Kapitel 2

Jun kam endlich dazu, die Tür zu ihrem Hotelzimmer zu öffnen. Sie trat hinein. Der Anblick, der sie erwartete, war überwältigend. Sie hatte ein schlichtes kleines Hotelzimmer erwartet, wie sie es sonst auf ihren Reisen vorfand. Aber keine Spur davon. Das Zimmer war riesig und in zwei Bereiche unterteilt: Schlaf- und Wohnraum. In beiden fand sie einen Fernseher vor. In der Schlafecke einen herkömmlichen kleinen und im Wohnbereich in der Nähe des Sofas einen großen Flachbildschirm. Jun war nur froh, dass sie das Zimmer nicht selbst bezahlen musste, die Unterkunft war für alle Tournament Teilnehmer kostenlos.

Obwohl das Zimmer nur im 5. Stock war, war die Aussicht schon recht beeindruckend. Die Hochhäuer gegenüber waren zwar zu hoch, um besonders weit sehen zu können, aber unten sah man eine noble, nett angelegte Einkaufsstraße. Jun sah schon sich und Michelle diese mit Einkaufstüten beladen entlang schlendern. Hier ließ es sich, trotz der unangenehmen Aufgabe, drei Wochen aushalten.

Als nächstes begutachtete Jun das Bad. Auch dieses war riesig, mit einer Dusche und einer großzügigen Badewanne, in der locker zwei Leute Platz finden würden. Jun musste grinsen, als ihre Phantasie sich einen Scherz erlaubte und sie sich nacheinander mit Lei Wulong und mit Michelle in dieser Badewanne sah. Sie schob den Gedanken schnell kopfschüttelnd beiseite und begab sich zurück ins Zimmer. Dort packte sie erstmal Ihre Koffer, die bereits vom Hotelpersonal hochgebracht worden waren, aus. Vorsichtig nahm sie zwei Abendkleider heraus und hängte sie auf einen Bügel. Jetzt müsste sie sich nur noch entscheiden, welches sie heute Abend tragen würde.

Dann zog sie sich eine Trainingshose und ein Schlabber-T-Shirt an, warf sich aufs Bett und zog die Decke über ihren Körper. Allerdings konnte sie, obwohl sie sich sehr müde fühlte, nicht schlafen. Zu aufgeregt war sie. Also ließ sie ihre Gedanken wandern. Ihr fiel wieder ein, was Lei Wulong gesagt hatte. 'Das gehört alles zu meiner Tarnung.' Wie hatte er das gemeint? War es ein Scherz gewesen? Oder hatte er ein ähnliches Anliegen wie sie, und wenn es so wäre, war er unvorsichtig genug, ihr davon zu erzählen, oder wusste er, dass er ihr vertrauen konnte? Schon beim ersten Treffen? Sie wollte ihn auf jeden Fall im Auge behalten, vielleicht könnt er ihr noch helfen, oder umgekehrt, sie ihm.

Langsam erhob sich Jun aus ihrem Bett und ging zu ihrem Koffer. Sie zog eine Mappe mit Unterlagen zu dem Fall heraus und breitete sie auf dem Bett aus. Aber lange hielt sie sich damit nicht auf, sie kannte die Unterlagen schon so gut wie auswendig. Gelangweilt schlenderte sie zum Fenster und blickte hinaus. Sie hatte ihr Zimmer auf der Vorderseite des Hotels und konnte unten deutlich die geparkte Limousine sehen. Ihr gingen verschiedene Gedanken durch den Kopf und sie fragte sich, ob das bedeutete, dass Kazuya Mishima im Hotel war. Sie war zwar überzeugt, dass er nicht im Hotel wohnte, die Mishimas hatten schließlich ein großes Anwesen kaum außerhalb von Tokyo, aber vielleicht hatte er andere Dinge zu erledigen, Dinge die mit dem Tournament zu tun hatten. Für einen Moment überlegt Jun, ob sie ein wenig herum schnüffeln sollte, da tat sich unten etwas. Sie konnte hören, wie jemand Anweisungen gab, zumindest klang es vom Tonfall her so. Verstehen konnte sie es nicht so gut, da sie zu weit weg war. Dann sah Jun, wie ein junger Mann im schwarzen Anzug, mit silbernen Haaren aus dem Eingangsbereich des Hotels hervor trat und, begleitet von weiteren Männern in Anzügen, auf den Wagen zu schritt. Sie stiegen alle in die Limousine ein, die wenige Augenblicke später die Straße hinab verschwand.

Jun schrak zusammen, als es an der Tür klopfte. Eilig rannte sie zum Bett, sammelte die Unterlagen zusammen und verstaute sie wieder im Koffer. Es klopfte erneut.

"Ich komme", rief Jun und eilte zur Tür.

"Hey Jun", begrüßte sie Michelle, als sie die Tür öffnete. "Wie wäre es, wenn wir die Stadt ein wenig unsicher machen?" Sie holte einen Moment Luft und als Jun nicht reagierte, fuhr sie fort: "Und jetzt schick mich bitte nicht alleine los. Ich verlaufe mich gnadenlos."

Jun lächelte. "Ich warne Dich, ich bin keine wirkliche Hilfe in eine Großstadt wie dieser. Ich komme aus einem kleinen Dorf."

"Ach, die Großstadt lass mal meine Sorge sein, ich kann nur kein Wort lesen…" beschwerte sich Michelle.

