Ab diesem denkbaren Abend hatte sich unsere Situation deutlich verändert.

Was nicht heißen soll, das wir uns nicht mehr streiteten oder uns mit „Schatzi" oder so anredeten, aber mit einem Schlag war man nicht mehr so alleine, obwohl man die ganze Zeit zu zweit gewesen war. Ich hoffe, ihr versteht, was ich meine…


Als ich am nächsten Morgen aufwachte und er mich mit einem Lächeln begrüßte, das wärmer als die Sonne draußen war, schien es mir, als wäre über Nacht eine ganze Woche vergangen.

„Wie geht es dir?"

„Wie sollte es mir denn gehen?"

Ich grinste. „Wegen deinen Wunden."

Er hielt kurz inne. „Auf jeden Fall besser als gestern."

„Hast du genug Kraft, um weiterzuwandern?"

Er sah mich erstaunt mit seinen großen braunen Augen an.

„Na, irgendwann müssen wir doch weitergehen, oder nicht?"

„Ach, das meinst du." Er wirkte ein wenig unsicher und sagte nicht sonderlich überzeugend: „Ich denke schon."

„Es ist ok, wenn nicht…"

„Nein, ich werd's mal versuchen."

Damit stieg er energisch auf und ging aus der Höhle.

Ich folgte ihm zögernd.


Der Tag an sich war nicht sonderlich spannend, allerdings stellte es sich bald heraus, das Toms Lebensgeister mit jedem Schritt den er tat wiederkehrten und bald machte es ihm nichts mehr aus, über die Steine und Felsblöcke, die sich auf dem nun felsigen und Klippenzersetztem Gebiet zu springen oder zu krakzeln; die Kräuterpampe vom Wanderer hatten wahre Wunder bewirkt.

Erleichtert stellte ich fest, dass seine gute Laune auch bei Einbruch der Dämmerung anhielt; es war ein lustiger Abend, wir saßen windgeschützt hinter einem Felsblock, quatschten über Gott und die Welt und waren richtig albern.

Schade nur, dass sich am nächsten Morgen alles ändern sollte.


Ein verzweifelter Schrei durchbrach den Frieden des Morgens.

Ich fuhr hoch.

Nichts regte sich, Tom lag neben mir auf dem Boden unter seiner Wolldecke, eingerollt wie eine Katze, und schlummerte tief und fest.

Hatte er nichts gehört oder hatte ich mir den Schrei nur eingebildet? Ich saß misstrauisch auf meiner Decke und lauschte angestrengt.

Tom drehte sich im Schlaf auf die andere Seite.

Ich überlegte, ob ich ihn vielleicht wecken sollte und ihm von dem Schrei erzählen sollte.

Aber was, wenn da nichts gewesen war?

Er musste immer noch sehr erschöpft sein und er brauchte seinen Schlaf, deswegen wusste ich nicht, wie viel Verständnis er für einen eingebildeten Schrei aufbringen würde.

Ich versuchte den Gedanken beiseite zu schieben, aber das mulmige Gefühl in meinem Bauch wollte einfach nicht verschwinden.

Ich war mir nämlich sicher, nicht irgendeinen Schrei gehört zu haben…

Mein Blick wanderte in die Ferne. Ganz weit weg, von hier aus kaum zu sehen, fingen die Klippen an.

Ich wusste das zufällig sehr genau, weil ich mich gestern versehentlich fast eine runtergeschmissen hatte und es wäre auch ein erfolgreiches Unterfangen geworden, hätte Tom nicht geistesgegenwärtig meinen Arm ergriffen und mich zu ihm gezogen.

Wenn da wirklich jemand in Gefahr war, sollte ich schnell handeln, die Klippen waren ziemlich tief, ein Sturz war unmöglich zu überleben.

„Tom!"

Stille.

Ein Vogel tirilierte irgendwo ein fröhliches Lied.

„Tom, verdammt!"

Er brummelte etwas Unverständliches und regte sich unwillig.

Ich packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. „Tom!"

Blitzschnell war er auf den Beinen und warf mich zu Boden; Gott sei dank lag meine Wolldecke unter mir.

„Hey! Was sollte das denn?"

Er sah mich einen Moment lang verwirrt an. „Tonks?"

„Ja man! Wer sonst?"

Es schien bei ihm klick zu machen, denn er setzte sich ein wenig entspannter auf den Boden. „Warum hast du mich geweckt?" Er deutete anklagend auf den Himmel. „Die Sonne geht doch grade erst auf!"

„Ich hab jemanden schreien gehört."

Man sah ihm an, dass er liebend gerne etwas Bissiges erwidert hätte, aber ich musste wohl sehr besorgt aussehen, denn er sagte nichts.

„Es kam von den Klippen", setzte ich hinzu.

„Und was hast du jetzt vor?", war die argwöhnische Antwort.

Ich sah ihn einfach nur an.

Er seufzte tief und machte sich dann daran, seine Decke zusammenzurollen und mit einem dünnen Band aus Umhangsstoff zusammenzubinden und sich um die Schulter zu hängen.

„Dann los", sagte er.


Ich rannte so schnell ich konnte auf die Klippen zu.

