Kapitel 7
Iris stand am Fenster neben ihrem Bett und beobachtete das Treiben in der Stadt. Es war eine schöne Stadt, fand sie. Kleine Holzhäuschen mit Schilfdächern, aber auch einige Steinhäuser, und tausende von engen, gewundenen Gassen beherrschten das Bild. Nicht weit weg auf einem kleinem Hügel erhob sich ein Gebäude, dass die anderen an Größe und Schönheit bei weitem übertraf, obwohl es ebenso wie die restlichen Häuser vorwiegend aus Holz gebaut zu sein schien. Iris vermutete, dass es eine Art Burg oder Palast war.
Jetzt, wo es schon anfing zu dämmern, waren nur noch wenige Menschen unterwegs und in den Häusern begannen die ersten Lichter zu brennen. Alles sah ruhig und friedlich aus und es fiel Iris schwer zu glauben, dass sie noch heute um ihr Leben gerannt war. Sie löste ihren Blick von der Stadt und blickte hoch in den Himmel, wo die ersten Sterne aufblitzten.
Neben dem noch blassen Mond erschien plötzlich die Spieglung von Ennas Gesicht im Fenster. Sie bemühte sich um einen vorwurfsvollen Blick, doch es gelang ihr nicht ganz. Sie lächelte. Eigentlich solltest du noch nicht wieder aufstehen. sagte sie.
Iris freute sich aufrichtig, dass die Heilerin doch noch Wort gehalten hatte und sie wieder besuchte. Keine Sorge, es geht mir gut. Sie deutet mit dem Finger durch das Fenster. Die Stadt, wie heißt sie?
Gultin. Sie ist die Hauptstadt von Weran.
Und das auf dem Hügel...
Ist der Palast, ja. Unser König wohnt dort. Tarek heißt er.
Ihr habt einen König? fragte Iris ungläubig.
Aber ja doch. Für Enna schien das eine Selbstverständlichkeit zu sein. Habt ihr zu Hause etwa keinen?
Iris schüttelte den Kopf. Nein. Euer König, ist das ein guter König?
Enna wiegte ihren Kopf hin und her und es dauerte eine Weile bis sie antworte. Ich glaube schon. sagte sie schließlich langsam.
Iris hatte Ennas Zögern bemerkt und wurde neugierig. Du glaubst? Warum bist du dir denn nicht sicher?
Na ja, du musst wissen, er ist noch sehr jung, kaum älter als du, und er ist auch noch nicht sehr lange König. Sein Vater ist erst vor einem Jahr gestorben, als er unser Land gegen die Orks verteidigte.
Also, was das ist müsstest du eigentlich wissen. Du hast sie schon gesehen, unsere Krieger haben gegen sie gekämpft. Sie sind dir sicherlich nicht in guter Erinnerung geblieben
Bei der Erinnerung an die Geschehnisse in der Schlacht zuckte Iris unwillkürlich zusammen. Ja, ich denke, ich weiß, was Orks sind. Sie schwieg und schaute wieder aus dem Fenster. Enna spürte, dass Iris nicht weiter über dieses Thema sprechen wollte und ließ es auf sich beruhen.
Möchtest du vielleicht ein Bad nehmen?
Iris blickte erfreut auf. O ja, gerne. Ich glaube, das wäre jetzt genau das richtige.
Na, dann komm.
Es war das erste Mal, das Iris mehr vom Haus der Heiler sah als den Raum, in dem sie aufgewacht war. Und das, was sie nun erblickte, ließ sie ihre Meinung über diese Welt ändern. Bis jetzt war ihr alles irgendwie mittelalterlich und antiquiert vorgekommen, aber nun lief sie staunend hinter Enna durch die mit Fackeln erleuchteten Gänge. Das Haus der Heiler schien im Gegensatz zu den Holzhäusern, die sie in der Stadt gesehen hatte, komplett aus Stein gebaut zu sein und die Wände waren sogar weiß getüncht. Was aber das Bemerkenswerteste an diesen Wänden war, war, dass sie mit kunstvollen Mosaiken geschmückt waren, deren Steine den Schein der Fackeln reflektierten und alles in ein magisches Licht tauchten. Iris glaubte noch nie etwas Schöneres gesehen zu haben und blieb gebannt vor einem besonders schönen Mosaik stehen.
Das ... das ist wunderschön. hauchte sie.
Ja, nicht wahr? Es ist eines unserer Besten.
Ihr habt das gemacht? fragte Iris verblüfft.
