Kapitel 2
Ich unterwerfe mich meiner Pflicht
Die Schnalle gab klappernde Geräusche von sich, als Idril den Gürtel um ihr Gewand band. Es war ein unangenehm harter Klang in der wohligen Stille des kleinen Raumes. Nur das Rascheln der Blätter außerhalb war sonst zu vernehmen. Noch war es dunkel und nur der langsam heller werdende Himmel brachte etwas Licht in das spärlich möblierte Zimmer. Die Dielen unter Idril knarrten, wenn sie ihr Gewicht verlagerte.
„Beobachtest du mich beim Schlafen?", fragte sie in das scheinbar leere Zimmer, während sie noch nach unten sah um den Gürtel zu richten.
Aus dem Schatten ihres Kleiderschrankes trat ein hochgewachsener Elb hervor. Die Hände hatte er hinter den Rücken gefaltet und begutachtete die kleine Elbe mit belustigten Blick.
„Nein, nur beim Ankleiden.", bemerkte er mit einem Lächeln auf den Lippen, doch als sie hochsah, schenkte sie ihrem alten Freund keinen begeisterten Blick.
„Calendeloth, warum störst du mich schon um die Uhrzeit?", dabei ging sie in Richtung Tür, wo sie am Vortag ihre kostbarste Waffe, ein langes Messer mit dem Wappen ihrer Herrin, liegen gelassen hatte und verstaute dieses in die passend dazu gefertigte Scheide.
„Galadriel schickt mich, sie hat wichtiges mit dir zu besprechen."
„Das hat sie mir bereits mitgeteilt.", erläuterte sie ihn, worauf sie auf ihre Kleidung hinwies, als Zeichen dafür, dass sie schon auf dem Weg zu ihr war.
Calendeloth trat näher an sie heran und legte eine Hand auf ihre Schulter.
„Erzähl mir von deinem Auftrag. Ist alles gut verlaufen? Ich habe Blutspuren auf dem Boden gefunden...". Besorgt sah er sie von oben bis unten an und bezweifelte, dass sie fähig war noch einen Auftrag von ihrer Herrin entgegenzunehmen. Zu viele waren es in letzter Zeit gewesen und mit etwas Glück konnte Idril einen Tag zwischendurch in ihrer Heimat verbringen. Jedes Mal kam sie verletzt zurück und Calendeloth vermisste die Tage, die sie gemeinsam verbringen konnten.
„Nichts weiter, nur ein paar Kratzer." Diese Antwort hatte er erwartet, denn niemals würde sie zugeben, ernsthaft verletzt zu sein. Vielleicht lag es an ihrem Talent Schmerzen nicht sonderlich ernst zu nehmen oder es war ihr übertriebener Stolz, der nicht einmal bei manch kühnen Männer so ausgeprägt war.
Calendeloth entfernte sich wieder und seine schweren Schritte erfüllten den ganzen Raum mit ihren aufdringlichen Klang.
„Was wollte er gestern von dir?", fragte er plötzlich und seine Stimme klang dabei düsterer, als er es gewollt hatte.
„Er?", drehte sich Idril erschrocken um.
„Ich habe ihn gesehen, euch gesehen. Was hat er hier zu suchen?", fragte er wütend, doch seinen zornigen Gesichtsausdruck konnte Idril ihm nur entgegenbringen. Mit festen Schritten verließ sie ihr Flett und ließ Calendeloth zurück, der es nicht für nötig hielt, ihr zu folgen.
Idril kniete auf den Boden und hielt den Kopf gesenkt. Als die hohe Herrin Galadriel sich näherte, blickte sie auf. Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen und ohne, dass ihre Herrin etwas sagte, erhob sie sich.
„Du bist gestern erst eingetroffen.", stellte Galadriel knapp fest, worauf Idril nickte. „Leider sollst du morgen auch schon wieder aufbrechen. Eile ist in dieser Sache von Nöten..."
