Prolog

Dein weißer Leib so zart und weiß

Hastig lief er den schmalen Weg vor sich entlang und sein schwerer Atem zerschnitt die Stille um ihn herum. Das bleiche Mondlicht erhellte die weiten Wiesen um ihn herum und nur in der Ferne waren die Lichter der Stadt zu erkennen. Der Pfad führte tief in den Wald hinein, aus dem man das leise Rascheln der Blätter vernehmen konnte. Keine Wolke verhang den sternenbedeckten Himmel und alles schien so ruhig im Gegensatz zu seiner Eile. Nachdem er den Wald betreten hatte, lief er langsamer und sah sich unruhig um. Irgendetwas rief nach ihm, zwang ihn hierher zu gehen. Es war als würde er Schreie hören, Schreie tief in ihm, die ihn in Unruhe versetzten. Sein Herz raste und plötzlich blieb er stehen, wie eine Katze vor den Sprung auf seine Beute. Aufmerksam lauschte er in den Dickicht des Waldes, doch kein Geräusch drang an sein Ohr, trotzdem konnte er diese Schreie spüren, die nach ihm verlangten, die ihn anflehten nach den Lippen zu suchen, über die sie gingen. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn und trotz der Kälte um ihn, spürte er nur die Hitze in ihm. Er musste weiter, diese Schreie suchen, die ihn des Verstandes beraubten. Im Traum hatte er sie gehört, er wusste, von wem sie stammten.

Sofort lief er weiter, immer tiefer in den Wald. Sein Ziel kannte er, nur wenige Meter trennten ihn noch davon. Immer schneller lief er, als dürfte er keine Zeit verlieren, doch waren es nur diese Schreie, die ihn so quälten. Schreie des Leids, der Pein. Diese einst so liebliche Stimme schrie nach ihm, doch kein Laut war zu hören. Er hielt es nicht mehr aus und sein Gesicht verriet seine Hilflosigkeit. Als hätte er einen Verfolger hinter sich, rannte er plötzlich den Weg entlang bis er zu einer Anhöhe gelangte. Dort hielt er wieder inne und lauschte erneut in die Finsternis. Nichts war zu hören und er wollte auch gar nicht auf einen erneuten Schrei warten. Vorsichtig tastete er sich nach oben und hielt sich dabei an Ästen und Zweigen fest. Er wusste, was sich dahinter befand. Zu gut kannte er diese Gegend und er konnte das Wasser schon riechen, denn hinter diesen Bäumen befand sich ein kleiner tief im Wald versteckter See, an dem er früher viel Zeit verbracht hatte – mit ihr...

Als er oben angekommen war, sah er vorsichtig über das Wasser. Das Mondlicht spiegelte sich in ihm wieder und es schien wie ein großer weißer Spiegel. Doch wie vor Schmerzen schloss er die Augen. Die Schreie kehrten zurück, lauter, hilfloser. Es hörte gar nicht mehr auf und er wusste, er hatte sie gefunden. Schnell öffnete er die Augen wieder und sah sich erneut um. Am linken Ufer sah er eine Gestalt im Wasser...

Sehr langsam ging er zwischen den Bäumen hindurch zu dieser Gestalt. Als er immer näher kam, schluckte er schwer und seine Augen zeigten die pure Angst vor dem, was er sehen würde. Er wusste es, die Schreie hatten es ihm schon verraten, bevor er überhaupt wusste, dass er sie hier finden würde. Sein Herz raste immer mehr und am liebsten wäre er sofort auf die Gestalt zugerannt, doch hielt ihn etwas fern. Es war ihm unmöglich sich schneller zu bewegen. Zu sehr fürchtete er sich vor dem, was vor ihm lag. Er war inzwischen am Ufer angelangt und stand nun direkt vor ihr. Wie angewurzelt blieb er stehen. Sie war es.