Überrascht? Tja, wir Heiler sind mehr als auf den ersten Blick sieht, mehr als nur Krankenpfleger. Nach unserer Überzeugung sind Leben, Tod und Krankheit eng miteinander verbunden, und deshalb sind die Heiler hier nicht nur für die Kranken, sondern auch für die Toten verantwortlich. Wir müssen uns um die Toten kümmern, und zwar auf vielfältighe Weise. Und so fertigen wir jedes Jahr ein neues Mosaik an, um den Toten zu gedenken. Es ist so Tradition bei uns.
Das ist eine große Verantwortung. sagte Iris anerkennend und betrachtete Enna mit neuem Respekt.
Enna lächelte. Kann schon sein. Aber nun komm. Das Wasser wird sonst kalt. Iris seufzte und löste sich von dem Kunstwerk. Sie folgte Enna weiter durch das Haus der Heiler, das um diese Zeit in einer schon fast gespenstischen Ruhe lag.
Schließlich standen sie vor einer Tür, an die Enna leicht klopfte und dann eintrat. Es war das Bad. Eine Frau, der Kleidung nach ebenfalls eine Heilerin, war gerade dabei eine marmorne Wanne mit heißem Wasser zu füllen. Iris atmete erleichtert auf, denn einmal mehr wurde ihr gezeigt, dass sie doch nicht im Mittelalter gelandet war. Sie hatte schon fast befürchtet, dass sie ihr Bad in einem Holzkübel nehmen müsste.
Danke Kinne, ich glaube das reicht. Enna lächelte der jungen Frau zu, die den Eimer , mit dem sie die Wanne gerade hatte weiter auffüllen wollen, abstellte und anschließend an ihnen vorbei aus den Raum huschte.
, Enna wandte sich zu Iris um, deine Kleider kannst du da ablegen, dort auf dem Stuhl. Aber ich finde, du solltest sie nicht wieder anziehen. Ich bringe dir wahrscheinlich besser neue, saubere.
Wie mache das ich mit dem Verband? Iris hatte schon ihre Socken ausgezogen und nestelte nun etwas verzweifelt an den weißen Binden um ihre Schulter herum.
Hm, mach ihn ab. Warte, ich helfe dir. Ich lege dir nachher einen neuen an, wenn du fertig bist. Da neben der Wanne ist eine Glocke. Damit kannst du dann später nach mir klingeln. Sie zog einen Vorhang vor die Wanne und mit den Worten Viel Vergnügen! ließ sie Iris alleine.
Sie zog sich ganz aus und mit einem wohligen Aufseufzer ließ sie sich in das warme Wasser gleiten. Herrlich! Sie schloss die Augen und es dauerte gar nicht lange, da war sie schon eingedöst.
Wie lange sie so im Wasser gelegen hatte wusste sie nicht, aber plötzlich schreckte sie hoch. Sie hatte gehört, wie die Tür zugefallen war. fragte sie in die Stille hinein, aber als sie keine Antwort bekam, fischte sie nach einem Handtuch neben der Wanne, wickelte es sich schnell um und stieg aus der Wanne. Tut mir leid, dass ich dich so lange habe warten lassen, ich bin eingeschlafen und... Sie trat hinter den Vorhang vor und blieb wie angewurzelt stehen.
Es war nicht Enna gewesen, die das Bad betreten hatte. Vor ihr stand ein Junge mit schwarzen, wirren Haaren in staubigen Kleidern, der sie beinahe entsetzt anstarrte. Iris war so perplex, dass sie fast das Tuch, das ihre Blöße bedeckte, hätte fallen lassen, was die peinliche Situation wohl noch verschlimmert hätte.
Sie war kein Mädchen, das gleich hysterisch Hilfe, ein Mann! schrie, das hätte sie in ihrer jetzigen verwirrten Verfassung auch gar nicht fertig gebracht. Und so war es nur ein einziges Wort, das sie herausbrachte, nachdem sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte:
Der Junge schien jetzt auch langsam wieder zu sich zu kommen. Aber er machte nicht die geringsten Anstalten Iris 'Aufforderung' zu folgen. Statt dessen verschränkte er die Arme und sagte trotzig: Ich habe mir von niemanden etwas vorschreiben zu lassen. Und von dir erst recht nicht. Du bist ja nur ein Mädchen.
Iris spürte, wie sie langsam die kalte Wut packte, und zwar ziemlich heftig. Aber sie kämpfte nicht dagegen an. Nein, im Moment war sie ihr durchaus willkommen. , zischte sie, glaubst du? Na warte...