Ich war mir erst nicht sicher gewesen, ob Tom schon wieder in der Lage war, längere Strecken in großem Tempo zurückzulegen, aber meine Sorgen stellten sich als unbegründet heraus, denn Tom lief mit einer Leichtigkeit neben mir her, das man es fast fliegen nennen konnte, während ich hin und wieder über diverse Geröllbrocken stolperte.

Ein Sprung über eine natürliche Mauer aus Fels und wir waren an den Klippen.

Ein schwacher Hilferuf schwebte durch die kalte Morgenluft zu uns herüber.

Panisch stürzte ich in die Richtung auf die Klippe zu, Tom dicht hinter mir.

Ein kurzer Blick genügte, um festzustellen, das ich mich nicht getäuscht hatte: am Klippenrand hing der Wanderer und kämpfte verzweifelt um sein Leben.

Mein Magen zog sich in hysterischer Angst so sehr zusammen, dass mir schlecht wurde.

Ich ging auf die Knie und versuchte sein Handgelenk zu erreichen.

Aber ich war zu klein.

Hilfesuchend drehte ich mich zu Tom um, der mit einem seltsamen Gesichtsausdruck und geweiteten Augen auf den Wanderer herabsah.

Und auch auf den Abgrund unter ihm.

„Du musst ihm helfen!", rief ich ihm zu.

Toms Augen wanderten zu meinem Gesicht.

„Nein", sagte er.

„Was?"

„Nein!"

Ich warf einen Blick hinunter zu dem Wanderer, der drohte, jeden Augenblick abzurutschen und in die unendliche Tiefe zu fallen.

„Ich muss mich wohl verhört haben!", erwiderte ich in unterdrückter Panik, gewürzt mit einer Prise Wut. „Ich dachte ehrlich, du hast gerade nein gesagt!"

Er hielt meinem bohrenden Blick stand. „Ich habe nein gesagt und du hast mich gehört."

Der Wanderer stieß ein gepresstes Japsen aus.

„Er wird sterben!"

Toms Kinn zitterte kaum merklich und seine Augen wurden glasig. „Na und?"

„Er hat dir das LEBEN gerettet! Erinnerst du dich? Als du fast verblutet bist!"

Er ballte seine schlanken Hände zu Fäusten. Sein Gesicht nahm einen bockigen und störrischen Ausdruck an. „Ich habe ihn nicht darum gebeten!"

Ich sah wie betäubt zu ihm auf. Ich versuchte es ein letztes Mal: „Er hat mir das Leben gerettet. Wir sind ihm beide etwas schuldig."

Das Geräusch bröckelnden Gesteins ließ mich zusammenzucken und ich stürzte wieder an die Klippe.

In dem vernarbten Gesicht des Wanderers lag ein stummes Flehen.

Dann konnten seine Finger sein Gewicht nicht länger halten.

Ich schrie auf und schlug meine Hände vors Gesicht.


Ich vernahm einen leichten Luftzug neben mir, aber ich schaffte es nicht, die Augen zu öffnen.

Jemand ächzte vor Anstrengung.

Jetzt riskierte ich doch einen kurzen Blick durch meine Finger.

Tom hing über der Felskante und umklammerte ein Handgelenk des Wanderers.

Doch sein Blick galt dem Abgrund und man konnte seine Angst förmlich spüren.

Dann aber riss er sich zusammen und begann den Wanderer Stückchen für Stückchen höher zu zerren…

Steinchen bröckelten unter den Füßen des Wanderers weg und purzelten in die Tiefe.

Eine einzelne Schweißperle rann an Toms Stirn herab.

Stückchen für Stückchen…

Tom keuchte vor Anstrengung.

Dann nahm er all seine Kraft zusammen und zog an dem Handgelenk des Wanderers und schaffte ihn den Felsvorsprung hoch.

Der Wanderer stolperte ein paar Schritte und Tom hielt ihn fest.

Sie sahen sich tief in die Augen, beide mit einem komischen, fast angewiderten Gesichtsausdruck.

„Hallo Tom."

„Lange nicht gesehen."

„Gut siehst du aus."

„Danke. Ich hätte nicht gedacht, dich noch einmal lebend wieder zu sehen."

„Aber hier bin ich."

„Ja."

„Wie kommt es zu der Ehre deiner Erscheinung?"

„Genau wie bei dir, nehme ich an."


Was ging denn hier ab? Verwirrt sah ich von einem zum anderen.

Kannten die sich etwa?

Genau das fragte ich nun Tom.

Er sah mich lange an und überlegte scheinbar, ob er mir antworten sollte.

Die Spannung dehnte sich ins Unendliche.

„Ist das deine Freundin?", fragte der Wanderer.

„So in Etwa."

„Wenn du es ihr nicht sagst, werde ich es ihr sagen."

Tom starrte den Wanderer wütend an. Dann atmete er einmal tief durch und wandte sich wieder mir zu, mit einem ungewohnt ernsten Gesicht.

„Tonks?"

„Ja?"

„Darf ich dir meinen Vater vorstellen? Er heißt Tom Riddle, vielleicht hast du schon mal von ihm gehört."