Kapitel 19

Man hätte meinen können, dass nach ihrem Abenteuer im Fluss und mit einem beinahe ertrunkenen Tarek das Thema Wasser hätte abgehakt sein können. Doch die Natur in diesem Land war viel tückischer als Iris gedacht hatte und sie hätte es eigentlich besser wissen sollen. Seitdem sie in dieses Abenteuer oder als was auch immer man es bezeichnen wollte (vielleicht Wahnsinn?) geraten war, entwickelten sich die Dinge immer genau dann zum Schlimmeren, wenn sie glaubte, dass es nicht schlimmer werden konnte.

Sie hätte es wirklich besser wissen sollen.

Es regnete. Gut, daran war nichts auszusetzen. Ab und zu musste es nun einmal regnen. Ja, Regen war gut. Für die Pflanzen, die Tiere, die Menschen... Wasser ist Leben.

Aber nicht drei Tage am Stück.

Und nicht in solchen Massen.

Konnte man im Regen ertrinken? Wahrscheinlich nicht. Musste man auch nicht. Man konnte ja eine Erkältung, Fieber, Grippe oder eine Lungenentzündung bekommen. Wozu dann ertrinken? Oder man erfror einfach. Das erschien ihr im Moment die wahrscheinlichste Todesart. Ihre Kleidung klebte an ihrem Körper, quietschte bei jeder kleinen Bewegung und wie sich trockener Stoff anfühlte, wusste sie schon nicht mehr.

Aber genau genommen war ihr das alles inzwischen so ziemlich egal. Mit einem Gleichmut, für den sie sich selber bewunderte, betrachtete sie sie Wasserwand vor sich und die Gestalten, die vor ihr ritten; zusammengesunken auf hochbeinigen Tieren mit langen Hälsen. Was war der Name dieser Kreaturen noch einmal? Seepferdchen? Nein, aber es musste so etwas in der Art sein.

Eine leise Stimme regte sich in ihr und versuchte ihr etwas zu sagen, aber sie befahl ihr den Mund zu halten. Was sie sagte, erschien ihr im Moment einfach zu schwierig, zu anstrengend um darüber nachzudenken. Eine Weile versuchte sie das Gesagte zu ignorieren, doch es schlüpfte durch ihre Teilnahmslosigkeit hindurch und hämmerte penetrant an ihren wirren Gedanken. Wieso sollte sie eigentlich wissen, was das für Tiere waren? Hatte sie jemals eines gesehen? Oh, sie saß selber auf einem. War das etwa der Grund, dass sie es wissen sollte?

Da, bitte! Jetzt hatte sie doch angefangen darüber zu grübeln. Und prompt Kopfschmerzen bekommen. Am besten sie hörte einfach auf zu denken.

Etwas stimmt nicht..."

Sei still!

Beleidigt gehorchte die Stimme. Zufrieden wandte sich Iris wieder der sie umgebenden Szenerie zu, die zwar nicht mehr verstand, die aber durchaus interessant war. Vor allem der Typ genau vor ihr, genauso aufgeweicht wie sie, erregte ihr Interesse. Woher kannte sie ihn nur? Sie versuchte gar nicht erst sich diese Frage zu beantworten. Sie nahm einfach die Tatsache hin, dass sie ihn kannte. So konnte sie die Kopfschmerzen wenigstens auf ein erträgliches Level reduzieren.

Er auf jeden Fall schien sie auch zu kennen, denn als er ihren Blick im Rücken spürte, drehte er sich zu ihr um und grinste. Wie er es fertig brachte trotz allem noch so fröhlich zu sein, war Iris ein Rätsel; noch verwirrender wurde es für sie allerdings, als er anfing zu sprechen. Verständnislos starrte sie ihn an und versuchte vergebens einen Sinn in den Worten und Silben zu finden, doch die Laute, die aus seinem Mund kamen, schienen sich mit dem Regen zu verwaschen und alles was sie verstand, war ihr völlig sinnlos erscheinendes Gebrabbel. Vage erinnerte sie sich, dass seit drei Tagen keiner von ihren Begleitern ein Wort gesprochen hatte, aber der Gedanke entschwand sofort wieder in den Regen, so dass sie ihn förmlich davon schwimmen sah. Er winkte noch einmal, dann ging er unter in einem Wirrwarr aus Wasser und Kopfschmerzen.

Der Junge redete noch immer und schien nicht zu bemerken wie perplex Iris ihn ansah, als etwas anderes seine und Iris' Aufmerksamkeit erregte. Noch ein Stückchen weiter vorne erklang plötzlich aufgeregtes Stimmengewirr und selbst Iris, die zwar kein Wort verstand und deren Gedanken gerade einen sehr seltsamen Wettlauf gegeneinander zu führen schienen, erfasste sofort, dass man nicht einer Meinung war.

Die Stimmen wurden mit den hochkochenden, sei Tagen unterdrückten, Emotionen lauter, übertönten bald den prasselnden Regen, aber Iris interessierte es nun nicht mehr weiter, obwohl sie mehrere Male ihren Namen fallen hörte. Ihre Gedanken zogen sich aus dem sie umgebenden Geschehen zurück bis sie sich nur noch um sich selber und ihr Empfinden kümmerten. Interessiert betrachtete sie den nassen, an ihrem Arm klebenden Stoff ihres Hemdes und stellte mit Erstaunen fest, dass er blau war. Es hatte fast dieselben Farbe wie diese Flecken auf ihrer Haut, die ihr bis jetzt auch noch nicht aufgefallen waren.

„Wir gehen im Kreis." drang kurz Legolas' Stimme wie durch einen Nebel zu ihr. „Es hat doch keinen Sinn einfach weiter zu reiten und darauf zu hoffen, dass wir es plötzlich einfach finden. Wir werden uns bei der Kälte noch den Tod holen."

Kälte? Iris wunderte sich. Es war doch gar nicht mehr kalt. Im Gegenteil, sie schwitzte plötzlich und verspürte das dringenden Bedürfnis sich die Kleider vom Leib zu reißen. Nur eine kurz aufblitzendes Bild, das vor ihrem inneren Augen auftauchte, hinderte sie an eben dem. Es zeigte sie, nackt, vor einem starrenden Jungen und das mit dieser Erinnerung verbundene Gefühl von Scham und Wut sagte ihr, dass man sich nicht vor anderen Leuten auszog. Warum auch immer.

Eine andere Stimme, genau so laut wie die vorherige, erklang. „Es muss hier irgendwo sein, das weiß ich. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir können es uns nicht leisten irgendwo Unterschlupf zu suchen und unsere Suche zu unterbrechen."

Iris' Kopfschmerzen wurden stärker und sie beschloss dem Gebrüll keine Beachtung mehr zu schenken. Ansonsten würde ihr noch der Kopf platzen. Sie wollte nur noch schlafen. Ja, schlafen wäre schön... In einem warmen, kuscheligen Bett...

„Ist alles in Ordnung mit dir?" Iris blickte kurz auf und blickte in ein Paar grüne, besorgt schauende Augen. Sie hatte dieses Grün schon einmal gesehen... Grün... Die Flecken waren blau.

Etwas stimmt nicht. Etwas stimmt nicht mit mir...

Als die Welt sich auflöste, erinnerte sie sich. Tareks Augen waren grün.

Dunkelgrün.

Sie waren das letzte, das sie erblickte, bevor sie vom Pferd glitt.