Idrils Herrin erklärte das Unterfangen genauestens, da sie nicht riskieren konnte, dass die Aufgabe gefährdet werden könnte. Sie verbrachten mehrere Stunden zusammen, wie sie es üblich taten, wenn Idril von einem ihrer Aufträge zurückkam und schon den nächsten erhielt. Inzwischen war Calendeloth eingetroffen, der jedoch vor der Tür warten musste. Die Wachen hinderten ihn daran, dazuzustoßen, auch wenn er ranglich weit über ihnen stand. Er und Idril nahmen besondere Positionen in der Ordnung des Elbenlandes ein. Sie waren frei und gehörten nicht zu diesem Volk, dennoch hatten sie alle Privilegien wie das Volk auch. Sie waren besondere Untergebene der Herrin Galadriel, die alle nötigen Aufträge für sie erledigten. Nicht des Geldes wegen, sondern aus freundschaftlichen Gründen. In ganz Caras Galadhon gab es nur zwei Elben, die noch über ihnen standen, das waren die Herrin des Lichts und ihr Gemahl Celeborn. Zu Calendeloth und Idril gehörte eine kleine Gruppe abtrünniger Elben. Würden sie sich nicht bewegen wie Elben oder ihre Privilegien im Kampf auskosten, würde niemand erraten, dass sie zu dem schönen Volk gehörten. Alle kleideten sich entgegen der Normen ihrer Sippe, verhielten sich anders. Sie hatten weniger Sinn für das Schöne als mehr für das Nützliche. Zusammen hatten sie sich Idril und Calendeloth angeschlossen und diese Verbundenheit entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einer tiefen Freundschaft, die nicht mehr auszudenken waren. Zusammen hatten sie schon wichtige Erfolge in Kriegsangelegenheiten erzielt. Und auch diesmal konnte man nicht auf die ganze Gruppe verzichten.
Als Idril den großen Saal verließ, kam Calendeloth sofort auf sie zu.
„Ruf unsere Männer zusammen, sie sollen sich bereit machen, denn morgen werden wir abreisen. Wir haben einen langen Weg vor uns, also geizt nicht bei den Vorräten." Dabei ging sie an ihm vorbei, die Treppen hinunter, als wäre sie in Eile. Calendeloth nahm die Anweisungen nur mit einem stummen Nicken entgegen.
„Was ist mit dir, kommst du nicht mit?"
„Ich habe noch etwas zu erledigen.", versuchte sie ihn zu beschwichtigen, als sie über eine der hohen Brücken des Reiches schritt. Unter ihnen war geschäftiges Treiben und einige Elben musterten sie neugierig, da viel über ihre Abenteuer, so nannten sie es, berichtet worden war.
„Du willst zu ihm.", stellte Calendeloth kühl fest, worauf Idril stehen blieb. Langsam drehte sie sich herum und sah ihn wütend an.
„Nein, ich gehe zur Waffenkammer und werde mir meine Waffen schärfen lassen." Sie legte den Kopf schief. „Wenn du seine Gegenwart nicht ertragen kannst, dann rufe dir ein paar Wachen und lasse ihn über die Grenzen werfen, aber Galadriel wird nicht sehr erfreut sein, wenn du ihre Verwandtschaft und ihre Verbündeten im Norden beleidigst, also nimm dich etwas in deiner Eifersucht zurück." Damit verließ sie ihn und ließ ihn abermals an diesem Tage mit einem erstaunten Gesichtsausdruck zurück.
Später am Abend, als die wichtigsten Vorbereitungen getroffen waren, kehrte Idril zu ihrem Zimmer zurück. Auf dem Weg dorthin war es ruhig. Niemand war in der Nähe, denn um diese Uhrzeit befanden sich die Elben im Inneren der Stadt, nur Idril mit ihrem weit abgelegen Flett war so nah am Waldesrand. Nur selten waren einige Wachen in der Nähe, doch sonst war der Ort schwer ausfindig zu machen und Idril dachte noch immer darüber nach, wie Legolas zu ihrem Flett gefunden hatte. Aber sie verschwendete zu viele Gedanken an diesem Elb. Am nächsten Tag würde sie für lange Zeit verschwunden sein, er würde nicht erfahren, wo sie ist und sie bestmöglichst auch noch vergessen haben. Danach könnte ihr Leben normal ohne diesen Mann weitergehen und so erhoffte sie es sich.