Mitten im Wasser stand eine Elbe, die ihm den Rücken zugewandt hatte. Ihre langen schwarzen Haare waren tief in das Wasser eingetaucht und man konnte nur ihren Hinterkopf erkennen, da sie bis zu der Hüfte im Wasser stand. Doch sie bewegte sich. Immer wieder beugte sie sich leicht nach vorne und wieder zurück.

Ungeachtet ihrer Abwesenheit ging er einen Schritt auf das Wasser zu, welches eisig kalt war. Als würde er es gar nicht bemerken, ging er immer weiter nach vorne. Er konnte das Wasser schon gar nicht mehr spüren, zu sehr war er abgelenkt und in Gedanken. Er hatte Angst vor dem, was ihm erwarten konnte, trotzdem konnte er sich nicht mehr wehren. Er musste das tun. Er stand nur noch einen Schritt hinter ihr und erneut schluckte er schwer, bis er die Hand langsam nach ihr ausstreckte. Plötzlich drehte sie sich um.

Zwei graue ausdruckslose Augen starrten ihn an, in denen Tränen aufstiegen. Lange getrocknete Spuren von der salzigen Flüssigkeit hatten sich schon über ihr schmutziges Gesicht gebahnt. Mit weit geöffneten Augen stellte er fest, dass es Blut war. Ewig starrte sie ihn so direkt in die Augen und er war unfähig nur einen Gedanken zu fassen. Die Zeit schien nicht vorüber zu gehen, bis sie sich dann völlig herumdrehte und ihn schluchzend um den Hals fiel. Zitternd hielt sie ihn so fest umklammert wie sie nur konnte und sie hörte gar nicht mehr auf zu weinen. Ihre Tränen fielen ihm auf die Schulter und er war immer noch versteinert. Ihr bebender Körper wurde immer schwächer und sie drohte in sich zusammenzufallen, doch langsam legte er seinen Arm um sie, als könne sie verschreckt aufspringen, aber sie tat es nicht. Nach einer schier endlosen Zeit standen sie immer noch so dort und er war der erste, der wieder klar denken konnte.

Vorsichtig hielt er sie etwas von sich und sah ihr in die Augen. Sie war es, sie, die nach ihm schrie, die ihn so quälte und nun war sie hier. Sie rief um Hilfe und er war da. So lange hatte er sie gesucht, zu oft war er verzweifelt, und zu viel Mut verließ ihn. Die Gewissheit, sie nicht wieder zu finden, war groß. Doch hier war sie. Sie lebte und er hatte sie gefunden. Innerlich lächelte er, doch äußerlich blieb er versteinert. Noch immer sah sie ihn ausdruckslos an. Nur ihre Tränen verrieten sie. Er wollte sie gerade wieder an sich ziehen, so sehr hatte ihn seine Freude übermannt, doch als er seine Hand betrachtete, klebte eine rote Flüssigkeit an ihr. Schnell zog er sie an sich und sah sie sich genauer an. Erschrocken wich er einen Schritt zurück und erst jetzt bemerkte er es. Sie trug nur ein dünnes Kleid, welches durch das Wasser durchsichtig wurde. Nur so konnte er das eigentliche Ausmaß sehen.

Das Kleid war blutgetränkt und an ihrem freien Armen waren Narben über Narben. Blut tropfte nur so von ihren Fingern und man konnte auf ihren Körper gar nichts mehr erkennen, nur noch das Blut, das an ihrer gesamten Haut klebte. Sie zitterte noch immer am ganzen Körper, doch wagte er es nicht mehr sie zu berühren, aus Angst, er könne ihr wehtun. Um sie herum färbte das Wasser sich rot und sie wurde immer schwächer. Sie sah ihn nur noch müde an und drohte jeden Moment zu fallen. Die Wunden zwangen sie nieder, doch nicht nur die äußerlichen. Innerlich hatte sie noch viel größere Wunden von sich getragen, die auch nach sehr langer Zeit noch nicht verheilt sein würden...