlosen Kopfnicken wies er sie dazu an, sich wieder vor die Tür zu stellen.
Was war los mit ihm, Draco Malfoy? Wie konnte ihn der Mund eines sechzehnjährigen Jungen so aus der Fassung bringen? – Es war ihm egal!
Draco nahm wieder den kostbaren Dolch aus seinem Umhang. Nein, es konnte nicht bis nach dem Essen warten! Draco wusste, dass er das Festmahl nicht aushalten würde, mit Harry im selben Raum! Und obwohl er sich dafür verwünschte, wusste er, dass er am liebsten bei ihm sein würde. Ihn in seine Arme schließen und vor allem beschützen wollte, was seinem Löwen Schaden zufügen wollte.
„Wie paradox!" dachte er, noch halb lächelnd, „Obwohl ich ein Todesser bin, will ich meinen Erzfeind vor meinem Herren und Gebieter beschützen!"
Hatte Harry ihn wirklich vorhin zum ersten Mal mit Vornamen angesprochen? Wie seltsam! – Vielleicht… aber nein, der Goldjunge Gryffindors konnte nichts für einen Diener seiner dunklen Lordschaft empfinden!
Schnell und fast schmerzlos waren die zwei tiefen Schnitte getan und Draco hörte wie aus weiter Ferne, das Messer aus seiner schwachen Hand auf den Boden fallen. Sein Kopf lehnte an der Scheibe und alles wurde immer undeutlicher, bis dann endlich die ersehnte Dunkelheit, mit ihrer alles erstickenden Stille über ihm einstürzte!