Als sie in ihrem Flett angekommen war und die Sachen für die nächste Zeit gepackt hatte, lief sie nur unruhig auf und ab. Plötzlich schreckte sie eine Gegenwart aus ihren Gedanken. Sie blieb stehen und drehte ihren Kopf zur Tür, wo Umrisse zu erkennen waren. Sie gab ein Stöhnen von sich, was von wenig Begeisterung zeugte. Doch noch ehe sie ihren Protest gegenüber den ungebetenen Gast zeigen konnte, kam dieser schnellen Schrittes auf sie zu und legte seine linke Hand auf ihre Taille. Idril war einiges kleiner als gewöhnliche Elben, weshalb sie ihren Kopf heben musste um ihrem Gegenüber ins Gesicht zu schauen.
„Was willst du hier?", fragte sie wütend, wehrte sich jedoch nicht gegen die Berührung.
„Dich.", gab Legolas erwartungsvoll zurück. „Ich bin nicht den weiten Weg hierher gegangen um gegen eine kalte Fassade zu stoßen."
„Dann hättest du nicht kommen sollen.", sagte sie ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern.
„Vielleicht hast du Recht.", sagte er, während er sich von ihr löste. „Ich wünschte nur, du könntest ehrlich zu dir selbst sein und an das glauben, was du mir sagtest."
Idril atmete tief ein und plötzlich, als sie so allein im Raum stand, begann ihre Fassade zu bröckeln. Ihre Haltung veränderte sich, zunächst selbstsicher und überzeugt, nun schüchtern und hilfesuchend.
„Wovon redest du?", konnte sie sich überwinden zu antworten, wobei es ihr schwer viel einen normalen Ton beizubehalten. Legolas drehte sich schnell um und sah sie durchdringend an.
„Vergisst du alles, was zwischen uns war? Vergisst du die Nacht, als du mir sagtest, dass du mich liebst? Als du dich entschlossen hattest, bei mir zu bleiben? Verdammt, hast du vergessen, dass du unser Kind verloren hast?"
„Legolas, ich..."
„Nein.", sagte er gebieterisch und kam dicht an sie heran, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte. Erschrocken zog sie die Luft ein und schloss dabei die Augen.
„Ich habe nicht vor mich schon wieder durch deine falsche Maskerade zu kämpfen. Du bist so verdammt stolz, doch der ist unangebracht. Sag, dass du mich die ganze Zeit belogen hast, dann siehst du mich nie wieder oder zeige mir endlich, was du wirklich fühlst."
Langsam öffnete Idril ihre Augen wieder und sah ihn stumm an. Plötzlich wehrte sich etwas in ihr ihn noch weiterhin zu verletzten. Sie wollte sich selbst nicht mehr im Wege stehen. Ja, sie hatte eine gemeinsame Vergangenheit mit ihm, doch sie war vorbei. Ihre Gefühle tief in ihr vergraben und sie hatte nicht vor, diese wieder aufleben zu lassen, doch wenn er sie so vor die Wahl stellte. Was sollte sie tun? Diesen Mann noch weiter verletzen oder ihn wenigstens für eine Nacht noch Hoffnung geben? Am nächsten Tag wäre sie sowieso über alle Berge...
Unentschlossen sah sie in seine fordernden Augen. Sie hatten ein unangenehmes Schimmern, das verriet, dass er es nicht dulden würde, dass sie weitere Ausflüchte machen würde. Die Lage wurde zunehmend unangenehmer für sie.
„Entscheide dich.", forderte er sie erneut auf.
Langsam, ohne, dass Legolas es bemerkte, führte Idril ihre Hände an ihren Gürtel und öffnete ihn. Als dieser mit einem dumpfen Geräusch, gefolgt von einem Klirren zu Boden fiel, nahm Legolas es nur indirekt war. Zu sehr hatte er sich in ihrem Blick verloren, der so viel Hilflosigkeit ausstrahlte. Es gab Zeiten, in denen er sich dadurch erweichen ließ, doch nicht jetzt, er brauchte eine Antwort. Gedanklich spielten sich so viele Szenen ab:
‚Ein Streit zwischen den beiden. Wutentbrannt reist er ab und sie sehen sich nie wieder, doch er kann sie nicht vergessen.'