"Na da kann ich weiter helfen. Ich lese Dir vor, und Du hilfst mir, meine Großstadtphobie zu überwinden."

"Gar kein Problem", entgegnete die junge Amerikanerin.

"Okay, lass mich noch meine Tasche holen und mich umziehen. Komm solange rein", sagte Jun und eilte in ihr Zimmer zurück. Michelle folgte zögerlich.

Jun kramte in ihrem Koffer, nach ihren Anziehsachen. Schnell zog sie sich eine Jeans und ein T-Shirt an und schnappte sich dann ihre Tasche und eine Jacke.

"Okay, ich bin bereit."

"Dann lass uns gehen", sagte Michelle begeistert und eilte zur Tür.

"Was hast Du es so eilig?"

"Ich will hier raus. Es ist so luxuriös, dass ich mich schon fast unwohl fühle. Man traut sich gar nicht etwas anzufassen."

"Ich weiß, was Du meinst", sagte Jun nickend.

In der Halle begegneten die zwei Frauen Lei Wulong, der wohl nichts Besseres zu tun hatte, als herumzulungern. Er grüßte freundlich. "Wohin des Wegs?"

"Wir wollten uns ein wenig die Geschäfte ansehen", antwortete Jun.

"Viel Spaß. Man sieht sich dann später", antwortete er lächelnd.

Jun und Michelle gingen weiter Richtung Ausgang.

"Hast Du gesehen, wie er Dich angeschaut hat?" fragte Michelle, als sie außer Hörreichweite waren. "Ich glaube, er mag Dich."

Jun wurde etwas verlegen. "Meinst Du?"

"Ganz sicher."

"Er ist ein netter Kerl."

"Er ist ein netter Kerl? Jun, er ist scharf. Diese wunderbaren langen Haare würde ich ihm gerne mal durchwuscheln."

Jun musste grinsen, hielt dabei aber verstohlen die Hand vor den Mund. Michelle war sehr offen, was solche Sachen anging, Jun würde sich das nie trauen.

"Na ja, ich will damit nicht sagen, dass es keine weiteren potentiellen Kandidaten im Tournament gibt", fuhr Michelle fort. Die zwei Frauen schlenderten durch die Einkaufsstraße, während sie sich weiter unterhielten.

"Ich habe sonst noch niemanden getroffen", entgegnete Jun.

"Das kannst Du heute Abend noch nachholen. Da werden sie alle versammelt sein."

Jun wusste, dass das Wort 'alle' auch Kazuya Mishima beinhaltete, was sie sofort wieder an den Mann mit den silbernen Haaren erinnerte.

"Michelle?"

"Ja?"

"Kennst Du alle Teilnehmer?"

"Die meisten. Ich war auch beim ersten King of Iron Fist dabei. Und von den Neuen habe ich einige schon getroffen."

"Weißt Du, wer der junge Mann mit den silbernen Haaren ist?"

"Klar. Das ist Chaolan. Lee Chaolan, Kazuyas Adoptivbruder. Warum?"

"Ach nichts. Ich habe nur gesehen, wie er in die Limousine eingestiegen ist. Aber mein Gefühl sagte mir, dass es nicht Kazuya war."

"Nein, nein. Der hat schwarze Haare, zurück gegelt, am Hinterkopf spitz zusammenlaufend, wenn er sich nicht gerade sehr verändert hat seit dem letzten Tournament. Den bekommt man in letzter Zeit wohl selten zu Gesicht, außer auf den Titelseiten von irgendwelchen Business oder High Society Magazinen. Chaolan hingegen läuft schon den ganzen Tag hier herum und organisiert. Er ist ja irgendwie schon süß…"

"Das kann ich nicht beurteilen. Ich habe ihn nur von weitem gesehen."

"Vertrau mir", sagte Michelle grinsend. "Ich würde allerdings nicht mit ihm ausgehen… wegen Kazuya. Da möchte man wirklich nicht hinein geraten."

"Wie meinst Du das?"

"Ich meine nur: Kazuya ist gefährlich. Manche Leute gehen soweit zu behaupten, er hätte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen."

Jun sah Michelle ungläubig an.

"Ja, ich weiß, ich glaube es ja auch nicht. Man braucht keinen Grund um ein Arschloch zu sein."

"Ist er denn wirklich so schlimm, wie sein Ruf?"

"Du hast ihn also noch nicht kennen gelernt? Das wirst Du dann ja heute Abend, wenn sich der Herr unter das gemeine Fußvolk mischen muss."

"Gemeines Fußvolk? Du meinst er hält sich für was Besseres?"

"Du musst das mal so sehen, er ist der Chef einer der größten Konzerne Japans. Wenn man der Presse glauben darf, ist er momentan auf Platz 10 der reichsten Männer der Welt, mit Aufwärtstrend. Er hat das erste "King of Iron Fist" Tournament gewonnen, ist also offiziell der gefürchtetste Kampfsportler der Welt. Klar hält der sich für etwas Besseres."

Die beiden waren inzwischen schon einige Häuserblocks weiter und standen nun vor einem Bekleidungsgeschäft.

"Die Hose gefällt mir", sagte Michelle plötzlich völlig vom Thema abgelenkt.

"Dann lass uns hinein gehen und sie anprobieren."

Die zwei Frauen verschwanden für einige Zeit in dem Geschäft.