‚Sie sagt ihm, dass sie ihn liebt und er kann eine glückliche Zukunft mit ihr verbringen', doch auch dieser Gedanke wurde verbannt, denn er sah seinen Vater vor sich, wie er ihm damals abriet, mit dieser Frau eine Bindung einzugehen, sein freudiges Gesicht, wenn er ohne sie zurückkehren würde. Er kannte keine Person in seinem Leben, die ihm gut zugeraten hatte zu einer derartigen Verbindung. Alle schienen dagegen gewesen zu sein und nun auch Idril selbst.
„Ich warte.", versuchte er sie erneut aufzufordern, ihm endlich ihre Entscheidung mitzuteilen. In dem Moment öffnete sie ihr Gewand und ließ es an ihrem schmalen Körper hinabgleiten. Erst da sah Legolas an ihr hinab und schloss für kurze Zeit seine Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er in ein verändertes Gesicht. Idril sah ihn abwartend an und atmetet schneller. Ihr Brustkorb hob und senkte sich rasch und auf ihrer Haut breitete sich Gänsehaut aus. Legolas schüttelte kurz den Kopf, doch sah er sie dann wieder an. Er war sich nicht sicher, was er tun sollte, doch als Idril Anstalten machte, sich niederzuknien um ihr Gewand vom Boden aufzuheben, packte er ihr Handgelenk und zog sie näher an sich heran.
Der Mond schien direkt durch das große Fenster über Idrils Bett auf das Pärchen nieder. Legolas hatte seinen Kopf auf einen Arm gelegt und strich über Idrils Haar. Diese lagen über seinen Bauch verteilt. Sie starrte zur Wand und spielte mit einer Hand an seiner Brust, die sich gleichmäßig hob und senkte. Schlechtes Gewissen plagte sie nun. Sie dachte, durch diese eine letzte Nacht könnte sie sich den Abschied leichter machen, doch das Verlangen nach der gemeinsamen Vergangenheit war nun größer als zuvor. Sie wollte nicht am nächsten Tag das Land verlassen. Am liebsten wäre sie für immer so auf ihm liegengeblieben und hätte seinem Herz beim Schlagen zugehört. Sie seufzte schwer, als sich eine Brise durch ihr Fenster auf ihr Gesicht legte.
Legolas belächelte ihren zufriedenen Gesichtsausdruck.
„Wer kann schon behaupten, die große Kriegerin Idril so glücklich in seinen Armen zu halten?", sagte er fast stolz.
„Die halbe Stadt.", sagte sie ernst, doch fing sie darauf an zu lachen.
„Wie soll es weitergehen?", fragte Legolas um vom Thema abzulenken. Idril konnte nur an den morgigen Tag denken, an dem sie ihn verlassen musste. Aber es würde besser sein. Er machte sie verletzbar und schadete ihren Ruf als gar unnahbare Person.
„Jetzt schlafen wir erst einmal.", wollte sie ihm ausweichen, womit er sich zufrieden gab, da er nur seufzte und einen Arm um sie legte, damit sie in der Nacht nicht noch von der schmalen Pritsche fiel. Idril nahm das zum Anlass sich bequemer auf ihn zu legen. Der Kopf lag dabei direkt auf seinem Herzen und ihre Hand ließ sie tief gleiten um sie noch unter die knappe Bettdecke rutschen zu lassen.
„Wollen wir nicht lieber etwas anderes machen?", fragte er hellwach.
„Nein, ich muss in drei Stunden aufstehen...", gab sie noch von sich und nur wenige Minuten später war sie eingeschlafen.
Legolas fand diese Nacht kaum Schlaf. Er verbrachte die Zeit damit, aus dem Fenster zu starren und sich über seine momentane Situation Gedanken zu machen. Es war ihm zu einfach gewesen, sie überzeugt zu haben und er ahnte, dass er sie so bald nicht mit in seine Heimat nehmen konnte, wenn das bei ihr überhaupt jemals möglich wäre.
